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Wu Ming: "Die Armee der Schlafwandler"
Die Französische Revolution aus der Sicht des Volkes erzählt

Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming erzählt den epochalen Umsturz der Französischen Revolution neu. Eine durch eine Art Hypnotherapie gesteuerte Armee erscheint unbesiegbar. Bis ein italienischer Schauspieler und eine Näherin die Geschichte auf den Kopf stellen.

Von Katja Lückert | 10.06.2020
Paul Etienne Lesueur: Verschiedene Französische Revolutionäre: Sans-Culotte, Fuhrmann, Marktarbeiter, Schuster und Schreiner. Musée Carnavalet
Sansculotte, Fuhrmann, Marktarbeiter, Schuster, Schreiner - Wu Ming erzählen die Geschichte der Französischen Revolution von unten (imago images / Photo12 /Archives Snark)
Eine Ouvertüre, vier Akte und ein Epilog - so scheinbar klar und einfach strukturiert kommt das Inhaltsverzeichnis dieses extrem facettenreichen und kompliziert ausgestalteten Romans daher. Ein Kunstgriff, dem viele andere folgen. Nach ein paar Eingangsszenen, die der Leser noch kaum in einen Zusammenhang bringen kann, denn nur Geschichtskundige wissen, dass am 21. Januar 1793 der letzte französische König Ludwig der XVI. hingerichtet wurde, folgt gewissermaßen eine Ansage im Pluralis Majestatis des Volkes.
"Jetzt werden wir dir erzählen, wie alles war. Wir, die wir das auf dem Platz der Revolution selbst erlebt haben. Andere, die würden dir das anders erzählen, haben sie ja vielleicht schon, so wie das alle machen... weil, hinterher ist man immer schlauer. Man guckt sich dann ein paar Drucke in bunten Büchern an: Guck mal da, Madame Guillotine, und da, ein Bild von Robespierre; ein bisschen Blättern, lauter Daten, die Aufzählung von all den Schlachten; die Zahlen wie einen Rosenkranz runterleiern: 1789, 1793, 1794. Was dabei rausgekommen ist, weiß sowieso jeder – und außerdem, was soll für solche wie uns auch schon dabei rauskommen – die erzählen das dann irgendwie von außen, als wären sie oben auf einem hohen Turm, weil, die waren ja nicht mittendrin im Gewühl, und hinterher tun sie ganz zerknirscht."
Die Revolution von unten
Die Französische Revolution aus der Sicht des Volkes, der Marktfrauen und der kleinen Leute erzählt - dieses Projekt verfolgt das Autorenkollektiv Wu Ming in seinem Roman, der aus verschiedenen Textsorten montiert ist. Dialogische Erzählszenen wechseln sich mit Polizeiberichten, privaten Briefen, Protokollen des Nationalkonvents und anderen vorgeblich historischen Dokumenten ab. Wie wahrscheinlich es ist, dass etwa eine der Hauptfiguren, der italienische Schauspieler Leonida Modonesi, tatsächlich gelebt hat, erfährt man aus dem knapp 30 Seiten umfassenden, sorgfältig recherchierten Glossar.
"Der Name Léo Modonnet, geboren circa 1759, von Beruf Schauspieler, taucht in den Polizeiprotokollen zu den Erhebungen der Sansculotten im Germinal und Prairial des Jahres III auf. Die Sicherheitsbeamten Vidal, Clairmont und Figuier zitieren ihn unter vielen anderen bei ihren Ermittlungen hinsichtlich der Identität eines "maskierten Kriminellen, genannt Scaramouche". Das Verhör eines gewissen Gérard Mignon, von Beruf Diener, Einwohner von Saint-Antoine, ist das letzte Dokument in französischer Sprache, das den Namen Léo Modonnet oder Madonais oder Madonné enthält."
Rächer der Armen
Der stets von einem intensiven Gefühlsleben getriebene Léo kann dem Leser unter der Vielzahl der Figuren noch am ehesten ans Herz wachsen. Schwarz gekleidet und maskiert wie die Figur des Scaramouche aus der Commedia dell’Arte schwingt er sich über die Dächer des nächtlichen Paris, um die Armen zu rächen, indem er diejenigen, die Nahrungsmittel bunkern und sie zu Wucherpreisen verkaufen, verprügelt. Sein Kostüm für dieses neue gefährliche Theater der Revolution, das nicht auf der Bühne, sondern auf den Straßen gespielt wird, hat die Näherin Marie Nozière fabriziert. Mit ihr verbindet ihn eine kurze, aber heftige Liebesbegegnung.
",Still', flüsterte Marie und glättete ihre Kleidung. ,Du musst gehen, und du darfst nicht wieder hierherkommen, verstanden?' ,Ja. Aber ich...' Er fühlte ihre Hand auf seinem Mund. ,Geh jetzt. Tu, was du tun musst.' Léo zog die Hosen hoch, hing sich den Umhang über und verließ das Haus. Auf der Straße meinte er einen Schatten in einem Hauseingang zu bemerken, maß dem aber keine Bedeutung bei. Normales Verhalten wurde kaum Verdacht erregen und er wollte nicht so tun, als wäre er auf der Flucht. Er schwelgte noch in Glücksgefühlen, er hatte Maries Geruch noch in der Nase und war mit seinen Gedanken noch nicht wieder in der Gegenwart angekommen."
Chaos der Revolutionswirren
Léo wird verfolgt und sogar verhaftet von Treignac, einem Flickschuster, der im Dienste der Revolution als Polizist im Viertel tätig ist. Treignac hat seinerseits ein Auge auf die alleinstehende Marie geworfen, auch deshalb kümmert er sich um ihren Jungen, den zwölfjährigen Bastien. Im Chaos der Revolutionswirren versucht er einen Rest von Recht und Ordnung zu schaffen und vor allem Marie vor gefährlichen Situationen zu bewahren. Léo ist ständig in irgendwelche Scharmützel verwickelt, besonders mit Mitgliedern der Jeunesse dorée hat er sich angelegt, parfümierte Muscadins, die sich zu fein sind, den Buchstaben "R" wie Revolution überhaupt auszusprechen. Léo lernt Bernard kennen, der ihm ein Zimmer überlässt und ihn das Boxen lehrt. Mit seiner Hilfe geht Léo aus dem Kämpfen mit den royalistischen Muscadins siegreich hervor.
",Wi' ve'langen, dass de' Kampf annullie't wi'd', sagte der am stärksten Parfümierte der Gruppe und baute sich vor ihm auf. "Wi' ve'langen unse' Geld zu'ück', rief sein Gefährte, der eine Spanne kleiner war. ,Mein Mann hat gewonnen und eurer hat verloren', brachte Bernard ihn zum Schweigen. ,Was passt euch nicht?' ,Ein Mann gewinnt nicht du'ch einen T‘itt in die Klöten, das machen Kinde'', protestierte der andere."
Einfühlen nicht erwünscht
Eine solche Kunstsprache, aber auch dialektale Ausdrücke, das Hemdsärmelige in der Ansprache der Erzählstimme, die umständliche Diktion in den amtlichen Texten sorgen auch sprachlich für Abwechslung. Dennoch ist der Lesegenuss mitunter etwas eingeschränkt, weil die Wechsel zwischen den verschiedenen Textpassagen zu schnell erfolgen und man immer wieder ein paar Seiten braucht, um in den jeweiligen neuen Kontext zu finden. Möglicherweise ist das sogar gewollt. Romantisch werden im Brechtschen Sinne oder sich gar Einfühlen ist offenbar nicht gewünscht. Eine neue Sicht auf die Jahre der Französischen Revolution, nämlich von unten, aus der Sicht der kleinen Leute, soll geboten werden.
Dass die Revolution die merkwürdigsten Blüten treibt, zeigt auch der zweite große Handlungsstrang, der sich um den Arzt Orphée d'Amblanc dreht. D'Amblanc kennt sich aus mit einer Vorform der Hypnotherapie, dem animalischen Magnetismus, den der Arzt Anton Mesmer erfunden hat und der angeblich zur Heilung verschiedener Leiden dient, aber vor allem auch eine gewisse Willenlosigkeit bei den Behandelten hervorrufen kann. Der Arzt bekommt den Auftrag, einige merkwürdige Fälle von animalischem Magnetismus in der Provinz zu untersuchen und stößt dabei auf den Bösewicht Auguste Laplace, der im Begriff ist, die titelgebende Armee von Schlafwandlern im Dienste der Königstreuen gegen die neue Republik in Marsch zu setzen. Doch eigentlich gibt es hier keine richtigen Guten und Bösen, höchstens temporäre Gewinner und Verlierer, denn die Revolution stellt immer wieder die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf.
"Ein Scherenschleifer aus dem Marais. Die Revolution, hat der gesagt, ist wie die Kartenspiele, bei denen die Könige, die Damen und die Buben in zwei Hälften unterteilt sind, die einen sind oben, die anderen unten, ein Kopf oben und ein Kopf unten, du kannst die Karten drehen, wie du willst, es ändert sich nichts, der eine ist immer an den anderen gekettet. Der unten grinst dem oben zu, als ob er ihm sagen wollte: ,Ich bin du, du wirst ein böses Ende nehmen! Freu dich, solange du kannst, denn die Welt wird auf dem Kopf stehen!'"
Dass die Französische Revolution auf ein Autorenkollektiv aus der traditionell politisch linken Universitätsstadt Bologna eine besondere Faszination ausübt, verwundert nicht. Die italienische Geschichte kennt kein vergleichbares Ereignis, die Unabhängigkeitskriege führten zu mehr nationaler Selbstbestimmung und schließlich im Jahr 1861 zur Gründung des Königreichs Italien.
Interessantes literarisches Experiment
"Die Armee der Schlafwandler" ist ein interessantes literarisches Experiment zumindest auf der Produktionsseite. Dem Roman hört man die Vielstimmigkeit gar nicht mehr so sehr an. Eine der wichtigsten Stimmen ist sicher die des Schauspielers Leó, der sich für das neue Theater unter dem Himmel Frankreichs, das sogar Geschichte macht, begeistert. Natürlich idealisiert er das regellose Leben in diesen späten Jahren der Revolution. Ungeklärte Verhältnisse sind zwar immer ein guter Nährboden für die Kunst, weil sie kreative Kräfte freisetzen können. Doch wenn jeden Tag die Köpfe rollen, geht auch niemand mehr ins Theater. Und Straßenkampf ist eben doch keine Kunst, auch keine politische.
Wu Ming: "Die Armee der Schlafwandler"
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg. 704 Seiten, 28 Euro.