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Zehn Jahre nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21
Zwischen Protest und Partizipation

Ein milliardenschweres Bauprojekt, scharfer Protest, verhärtete Fronten: Das war Stuttgart 21 vor gut zehn Jahren. Dann ermöglichte die neu gewählte grün-rote Landesregierung eine Volksabstimmung über die Zukunft des Bahnhofs. Es war eine Zäsur – für das Projekt und für die direkte Demokratie.

Von Katharina Thoms | 25.11.2021
Baustelle am Hauptbahnhof Stuttgart.
Noch immer Baustelle am Hauptbahnhof Stuttgart: Beim Bauprojekt Stuttgart 21 ist auch nach zehn Jahren noch viel zu tun (imago images/Arnulf Hettrich)
Noch immer wird in Stuttgart an jedem Montagabend demonstriert, gegen den Tiefbahnhof, der längst gebaut wird. Die Kritiker des Großprojektes Stuttgart 21 feiern bald ihre 600. Montagsdemo. Thomas Adler und Katja Luft vom Organisationsteam: "Meine Motivation zum Beispiel ist es, weiterhin Stachel im Fleisch zu sein." - "Also wir sind die kritische Begleitung, die die Politik hier in Baden-Württemberg eigentlich dem Projekt angesagt hatte damals."
2010 hatte es scharfe Proteste gegen die Neuordnung des Eisenbahnknotens gegeben. Es folgte ein rechtswidriger Polizeieinsatz mit hunderten verletzten Demonstrierenden; danach eine Schlichtung, die rechtlich nicht bindend war. Die Fronten waren verhärtet.

Volksabstimmung: Mehrheit lehnt Projekt-Ausstieg ab

Deshalb hatte die im März 2011 neu gewählte grün-rote Landesregierung eine Volksabstimmung über die Zukunft von Stuttgart 21 versprochen. Doch bei dieser Abstimmung vor zehn Jahren lehnten die Bürger einen Ausstieg des Landes aus dem Projekt ab. Zum Verdruss aller, die gegen Stuttgart 21 auf die Straße gegangen waren.

"Ja, es ist trotz allem erstaunlich. Wir haben einen befriedenden Effekt gesehen. Das stimmt. Das heißt, da sieht man wieder, was die direkte Demokratie doch leisten kann", sagt Sarah Händel vom Verein "Mehr Demokratie". "Das ist ja genau die Erkenntnis, die die dann neue Landesregierung, glaube ich, aus den Ereignissen auch richtigerweise gezogen hat."
Die Grafik zeigt das Ergebnis einer Umfrage zum Modellcharakter der Schlichtung zu "Stuttgart 21" für künftige Baumaßnahmen. 71 Prozent der Befragten hielten die Schlichtung zu "Stuttgart 21" für ein Modell für künftige Baumaßnahmen.
(Statista)
Ulrich Eith, Politikwissenschaftler an der Universität Freiburg ergänzt: "Dass nicht erst dann Bürgerbeteiligung stattfinden darf oder gar dann eine Volksabstimmung, ohne Diskussion der Position und der Argumente, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Sondern im Prinzip mal im Vorfeld sogar schon mitbegleiten muss."

Für die Mitbestimmung und direkte Demokratie in Baden-Württemberg war die Volksabstimmung eine Zäsur. Und auch: Für den Streit um das Bahnprojekt. Denn der legte sich nun, und es wurde weiter gebaut.

Aktueller Stand des Bauvorhabens: noch lange nicht fertig

Rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof klaffen riesige Baugruben. Ein Rad- und Fußweg führt vorbei im ehemaligen Park entlang der Baustelle. Dort kann man die meisten der meterhohen Beton-Kelchstützen schon sehen. Sie sollen das Dach des unterirdischen Bahnhofs halten. Fertig ist der neue Tiefbahnhof Stuttgart 21 noch lange nicht. Auch zehn Jahre nach der Volksabstimmung werden noch Tunnel gegraben, Gleise verlegt, Brücken gebaut. Ende 2025 will die Bahn den neuen unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart einweihen.
Das Datum wurde schon mehrmals verschoben. Stand heute soll Stuttgart 21 etwa 8,2 Milliarden Euro kosten, sagt die Bahn. Der Bundesrechnungshof ging allerdings schon vor fünf Jahren von etwa zehn Milliarden Euro aus. Nach der Volksabstimmung im November 2011 betonte Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen: Der Anteil Baden-Württembergs an dem Projekt in Höhe von 930 Millionen Euro werde nicht steigen: "Es ist jedenfalls klipp und klar so, auf allen Ebenen im Parlament, auf Parteitagen, im Kabinett ist beschlossen, dass wir mehr nicht bezahlen."

Und so steht es auch im aktuellen Koalitionsvertrag. Doch noch immer ist nicht klar: Wer wird die Mehrkosten von mindestens 3,7 Milliarden Euro bezahlen? Die Bahn hat ihre Projektpartner – das Land Baden-Württemberg, die Region und die Stadt Stuttgart - deshalb verklagt. Eine Entscheidung vor Gericht steht aus. Probleme wie mangelhafter Brandschutz oder Wassereinbrüche beim Tunnelbau sind bis heute nicht gelöst.

Montagsdemos: Proteste währen seit zehn Jahren

Grund genug für die rund dreihundert Menschen, sich an einem Novembermontag auf dem Schlossplatz in Stuttgart zu versammeln. "Guten Abend, liebe Fangemeinde eines sinnvollen Bahnknotens. Mein Name ist Michael Becker von Kern 21. Ich begrüße Sie im Namen des Demoteams herzlich zur 586. Montagsdemo."  
Stuttgart 21-Gegner demonstrieren in Stuttgart vor einem Bautor, im Hintergrund ist der Südflügel des Hauptbahnhofes zu sehen.
Der Protest gegen Stuttgart 21 geht weiter (picture alliance / dpa / ranziska Kraufmann)
Michael Becker organisiert seit zehn Jahren den Protest mit. Auch in den Pandemiemonaten wurde weiter demonstriert. Wenn es auf der Straße nicht ging, traf man sich online. Jetzt im November, solange es noch geht, ziehen sie nach der Kundgebung immer wieder montags durch Stuttgarts Straßen, zur Baustelle am Hauptbahnhof. Die meisten Menschen sind jenseits der 50. Jede und jeder hat eine eigene Geschichte und Motivation. Wie Hans-Jörg Jäkel, Eisenbahn-Ingenieur und seit Jahren hier engagiert:

"Ich war eigentlich in den 90er-Jahren von Stuttgart 21 begeistert. So viel neue Infrastruktur, das kann nur was Tolles sein. Bis ich 2009 Mal einen Vortrag gehört habe, dass der Bahnhof schräg werden soll. Und das ist für mich als Eisenbahner halt nicht vorstellbar."

Auch Barbara Drescher läuft im Demozug mit, mit Maske und warm eingepackt. "Ich bin von Beruf Landschaftsplanerin und ich leide ständig unter dem, was wir hier Dummes an Stadtentwicklung machen. Und uns das Grün selber weggraben, ja? Und das ist für mich was ganz wichtig ist, an was mitzumachen, wo vielleicht noch was zu verändern ist im Leben."

"Schwäbische Wutbürger" - zwischen Querdenkerbewegung und Klimaaktivismus

Genau daran haben viele nicht mehr geglaubt, 2011: Dass sie nach der Volksabstimmung noch etwas ändern können. Tatsächlich ist das Bündnis der Bahnhofsgegner stark geschrumpft. Viele Akteure – allen voran die großen Umweltverbände – haben das Ergebnis akzeptiert.  Für das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 kam das nie infrage. Nach der Demo wärmen sie sich in einem Café auf.
Auch Christa Schnepf, seit fast zehn Jahren dabei, sammelt nach wie vor Spenden, will aufklären: "Im Hintergrund ist natürlich schon klar, dass die natürlich bauen und dass man das jetzt durch die Demo nicht stoppen wird. Ich denke, wenn, dann müsste irgendein äußeres Ereignis dazukommen."

Co-Organisator Thomas Adler sieht es ähnlich. Bis vor kurzem war er Stadtrat für die Linke im Stuttgarter Gemeinderat: "Wer hätte Ende der 70er-Jahre oder Anfang der 80er-Jahre gedacht, dass die Bundesrepublik Deutschland aus der Atomkraft aussteigt? Das hätte damals auch keiner geglaubt, und man ist dagegen angerannt."
«S21 Fahr zur Hölle!» steht bei der 300. Montagsdemo vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart (Baden-Württemberg) auf einem Plakat eines Demonstranten, der zusammen mit zahlreichen anderen Menschen gegen das Bahn-Bauprojekt Stuttgart 21 demonstriert.
Die Wut der Stuttgart-21-Gegner ist auch bei der 300. Montagsdemo noch groß (dpa/ picture-alliance/ Christoph Schmidt)
Es ist auch eine Menge Frust im Spiel. Aber niemand geht hier soweit, sich in die radikalen Corona-Proteste der Querdenker einzureihen. Auch wenn das Klischee vom schwäbischen Wutbürger gerade am Anfang auch für die Querdenkerbewegung bemüht wurde: Sozialwissenschaftliche Studien zeigen: Diese Verbindungen zwischen den Protestgruppen gibt es nicht. Die Gegnerinnen und Gegner von Stuttgart 21 sehen eher eine Nähe zur Klimaschutzbewegung. In diese Richtung geht auch das Alternativkonzept für den Bahnhof, das das Aktionsbündnis im Sommer präsentiert hat. 

"Wir nähern uns immer mehr einem Klimanotstand. Zeit, grundsätzliche Fragen zu stellen. Auch bei Stuttgart 21. Auch bei den Verkehrsbelastungen in unseren Städten."

Neue Pläne: Noch ein Tunnel - und noch ein unterirdischer Bahnhof

Die Videoanimation zeigt, wie die schon gebauten Bahnhofstunnel für ein City-Logistikzentrum genutzt werden könnten. Man könne noch Milliarden sparen, so die Ingenieure vom Aktionsbündnis. Die neue Regierung in Baden-Württemberg hat aber längst andere Pläne. Im Frühjahr haben sich Grüne und CDU im Koalitionsvertrag auf zwei Zusatzprojekte geeinigt. Beide könnten nochmal knapp zwei Milliarden Euro kosten: Ein weiterer Tunnel, um schneller zum Flughafen zu kommen. Und der Bau eines zweiten unterirdischen Bahnhofs.
Vor allem der frühere Gegner des Tiefbahnhofs und jetzige Verkehrsminister von den Grünen, Winfried Hermann, setzt sich dafür ein. Und bestätigt damit offiziell, was seit der Schlichtung bei Stuttgart 21 kritisiert wird: Dass der neue Durchgangsbahnhof mit nur acht Gleisen zu klein ist. Entschieden ist allerdings noch nichts. In der breiten Öffentlichkeit spielt Stuttgart 21 seit der Volksabstimmung trotzdem kaum noch eine Rolle. Die Abstimmung vor zehn Jahren hatte aber noch einen anderen Effekt:

Mehr Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg

"Wir werden eine Politik des Gehörtwerdens machen. Eine Politik, die neue Schritte in die Bürgergesellschaft macht. Das ist die große Lehre aus dem Konflikt um Stuttgart 21."
Porträt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Grüne) beim Katholikentag in Münster 2018.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Politik des Gehörtwerdens nicht automatisch ein Erhörtwerden (imago / epd)
Ministerpräsident Winfried Kretschmann 2011 im Südwestrundfunk. Tatsächlich wurde die Bürgerbeteiligung zu einem Schwerpunkt der damals neuen grün-roten Landesregierung. Bürgerinnen und Bürger werden seither früher in die Planung solcher Projekte einbezogen. Und die teils sehr hohen Hürden bei Volksabstimmungen, Bürgerentscheiden und -begehren wurden gesenkt in Baden-Württemberg:

"Also der Daumen geht eher nach oben. Wir haben uns aufgemacht in viele richtige Richtungen", sagt Sarah Händel, Geschäftsführerin beim Verein "Mehr Demokratie". Der Lobbyverband berät Kommunen und Bürgerinitiativen zum Thema Bürgerbeteiligung. Die Quoren für Entscheide wurden gesenkt. Die Menschen bekamen mehr Zeit zum Unterschriftensammeln - und mehr Befugnisse: Man darf sich auch in laufende Bauplanungen einer Gemeinde einmischen. Die Zahl der Bürgerentscheide ist nicht enorm. Hat sich aber fast verdoppelt: Auf durchschnittlich 25 im Jahr.
Die Befürchtung der Städte und Gemeinden, es würden vor allem Einzelinteressen durchgedrückt, habe sich nicht bestätigt, sagt Sarah Händel: "In der Realität geht es nämlich fifty-fifty aus. Ungefähr gewinnen in 50 Prozent der Fälle die Initiativen, in 50 Prozent der Fälle gewinnen die Gemeinderäte." Das Ergebnis ist dann für drei Jahre verbindlich. Dennoch: Im Ergebnis sorgt so ein Entscheid oft für viel Emotionen vor Ort. Händel sieht darin eher Stellvertreterkonflikte: "Je seltener wir den Menschen die Chance geben, auch mal direkt abzustimmen und ihre Meinung kundzutun, desto aufgeladener werden die. Da werden dann halt diese Möglichkeiten, wo wir mal gefragt werden genutzt, um diese Gefühlslagen dann dem System mitzuteilen."

Regierungspolitik verstehen - im Bürgerforum

Baden-Württemberg hat dafür aber noch andere Formen der Bürgerbeteiligung entwickelt: Mehr als 50 Menschen sitzen im zweiten Corona-Herbst in einer Videokonferenz. Zusammengeschaltet im Bürgerforum der baden-württembergischen Regierung: Um deren Corona-Politik zu diskutieren, neue Impulse zu geben: "Ist es fair, dass Ungeimpfte von bestimmten Bereichen des öffentlichen und Berufslebens ausgeschlossen sind?"

Die Moderatorin leitet die Diskussion ein. Die Teilnehmenden in den kleinen Gruppen sind Mütter, Rentner, Unternehmerinnen, Studenten – ein Querschnitt der Bevölkerung, zufällig ausgewählt. Sie haben schon fast zwei Stunden zugehört. Fatih Yilmazli ist schon geübt. Der Lokführer aus dem Schwarzwald ist seit elf Monaten dabei: "Also ich würde eingrenzen. Geht es um Privatvergnügen, geht es um Arbeiten?" - "Also ehrlich gesagt, die die nicht geimpft sind, die sollen nicht mal zum Arbeiten gehen."

Pro, Contra, Abwägen. Wie kann eine gute Politik aussehen? In den elf Monaten Bürgerforum habe er viel über Regierungspolitik gelernt, sagt Yilmazli: "Es ist nicht so einfach, wie manche denken und in Twitter einfach mit einem Fakeprofil irgendwelche Kommentare von sich geben. Ach die Regierung macht dies. Ach die Landesregierung macht das. Das ist so komplex. Und deswegen, ich habe da schon einen Riesenrespekt davor."

Auch Michaela Dreier, Krankenpflegerin in einer Rehaklinik und Teilnehmerin am Corona-Bürgerforum sieht das so: "Ich habe gelernt, dass es gar nicht so einfach ist, Entscheidungen zu treffen, die danach ja viele betreffen. Ich muss zwar in meinem Beruf regelmäßig schnell auch Entscheidungen treffen können, die betreffen aber eine kleine Gruppe. Die haben ja jetzt nicht Auswirkungen für ganz ganz viele Menschen."

Dreier, Yilmazli und die anderen wollen aber nicht nur Regierungspolitik verstehen – die Regierung soll auch die Menschen besser verstehen. Beschäftigte der Landesregierung hören zu bei den Diskussionen, reichen die Ergebnisse weiter: "Am Ende des Prozesses wird dann ein Abschlusskommuniqué stehen und das wird dann auch überreicht werden. Aber bereits die Zwischenschritte werden dann ins Kabinett, werden in den Landtag eingespeist."

Bürgerdialog als Kernanliegen


Das verspricht Barbara Bosch. Sie ist gerade zur neuen Staatsrätin für Zivilgesellschaft ernannt worden. Und damit zuständig für die Bürgerbeteiligungsprozesse in Baden-Württemberg. Boschs Vorgängerin hat zehn Jahre lang die Beteiligungspolitik etabliert. Der Bürgerdialog ist ein Kernanliegen geworden: Bei strittigen Bauprojekten, polarisierenden politischen Themen sollen die Menschen direkt befragt werden. "Und das hilft nicht nur im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung. Das hilft sogar sehr viel früher schon, wenn ein Thema überhaupt erst ansteht."
Von Regierung und Landtag wurden inzwischen zehn große Bürgerforen in Baden-Württemberg gestartet: Zufällig ausgewählte Menschen haben über die Altersversorgung für Abgeordnete oder über den Umbau der Stuttgarter Oper diskutiert. Am Ende steht immer eine Empfehlung: Wie weiter?
Kritiker sagen: Die Foren kamen oft zu spät im Prozess. Und: Nicht immer wurden die Empfehlungen dann auch umgesetzt: "Es ist nicht in allen Fällen völlig anders entschieden worden. Aber unabhängig hiervon: Von vornherein wird sehr deutlich gesagt, dass wir in der repräsentativen Demokratie sind, dass es Gremien gibt, die zu entscheiden haben und die auch entscheiden werden."

"Es ist kein Ersatzparlament in irgendeiner Form und es geht ja auch nicht um Repräsentativität, sondern es geht darum, Menschen zusammenzubringen, die dann eine Position formulieren, die sich auf diesen Prozess einlassen", sagt auch Ulrich Eith. Der Politikwissenschaftler an der Universität Freiburg hat in mehreren Studien die Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg untersucht. Und kommt, wie auch andere Forschende, zu einem positiven Fazit, und zwar unabhängig davon, ob die Empfehlungen von der Mehrheit im Parlament auch übernommen wurden:

"Das ist das Interessante, dass das in einer ganzen Reihe von Fällen so zu beobachten war. Und da zeigt sich, glaube ich schon, dass immerhin positiv bewertet worden ist, dass die Dinge überhaupt diskutiert worden sind."

Die Lehren aus Stuttgart 21

Gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit vor zehn Jahren hat Grün-Rot in Baden-Württemberg festgelegt: Ob nun Straßen gebaut werden, Gewässer renaturiert oder andere Bauprojekte anstehen – wenn das Land sie baut, müssen Bürgerinnen und Bürger früh einbezogen werden. Noch bevor es konkrete Planungen und Beschlüsse gibt. Eine der Lehren aus dem Fiasko um Stuttgart 21 vor zehn Jahren.

Ulrich Eith: "Der entscheidende Vorteil daran ist eben, man hat keine Situation, in der Verbände oder Interessengruppen, jeweils dann aber auch ihre Interessen ins Schaufenster hängen. Das zeigt sich dann eben in sehr vielen dieser Verfahren, dass die Menschen eine sehr große Bereitschaft haben, zusammen sich erstens zu informieren, aber dann auch zusammen zu diskutieren und mal zu versuchen: Wie kann man denn zu vernünftigen Lösungen da kommen?"

Das Ziel: Probleme früh erkennen und ausräumen. Protest soll gar nicht erst entstehen. Trotzdem wird auch immer wieder Kritik laut: Gerade das Corona-Bürgerforum wurde von der Opposition als "Alibi"-Veranstaltung missbilligt. Für den Verein "Mehr Demokratie" sind solche Bürgerdialoge wichtig – aber höchstens ein Element der Beteiligung.

Sarah Händel: "Gerade die dialogischen Verfahren könnten sehr gut mit direkter Demokratie kombiniert werden, indem man sagt, man macht ein dialogisches Verfahren, um einen inhaltlichen Vorschlag zu entwickeln. Und dann kann man aber ohne Probleme über diesen Vorschlag eine direktdemokratische Abstimmung machen."

Die baden-württembergische Regierung will aber eher die Bürgerdialoge weiter ausbauen. Über direktdemokratische Verfahren äußert sich die Regierung heute kritischer als noch vor zehn Jahren. Staatsrätin Barbara Bosch: "Die Themen sind dann polarisierend. Es gibt eine Asymmetrie, und am Ende des Tages weiß man nicht mehr: Ist das, was man hört, sind das die lauten Stimmen nur? Oder ist das wirklich die Breite der Bevölkerung, ist das ein Querschnitt im Meinungsbild?"

Politik des Gehörtwerdens nicht automatisch ein Erhörtwerden

Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen ist zurückhaltender geworden. Die Politik des Gehörtwerdens sei nicht automatisch ein Erhörtwerden. Aktuell überlegt Kretschmann öffentlich, ob Bürgerentscheide zu Windkraftanlagen sogar eingeschränkt werden sollen. Lokale Abstimmungen über die Grundsatzfrage für oder gegen Windkraft möchte er am liebsten verhindern:

"Wenn wir jetzt die Energiewende zu einem nationalen Projekt erklären, da muss es auch auf anderen Ebenen entschieden werden. Das Ding wird jetzt so geordnet, dass Dinge eben von überregionaler Bedeutung nicht regional entschieden werden können. Verstehen Sie, die Entscheidung, ob jetzt der Infraschall von Windkraftanlagen die Gesundheit beeinträchtigt, das ist nicht Aufgabe der örtlichen Behörden."
Windräder stehen auf einem Feld bei Wormlage in der brandenburgischen Lausitz vor dem vom Sonnenuntergang rot gefärbten Abendhimmel.
Baden-Württemberg will in den kommenden Jahren im staatlichen Wald 1.000 Windräder bauen (dpa picture alliance / Andreas Franke)
Hintergrund des Plans: Baden-Württemberg will in den kommenden Jahren im staatlichen Wald 1.000 Windräder bauen – und das möglichst schnell. Um Planungsverfahren zu verkürzen, könnten die Menschen grundsätzlich in einer landesweiten Volksabstimmung entscheiden, ob sie dafür sind oder dagegen. Eine solche Volksabstimmung über Windkraft wäre die erste seit Stuttgart 21.
Allerdings zeigt eine Auflistung des Vereins "Mehr Demokratie": In den vergangenen drei Jahren gab es nur vier Bürgerentscheide über Windkraft. Drei sprachen sich für den Bau aus. Um das Vorhaben der Landesregierung umzusetzen, bräuchte es auch Gesetzesänderungen auf Bundesebene. Ministerpräsident Kretschmann hofft auf die neue Bundesregierung: "Ja, das müssen wir erst klären, es ist alles im Fluss. Jedenfalls haben wir ja nicht die Absicht, die Verfahren zu beschleunigen und die Bürgerbeteiligung niederzuwalzen. Es ist nicht Absicht dieser Regierung."

Zehn Jahre nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist das Fazit über die "Politik des Gehörtwerdens" trotzdem überwiegend positiv. In der Zivilgesellschaft, in der Politik und auch in der Wissenschaft. Ulrich Eith: "Sicherlich, in Deutschland ist Baden-Württemberg hier Vorreiter."