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WM-Halbfinale Deutschland-Brasilien
"So ein Spiel habe ich wirklich noch nie erlebt"

Wie ein Märchen kam "Kicker"-Herausgeber Rainer Holzschuh das WM-Halbfinale der Deutschen gegen Brasilien vor. "Es klappte alles, jeder Schuss war ein Tor", sagte Holzschuh im DLF. Die Brasilianer dagegen seien weit entfernt von ihrer einstigen Fußballkunst.

Rainer Holzschuh im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.07.2014
    Dante, Thomas Mueller, Bastian Schweinsteiger und David Luiz nach dem Halbfinale.
    Fassungslose Brasilianer nach dem Halbfinale gegen die deutsche Elf. (Dennis Sabangan, dpa)
    Nach dem 7:1-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft im WM-Halbfinale gegen Brasilien ist Rainer Holzschuh, Herausgeber des Fußball-Fachmagazins "Kicker", noch ganz begeistert: "Ich bin jetzt seit mehr als 40 Jahren dabei und muss sagen: So ein Spiel habe ich wirklich noch nie erlebt." Die deutsche Elf habe er "gerade in dieser ersten, faszinierenden Halbzeit" noch nie so gut gesehen. Im DLF-Interview lobte er die Kompaktheit, Schnelligkeit und Direktspiel der deutschen Mannschaft. Die Brasilianer hätten es den Deutschen allerdings auch leicht gemacht und nach dem 1:0 kaum Gegenwehr mehr geboten. "Das war ein Lehrbuchstück", so Holzschuh.
    Im zweiten Halbfinale heute Abend sind für Holzschuh die Niederlande die Favoriten. Argentinien habe bisher nicht überzeugen können. Ein Finale gegen die Niederlande würden die Deutschen gewinnen, tippt Holzschuh. "Aber: Im Fußball ist alles möglich."

    Christiane Kaess: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist nach dem rauschenden Halbfinal-Fest und dem 7:1 gegen Brasilien wieder in ihr Basis-Camp zurückgekehrt. Nach diesem sensationellen Sieg ist jetzt vor allem Regeneration angesagt. Ab morgen dann richtet sich die Mannschaft mit ihrem Fokus mehr und mehr auf das Endspiel. Gegner dort ist das Team der Niederlande oder Argentinien. Diese beiden Teams treffen heute Abend aufeinander. – Wir wollen darüber noch einmal sprechen mit Rainer Holzschuh. Er ist Herausgeber des Sportmagazins "Kicker". Guten Morgen!
    Rainer Holzschuh: Einen schönen guten Morgen!
    Kaess: Herr Holzschuh, auch für Sie ein Jahrhundertspiel?
    Holzschuh: Das kann man wirklich sagen. Es schien ja, alles in der ersten Halbzeit wie in einem Märchen zu sein, und man hat sich die Augen gerieben. Ich bin jetzt seit mehr als 40 Jahren dabei und muss sagen, so ein Spiel habe ich wirklich noch nie erlebt, kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern. Auf diesem Niveau, das heißt bei einer Weltmeisterschaft und dann noch im Halbfinale, 7:1 und dann gegen den Gastgeber, dem großen Favoriten Brasilien, das ist ein Traum, den man wohl nie mehr erleben wird.
    Kaess: Waren die Deutschen so gut, oder die Brasilianer so schlecht?
    Holzschuh: Beides! Ich habe die Deutschen gerade in dieser ersten faszinierenden Halbzeit noch nie so gut gesehen. Sie erinnerten an das 4:0 vor vier Jahren gegen Argentinien und das 4:2 gegen die Engländer. Da gab es auch Sentenzen, die genau so gut gewesen sind. Aber in dieser Kompaktheit, in dieser Schnelligkeit, das Spiel zu verlagern, auf engstem Raum den Ball pausenlos hin und herzuschieben, ohne gegnerische Berührung, aber auch ohne den Ball selber zu treiben, sondern das Direktspiel, und dann plötzlich abzuziehen, das war fantastisch. Auf der anderen Seite haben die Brasilianer nach dem 1:0 natürlich auch nicht die Gegenwehr mehr geboten, die man von ihnen eigentlich verlangen sollte. Sie waren konsterniert, sie sind fast stehen geblieben, sie haben zugeschaut, wie die Deutschen gespielt haben. Das war ein Lehrbuchstück, das man vielleicht noch in zehn Jahren allen möglichen zeigen wird. Aber man muss immer beide Seiten berücksichtigen, und die haben es uns wirklich leicht gemacht auch.
    Brasilianern fehlte es an mentaler Stärke
    Kaess: Wir haben vorhin mit Olaf Thon über die Leistungen von Trainer Löw gesprochen. Schauen wir doch mal auf die andere Seite. Was waren denn die Fehler des Trainers der Brasilianers Scolari?
    Holzschuh: Er hat es nicht verstanden, im gesamten Turniers seiner Mannschaft wirklich dieses Selbstbewusstsein, diese mentale Stärke zu geben, die man braucht, um in einem solchen Turnier erfolgreich zu sein. 200 Millionen Brasilianer, ein ganz fußballverrücktes Volk, wie wir in Europa wohl kaum eines haben, sind natürlich mit einer Erwartungshaltung in dieses Turnier gegangen und haben einen Druck auf die Spieler ausgeübt, der fast unmenschlich gewesen ist, und dann hat man auch gesehen, dass diese Brasilianer vielleicht außer Neymar, diesem 22-jährigen jungen Superstar, keinen haben, der diesem Druck richtig gewachsen ist. Alle Spiele waren ja mit Ausnahme des 4:0 in der Gruppenphase gegen Kamerun, gegen schwache Kameruner, wirklich mehr als haarig und mehr als glücklich auch gewonnen, und das zeigt, dass diese Brasilianer weit von dem entfernt sind, was sie einstmals geboten haben, nämlich Fußballkunst und diese sogenannte jogo bonito, dieses wunderschöne Spiel, das alle erwarten. Da war weder von diesem schönen Spiel, noch von dieser taktischen Stärke etwas die Rede. Das einzige was sie gezeigt haben war ein Kampf, und der fehlte gestern.
    "Jeder Schuss war ein Tor"
    Kaess: So eindeutig wie das gestern lief, Herr Holzschuh, warum war das so schlecht vorherzusagen? Haben die Analytiker da versagt?
    Holzschuh: Man kann Fußball nicht analytisch vorhersagen, weil das Schöne am Fußball ist, dass wirklich alles passieren kann. Wir hätten das Spiel gestern, auch wenn wir in den ersten fünf Minuten ein Tor kassiert hätten, was durchaus möglich gewesen wäre, durchaus verlieren können. So klappte alles. Jeder Schuss war ein Tor. Alles war perfekt getimt. Erinnern Sie sich an andere Spiele bei dieser Weltmeisterschaft auch von uns. Wenn da ein Ball zwei Zentimeter mehr nach links geht, ist er drin, wenn er zwei Zentimeter mehr nach rechts geht, dann ist er nicht drin. So hat es beim Elf-Meter-Schießen die einen oder anderen Gewinner und Verlierer gegeben. Der Fußball ist unberechenbar, weil elf Leute auf dem Platz stehen, die in jeder Sekunde eine andere Entscheidung machen als vorhersehbar. Ich glaube, das macht die Faszination aus.
    Kaess: Dann müssen Sie sich jetzt trotzdem an eine Vorhersage für heute Abend wagen. Wie wird es ausgehen?
    Holzschuh: Wenn ich das fachlich analysiere – und da liege ich ja oft genug dann in der Prognose falsch -, sind die Holländer für mich die Favoriten. Die Argentinier haben nicht ein einziges Spiel bisher wirklich überzeugend absolviert. Sie haben in der Gruppenphase dreimal glücklich gewonnen. Sie haben sowohl im Achtelfinale als auch im Viertelfinale mit sehr viel Glück gewonnen. Insofern ist es eine Situation, die stark für die Holländer spricht.
    Kaess: Und mit der Bitte um eine kurze Antwort, denn wir laufen auf die Nachrichten zu. Gegen die Holländer würden die Deutschen dann gewinnen?
    Holzschuh: Ich glaube ja. Nach dieser Leistung von gestern ja. Aber wie gesagt, wir haben gerade gesagt, im Fußball ist alles möglich.
    Kaess: Danke schön für diese Einschätzungen.
    Holzschuh: Danke!
    Kaess: Rainer Holzschuh, Herausgeber des Sportmagazins "Kicker".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.