Dienstag, 19. März 2024

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Zukunft Europas
"Deutschland und Frankreich sind von elementarer Bedeutung"

Der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (CDU) hat Frankreich und Deutschland dazu aufgerufen, eine gemeinsame politische Linie zu finden. Ohne eine gemeinsame Haltung der beiden Länder habe die Europäische Union keine Zukunft, sagte er im Dlf.

Hans-Gert Pöttering im Gespräch mit Mario Dobovisek | 25.05.2019
Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung spricht am 25. April 2017 in Berlin beim Festakt zum 50. Todestag von Konrad Adenauer der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Für Hans-Gert Pöttering ist der Austritt Großbritanniens aus der EU die größte Enttäuschung seines politischen Lebens. (picture alliance / Maurizio Gambarini/dpa)
Mario Dobovisek: Europa hat die Wahl, die Wahl für das Europaparlament und damit für Europas Zukunft. Nicht wenige sprechen in diesem Jahr von einer Schicksalswahl für die Europäische Union, für die Gemeinschaft und wie sie sich weiterentwickeln wird. Am Telefon begrüße ich Hans-Gert Pöttering, 35 Jahre lang saß er im EU-Parlament, seit es 1979 das erste Mal von den Bügerinnen und Bürgern Europas direkt gewählt worden ist ,dort war er auch Vorsitzender der EVP-Fraktion und später Parlamentspräsident. Guten Morgen, Herr Pöttering!
Hans-Gert Pöttering: Guten Morgen, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Seit Donnerstag wählt Europa also, morgen ist Deutschland an der Reihe gemeinsam mit den meisten anderen Mitgliedsstaaten der EU. Wie wichtig ist diese Wahl im Jahr 2019?
Pöttering: Ja, Herr Dobovisek, alle Politikerinnen und Politiker sagen natürlich, diese Wahl ist die wichtigste Wahl, um die es geht, aber auch nach meiner Beurteilung – und ich war ja, wie Sie schon gesagt haben, 35 Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament: Diese Wahl im Jahre 2019 ist wirklich die wichtigste Europawahl, denn das Europäische Parlament ist nicht nur einflussreich und mächtig heute, es hat sich viele Kompetenzen erstritten, sondern es ist auch gefährdet, weil zu erwarten ist, wenn die negativen Prognosen sich bewahrheiten sollten, dass viele Populisten und Nationalisten, also Leute, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, ins Europäische Parlament gewählt werden. Und deswegen ist es ganz wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich bei der Wahl morgen auch in Deutschland für pro-europäische Parteien entscheiden, und das ist die Hoffnung, die ich habe, und dazu möchte ich alle Bürgerinnen und Bürger ermutigen.
"Es hat nie eine solche Herausforderung gegeben"
Dobovisek: Aber ist, Herr Pöttering, nicht für Politiker jede kommende Wahl die wichtigste Wahl, eine Schicksalswahl und damit etwas überstrapaziert als Wort?
Pöttering: Ja, das ist sicher richtig, wenn Sie das so sagen. Aber man muss auch feststellen, dass es nie eine solche Herausforderung gegeben hat wie gegenwärtig jetzt, dass sich die Nationalisten in verschiedenen Ländern der Europäischen Union zusammentun, um dieses europäische Projekt, das ja im Kern ein Friedensprojekt ist – und die Europäische Union ist ja im Kern eine Wertegemeinschaft –, … dass dieses Friedensprojekt herausgefordert wird und dass die Parteien, die nicht für Europa sind, das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen und meinen, dass nationale Lösungen dazu beitragen können, die Probleme am besten zu bewältigen. Und dieses ist ausdrücklich nicht meine Meinung, sondern wir können nur, so wie die Welt heute ist, wenn Sie nach Russland schauen, nach China schauen, selbst in die Vereinigten Staaten von Amerika, wir können nur gemeinsam unsere Werte und Interessen vertreten. Und darum geht es jetzt auch bei der Wahl zum Europäischen Parlament.
Dobovisek: Das Alte wird aber irgendwann immer zur Vergangenheit und das Neue zur Zukunft. Was ist also dieses Mal so anders?
Pöttering: Es ist anders, dass wir Parteien haben, besonders in Italien und auch in Frankreich, aber nicht nur dort, dass diese Parteien sagen: Wir stützen uns auf die nationale Identität, und nur die Nationen können die Probleme bewältigen. Und dieser Ansatz ist ausdrücklich falsch, weil nämlich die Wiedererrichtung von Grenzen … Wir haben heute die Freizügigkeit, wir können reisen von Deutschland nach Italien, nach Slowenien, wir haben den sogenannten Schengen Raum. Diese Errungenschaften müssen wir bewahren, und wir dürfen nicht wieder Grenzen bauen. Grenzen entstehen zunächst …
Dobovisek: Das tut ja auch Deutschland mit Blick auf die Flüchtlingskrise.
Pöttering: Natürlich hat Deutschland da eine große Rolle zu spielen, und das ist eine der vorrangigen Aufgaben der nächsten Monate und vielleicht sogar auch der nächsten Jahre, dass wir ein gemeinsames Asyl- und Migrationsrecht entwickeln in der Europäischen Union, aber dass wir nicht glauben, jedes Land könne dieses alleine machen. Nur gemeinsam sind wir stark, und diese Gemeinsamkeit muss sich auch ausdrücken in der Europawahl. Und deswegen ist es so wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen.
"Wir haben die Italiener, die Griechen mit ihren Problemen alleine gelassen"
Dobovisek: Mit der Ibiza-Affäre hat die FPÖ in Österreich zwar einen Dämpfer bekommen, doch die Populisten in Europa insgesamt sehen sich stärker als je zuvor, auch, weil Italiens Lega-Chef sie gerade um sich versammelt. Unter den Populisten gibt es welche, die die EU in Gänze ablehnen, andere wollen sie verändern. Das will auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der mit seinen Vorschlägen in Berlin nicht gerade auf den gewünschten Widerhall traf. Ist es ein Fehler, dass sich die Bundesregierung, die Kanzlerin so lange so passiv verhalten hat?
Pöttering: Also zunächst einmal: Was die Entwicklung in Italien angeht muss man sagen, dass dieses eine große Gefährdung der Europäischen Union ist, wenn man glaubt, dass man durch alleinige nationale Lösungen einen guten Weg in die Zukunft Europas beschreiten kann. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir die großen Herausforderungen sehen, gerade im Bereich des Asylrechtes, der Migration brauchen wir europäische Lösungen. Und wir müssen auch selbstkritisch sagen als Deutsche: Wir haben dieses Problem erst wirklich erkannt, als wir selber die großen Herausforderungen hatten im Jahre 2015. Wir haben die Italiener, die Griechen lange mit ihren Problemen alleine gelassen. Und meine These ist seit vielen Jahren: Wenn ein Land der Europäischen Union ein großes Problem hat, dann ist es ein Problem für alle Länder der Europäischen Union. Das ist europäische Solidarität. Und was …
"Frankreich und Deutschland dürfen Europa nicht dominieren"
Dobovisek: Nur seit 2015, Herr Pöttering, sind ja auch schon inzwischen vier Jahre vergangen und es gab mehrere Versuche, mehrmals, von Emmanuel Macron, auch von Sebastian Kurz, seine Ideen einzubringen in die Europäische Union, und aus Berlin kam da herzlich wenig.
Pöttering: Also ich glaube, dass wir da in einem Prozess der Diskussion sind, und die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind von so elementarer Bedeutung für die Zukunft Europas, dass wir in Deutschland alles tun sollten, dass wir mit Paris auf einer Linie sind, und auch Paris sollte sich bemühen, bei allen Problemlösungen mit Berlin, mit Deutschland gemeinsame Lösungen zu finden. Das ist die Priorität der Prioritäten. Und ich hoffe, dass beide Regierungen, sowohl in Paris wie in Berlin, in den nächsten Wochen und gerade auch nach den Europawahlen Lösungen finden, wo Paris und Berlin auf einer Linie sind, denn es ist entscheidend für die Zukunft der Europäischen Union, dass diese beiden wichtigen Länder gemeinsame Lösungen finden. Sie dürfen nicht Europa dominieren, sie müssen aber gemeinsam handeln und die anderen überzeugen, einen gemeinsamen europäischen Weg zu gehen, ohne …
Dobovisek: Paris müsse sich bemühen, haben Sie gerade gesagt, Herr Pöttering. Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass sich Berlin vielleicht etwas mehr bemühen müsste.
Pöttering: Ja, es geht um beide. Wir hören auch gelegentlich Vorschläge aus Frankreich, die vielleicht nicht so durchdacht sind wie mit der Schaffung immer neuer Institutionen, das kann, glaube ich, auch nicht der Weg sein. Aber ich würde mir auch von Berlin wünschen, dass wir gegenüber Präsident Emmanuel Macron eine offene Haltung haben. Ohne eine gemeinsame Haltung von Deutschland und Frankreich hat die Europäische Union keine Zukunft. Und deswegen fordere ich alle auf, dass sie sich um Gemeinsamkeit bemühen, gerade im deutsch-französischen Verhältnis, wie es zwischen François Mitterand und Helmut Kohl, Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing und anderen ja auch der Fall war. Dies ist eine wirkliche, dringende Notwendigkeit, dass Deutschland und Frankreich einen gemeinsamen Weg gehen, sonst hat die europäische Einigung keine Zukunft. Aber ich hoffe, dass nach der Europawahl diese Einsicht sich auch in konkrete Taten umsetzen lässt.
"Das ist eine Weiterentwicklung der Europäischen Union"
Dobovisek: Genau dafür fordert Emmanuel Macron in Paris ja eine Strategiedebatte nach der Europawahl, Sebastian Kurz will sogar Neuverhandlungen des EU-Vertrages, des Vertrags von Lissabon, weil die EU nicht mehr zeitgemäß sei, sagt er. Braucht die EU einen neuen Konvent, eine neue Grundlage, vielleicht sogar im zweiten Anlauf eine neue Verfassung?
Pöttering: Also ich würde jetzt nicht den Bogen zu weit spannen. Wie auf der nationalen Ebene oder auch auf der regionalen, der kommunalen Ebene gibt es immer Veränderung. Man sollte jetzt nicht sagen, die Europäische Union muss auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden. Eine solche Betrachtungsweise halte ich für falsch. Als das Europäische Parlament vor 40 Jahren, also 1979, zum ersten Mal gewählt wurde, hatte es überhaupt keine Kompetenzen. Wir haben gekämpft für den Einfluss des Europäischen Parlamentes. Heute ist das Europäische Parlament Gesetzgeber in nahezu allen Fragen europäischer Gesetzgebung, es ist mächtig und einflussreich. Das ist eine gewaltige Errungenschaft. Und deswegen sollte man eher von einer Reform, von einer Weiterentwicklung der Europäischen Union sprechen, zum Beispiel im Steuerbereich. Im Steuerbereich hat das Europäische Parlament noch nicht die Gleichberechtigung, weil im Ministerrat noch die Einstimmigkeit besteht, und wir brauchen auch eine Besteuerung der großen Unternehmen wie Facebook, Google, um hier zu einer wirklichen europäischen Lösung zu kommen – und das ist eine Weiterentwicklung der Europäischen Union, es ist aber nicht eine Neuerfindung. Und wir sollten niemals vergessen, dass die Europäische Union im Kern eine Wertegemeinschaft ist, das heißt, sie gründet sich auf die Würde des Menschen, auf die Demokratie, auf die Freiheit, auf den Frieden, auf das Recht, und das ist eine gewaltige Errungenschaft, und all das dürfen wir nicht infrage stellen. Und wir sollten sehr viel mehr das in den Mittelpunkt stellen, was wir erreicht haben als das, was noch an Herausforderungen da ist, obwohl ich nichts schönreden will. Wir müssen die Europäische Union weiterentwickeln, aber wir dürfen sie nicht infrage stellen.
"Der Brexit ist die größte Enttäuschung meines politischen Lebens"
Dobovisek: Eine ganz konkrete Herausforderung für die nächsten Wochen und Monate ist der Brexit. In das Europaparlament einziehen wird höchstwahrscheinlich auch die neue Brexit-Partei von Nigel Farage aus Großbritannien, in einer Wahl, die es eigentlich für die Briten ja gar nicht mehr hätte geben sollen, schließlich wollte sie längst aus der EU ausgetreten sein, stattdessen haben sich die Abgeordneten in London ineinander verhakt, und Premierministerin May wird zurücktreten. Rechnen Sie noch mit einem geordneten Brexit?
Pöttering: Also das ist natürlich sehr schwer zu sagen. Die Hoffnung bleibt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt, wie ein schönes Wort lautet. Und der Brexit, das Ausscheiden Großbritanniens, ist aus meiner Sicht die größte Enttäuschung zumindest meines politischen Lebens. Wir haben immer alles getan, um die Briten an unserer Seite zu halten, wir haben ihnen große Zugeständnisse gemacht. Und jetzt kann man nur hoffen, dass wir eine Situation erreichen, dass wir Großbritannien möglichst nah an unserer Seite halten. Aber die Entwicklung in Großbritannien ist sehr, sehr traurig, und das ist auch sehr bedauernswert für die Europäische Union insgesamt, denn wir sind weltpolitisch in einer Herausforderung, dass die Europäer einig sein sollten, und dafür brauchen wir eigentlich auch die Briten, und dass die Briten diesen Weg gehen, ist sehr bedauernswert. Aber wir müssen jetzt sehen, dass die Europäische Union, die anderen 27 Staaten zusammenbleiben und das ist Gott sei Dank bisher auch so gewesen, dass wir gemeinsam handeln und gemeinsam stark sind, um die wichtigen Herausforderungen, die Migrationsfrage, den Klimawandel, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam entwickeln. Diese Chance ist da, wenn die beteiligten und verantwortlichen Politiker diesen Willen haben, und ich hoffe, dass dieser Wille da ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.