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Wolfgang Thierse zur Flüchtlingskrise
"Deutschland muss das Heft wieder in die Hand nehmen"

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) fordert vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise ein deutsches Einwanderungsgesetz. Die Bundesregierung müsse entscheiden, wer kommen könne und wer nicht; dies müsse vernünftig geregelt werden, sagte er im Deutschlandfunk.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Dirk Müller | 28.12.2015
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am 13.04.2015 auf einer Protestkundgebung in Rostock.
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sagte, Deutschland werde sich durch die Zuwanderung stark verändern. (picture alliance/dpa/Bernd Wüstneck)
    Deutschland müsse das Heft wieder in die Hand nehmen, betonte der SPD-Politiker. Darüber hinaus müsse man sich überlegen, wie die Integration der vielen Menschen zustande gebracht werden könne. Deutschland werde sich durch die Zuwanderung stark verändern. "Die Entsolidarisierung in Europa entsetzt mich", betonte Thierse. Das habe er sich vor einem halben Jahr noch nicht vorstellen können.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Nehmen wir nur die Flüchtlingskrise 2015: Städte und Gemeinden sind überfordert, die Polizeikräfte sind überfordert, die ehrenamtlichen Helfer sind vielerorts überfordert und auch die Politik ist überfordert. Das Schengen-System ist zusammengebrochen, es gibt wieder Grenzzäune, es gibt wieder nationale Grenzkontrollen, die europäische Solidarität ist auseinandergebrochen, falls es sie jemals gegeben hat, rechte Parteien und Bewegungen haben Aufwind, Rückenwind in vielen Teilen Europas, dann auch noch der Terror, Paris, Brüssel und die Folgen, potenzielle Attentäter durften unbehelligt quer durch den Kontinent reisen oder diesen auch verlassen und auch wieder einreisen - das Vertrauen in die Politik schwindet. Es gibt immer mehr Fragen und offenbar immer weniger Antworten. Ein Blick auf 2015, das tun wir nun mit Wolfgang Thierse, SPD, viele Jahre Präsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen nach Berlin!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Thierse, sind die guten Zeiten vorbei?
    Thierse: Man hat manchmal den Eindruck. Ich erinnere mich noch, dass wir vor gut einem Jahr den 25. Jahrestag der friedlichen Revolution, die Öffnung der Mauer gefeiert haben, und ich auch immer mal den Eindruck habe, wir Deutschen seien jetzt ein Volk, das mit sich im Reinen ist, das im Frieden mit seinen Nachbarn lebt, im Frieden mit sich selber, und plötzlich hat sich im vergangenen Jahr so viel verändert. Sie haben das alles aufgezählt: Von der Ukrainekrise bis zu dem Flüchtlingszustrom bis zur Entsolidarisierung in Europa - wir sind in dramatischen, ja, gefährlichen Zeiten, auch wenn man denkt, was auf den Straßen in Deutschland stattfindet - Pegida und AfD und rechtsextremistische Überfälle. Ich glaube nicht, dass man dann immer nur auf die Politik mit dem Finger zeigen kann, wir müssen über diese Gesellschaft selber reden.
    "Die Entsolidarisierung in Europa, damit hätte ich nicht gerechnet"
    Müller: Die von der Politik geführt wird, angeführt wird?
    Thierse: Das ist so. Sie haben erwähnt, dass Angela Merkel wie ein Mantra den Satz wiederholt, wir schaffen das. Das ist ein Satz der Ermunterung auch für unsere Gesellschaft, auch der Selbstermunterung von Politik. Sie hat einem humanen Impuls nachgegeben und den Flüchtlingen, die schon durch den Balkan gezogen waren, in Ungarn waren, die Grenzen geöffnet, und das löste eine Welle aus, mit deren Bewältigung nun Deutschland und Europa befasst ist auf höchst unterschiedliche Weise, bis an die Grenzen des Menschenmöglichen. Ich will diesen humanen Impuls nicht kritisieren, aber wir müssen wissen, dass nun sichtbar geworden ist, deutlicher sichtbar geworden ist, was schon länger im Gange ist: Die Globalisierung ist eben nicht nur ein wirtschaftlicher Vorgang, der Öffnung der Grenzen für Güter und Produkte, sondern es hat eben als Rückseite auch, dass die Menschen wandern und wir damit erst lernen müssen, fertig zu werden.
    Müller: Sie sagen das ja auch, Wolfgang Thierse, also in bestimmten Bereichen komplett überfordert, egal wer alles daran beteiligt ist - die Grenzen bleiben weiterhin offen, ist das auch ein Problem?
    Thierse: Wir müssen sehen, dass Deutschland und Europa wieder Subjekt dieser Fluchtbewegung wird. Ich bin sehr dafür, dass wir versuchen, durch ein Einwanderungsgesetz dieses Subjekt zu sein, selber zu entscheiden, wer zu uns kommen kann und wer nicht zu uns kommen kann. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen ist das eine, die geregelte Zuwanderung von Menschen, die wir in diesem Land aufnehmen können und auch brauchen, ist etwas anderes. Beides ist zu unterscheiden, auch wenn im gegenwärtigen Moment die Fluchtwelle überwiegt, aber wenn wir das Heft wieder in die Hand bekommen müssen, brauchen wir solche vernünftigen Regeln, und wir werden sie nicht alleine schaffen, es wird nur europäisch möglich sein. Da sind wir an dem Punkt, der mich am meisten erschreckt: Die Entsolidarisierung in Europa, damit hätte ich nicht gerechnet, denn diese europäische Erfolgsgeschichte, von der ja nicht nur Deutschland der Nutznießer ist, sondern auch alle unsere Nachbarn in Europa, die ist auf eine Weise gefährdet, wie ich es mir vor einem halben oder einem Jahr noch nicht habe vorstellen können.
    "Die Politik muss den Überblick bewahren"
    Müller: Haben viele Europäer, und zwar viele neue Europäer, nicht gewusst, dass Europa auch einmal nehmen kann und nicht immer nur gibt?
    Thierse: Ich fürchte, es ist so. Europa hat den Eindruck erweckt, es sei so reich und könne so viel geben, dass man nicht selber bereit sein muss, auch etwas dazu beitragen zu können, und nun sind wir in der schwierigen Situation, dass Deutschland nicht gewissermaßen als unangenehmer Lehrmeister auftreten muss. Schließlich hat Deutschland in der Griechenlandkrise sich durchaus solidarisch verhalten, aber eben auch auf eine ruppige Weise sich gegenüber Griechenland verhalten, und manchmal hat man den Eindruck, das Echo, das wir jetzt erleben aus Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien und vor allem aus den osteuropäischen Ländern, ist auch ein Echo auf die Griechenlandpolitik Deutschlands.
    Müller: Aber es ist ja auch so, Wolfgang Thierse, wenn wir die Stimmen aus den osteuropäischen Ländern uns vergegenwärtigen, dass im Grunde alle - nicht nur die Osteuropäer, sondern so gut wie alle Länder - richtig sauer sind auf die Kanzlerin, richtig sauer auf die Alleingänge, auch in der Flüchtlingspolitik.
    Thierse: Das ist so, das hat Deutschland zur Kenntnis zu nehmen, und deswegen ist sehr viel Diplomatie verlangt und sehr viel den Versuch, zu zeigen, dass Deutschland hier zwar einen Sonderweg bestritten hat im Vergleich zu den anderen, aber dass es dafür ja doch starke humanitäre Gründe gegeben hat.
    Müller: War das richtig, zu sagen, wir schaffen das, ohne jemanden zu fragen?
    Thierse: In einer solchen konkreten Situation verstehe ich, dass die Kanzlerin gewissermaßen auf die Bilder reagiert, auf die wir ja alle mit Emotionen reagiert haben, die Bilder von Menschen, die aus Kriegsgegenden des Nahen Ostens kommen, die ihre entsetzliche Armut verlassen wollen. Ich verstehe das gut. Aber es ist dann Politik verlangt im Lande und europäische Politik, um auf diesen humanitären Impuls tatsächlich in den Alltag zu übersetzen und das Problem beherrschbar zu machen.
    Müller: Also Politik muss immer rational sein, rational bleiben.
    Thierse: Jedenfalls so viel wie möglich. Sie soll damit nicht den Eindruck erwecken, dass sie eiskalt ist, aber sie muss natürlich den Überblick bewahren, das ist wohl notwendig. Darum geht es ja auch, wenn ich das richtig beobachte: Seit dieser Entscheidung von Angela Merkel, ist die Bundesregierung beschäftigt, die Folgen dieser Entscheidung beherrschbar zu machen, und wir sehen und wir erleben, das ist ziemlich mühselig. Der großartige Willkommensimpuls, den ja ganz viele Deutsche auch artikuliert haben, den in den Alltag von Integration zu übersetzen, das erscheint mir eine ziemlich schwierige und vor allem sehr langwierige, langfristige Aufgabe.
    "Es geht um vernünftige Begrenzungen"
    Müller: Wenn wir über Taktieren reden, über politische Strategien und vielleicht auch über die politische Sprache, mit Blick auf die Flüchtlingspolitik: Obergrenze, das ist so ein bisschen das Schlagwort, was seit Monaten heftig diskutiert wird. Wenn man das im Familienkreis diskutiert - das werden viele gemacht haben, zwangsläufig auch jetzt gerade über die Festtage, über die Weihnachtstage, wenn viele zusammengekommen sind -, es gibt auch kaum jemanden aus der Bevölkerung, der sich vorstellen kann, dass es ohne Obergrenze, ohne eine Limitierung der Flüchtlingszuwanderung, also auch der Kriegsflüchtlinge geht, um das politisch in den Griff zu bekommen. Wie ist das bei Ihnen?
    Thierse: Ich glaube, ich habe inzwischen den Eindruck, dass dieser Begriff Obergrenze so wie ein Gesslerhut geworden ist: Die einen verlangen es, die anderen verweigern es. Worum es geht, darüber reden alle schon und damit sind alle beschäftigt, es geht um vernünftige Begrenzungen, eine abstrakte Zahl kann man nicht angeben - Begrenzungen, Regulierungen, darin ist ja sich die Bundesregierung einig, und da stimmt auch die große Mehrheit der Bevölkerung zu, eine Grenze festzulegen -, soll sie eine Million oder soll sie anderthalb Millionen sein oder 500.000, sondern wir müssen erreichen, dass in Europa mit den Ländern des Nahen Ostens gemeinsam Regeln gefunden werden, Wege gefunden werden, wie man vernünftig Zuwanderung reguliert. Das heißt natürlich dann auch begrenzt, ohne dass man eine abstrakte Zahl benennen kann.
    "Ich glaube nicht, dass die abstrakte Zahl in irgendeiner Weise hilft"
    Müller: Aber können wir so lange warten, Herr Thierse? Warum ist das so schwer, zu sagen, 1,5 Millionen und dann müssen wir dicht machen, weil dann haben wir mehr als alle anderen in den nächsten Jahrzehnten geleistet in dieser Frage?
    Thierse: Aber wie soll das Dichtmachen gehen, wenn zugleich nach unserer Verfassung, nach allen gesetzlichen Regelungen, Asylgründe anerkannt werden sollen und müssen - da müssen wir an den Grenzen, tatsächlich müssen die Verfahren beschleunigt werden, es müssen Anstrengungen unternommen werden, vor Ort zu helfen in den Flüchtlingslagern. Das scheint mir der eigentliche Skandal zu sein, dass der UNHCR überhaupt nicht mehr genügend Geld hat, um Menschen anständig zu versorgen, die machen sich dann auch auf den Weg in einer Mischung aus elementarster Not und Verheißungen, die aus Deutschland verlogener- oder gefälschterweise herüberkommen. Ich glaube nicht, dass die abstrakte Zahl in irgendeiner Weise wirklich hilft, aber helfen müssen unterschiedliche Maßnahmen, da hat die Bundesregierung, wenn ich es richtig sehe, Anstrengungen unternommen, die müssen überhaupt verstärkt werden. Was mich am meisten beschäftigt, ist, wie die Menschen, die zu uns gekommen sind - und das sind ja eine Million, und es werden im nächsten Jahr auch noch welche kommen -, wie wir die Integration zustande bringen, das scheint mir die große Herausforderung für diese Gesellschaft. Ich glaube, unser Land wird sich sehr verändern durch die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Religionen, aus anderen sozialen Herkünften.
    Müller: Es geht ja auch um Signale, Herr Thierse, Signale aus Berlin. Wäre das für Sie als Regierungschef, möchte ich Sie jetzt einfach mal fragen, ein Problem gewesen, wenn Sie jetzt gesagt hätten zum Ende des Jahres, unsere Aufnahmekapazitäten sind erschöpft?
    Thierse: Es wäre für mich kein Problem gewesen, zumal ja im Grunde alle Äußerungen darauf hinauslaufen, egal, ob Bundespräsident, Bundeskanzler, Vizekanzler, andere, egal welcher Partei, alle sagen ja, wir sind am Rande unserer Möglichkeiten. Diese Signale werden ständig gegeben. Vielleicht muss die Bundeskanzlerin noch ein entscheidendes Wort, weil sie es ja auch mal Anfang September in den Mund genommen hat, jetzt auch ein entscheidendes Wort sagen, aber dass wir alle miteinander sagen, wir können nicht alles tun. Hilfsbereitschaft kann unbegrenzt sein, aber die konkrete Hilfe hat immer Grenzen, das sagen die Kommunen, das sagen die Länderregierungen, das sagt im Grunde auch die Bundesregierung.
    Müller: Wolfgang Thierse heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, SPD, viele Jahre Präsident des Deutschen Bundestages. Danke für das Gespräch, danke, dass Sie Zeit gefunden haben, kommen Sie gut ins neue Jahr!
    Thierse: Ihnen auch alles Gute und den Hörern ebenso!
    Müller: Danke! Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.