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Zuwanderung
"Die Zeit der nationalen Asylpolitik ist abgelaufen"

Der Ökonom und Migrationsforscher Thomas Straubhaar spricht sich für eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Staaten in der Migrationspolitik aus. Der EU-Kommissar für Migration brauche mehr Kompetenzen, sagte er im DLF. Gleichzeitig müssten aber auch die Herkunftsregionen in eine Lösung einbezogen werden.

Thomas Straubhaar im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.09.2015
    Thomas Straubhaar, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Hamburg
    Thomas Straubhaar (imago/Reiner Zensen)
    Es könne nicht sein, dass sich diktatorische Länder ihrer innenpolitischen Probleme entledigen können, indem sie Flüchtlinge produzierten, so Straubhaar. Man müsse dort für Frieden und Stabilität sorgen. Deswegen sei die Migrationspolitik auch nicht die Zuständigkeit des Innenministers, sondern der Außen- und Entwicklungshilfeminister.
    Dass die Lösung in komplett geöffneten Grenzen liegen könnte, hält Straubhaar für eine Illusion, da die Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern gewachsen sei.
    Der Ökonom hält ein Einwanderungsgesetz in Deutschland für sinnvoll: Erstens würde es klarmachen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, zweitens könne man so Kompetenzen bündeln und drittens könne man so besser eine gemeinsame Migrationsaußen- und Innenpolitik in der EU betreiben.
    Er kritisierte die Bilder, die in den Medien zum Thema Flüchtlingspolitik vorherrschten: Flüchtlinge, die unter Zäunen durchkröchen, vermittelten das Bild, dass Europa vor einem Flüchtlingssturm stehe, völlig unvorbereitet sei und die Länder in ihrer Staatlichkeit bedroht sein - das aber halte den Fakten nicht stand.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Verfolgt man die öffentliche Debatte über die Flüchtlinge, die im Moment nach Deutschland kommen, dann muss man den Eindruck bekommen, Einwanderer sind vor allem eines: ein großes Problem. Die einen fliehen vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat, und die gilt es natürlich zu schützen, um die muss man sich kümmern. Aber das kostet viel Geld und bringt die Verwaltung an den Rand der Überforderung. Und die anderen sind illegale Einwanderer aus angeblich sicheren Herkunftsländern. Die gilt es, rasch abzuschieben oder besser noch abzuschrecken.
    Aber es gibt noch einen anderen Blick auf das Thema Einwanderung, denn viele Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler sind sich einig: Einwanderer sind, zumal historisch betrachtet, für das Gastland auf lange Sicht ein großer Gewinn. Wer den Wohlstand eines Landes fördern will, so die These, der sollte seine Grenzen nicht schließen, sondern auch für Menschen öffnen. - Am Telefon ist der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar, viele Jahre lang Präsident des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, heute Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität der Hansestadt.
    Herr Straubhaar, reden wir im Moment zu viel über Zumutungen durch Flüchtlinge, über Sorgen, Hürden und Hindernisse, und viel zu wenig über Chancen?
    Thomas Straubhaar: Ich fürchte, ja. Ich denke, dass in diesen hektischen Tagen die Bilder überwiegen, die Flüchtlinge zeigen, die aus lauter Verzweiflung auch unter Stacheldrähten durchrobben, und das vermittelt das Bild, als würde erstens Europa vor einem Migrations- und Zuwanderungssturm stehen und wären wir zweitens völlig unvorbereitet und drittens würde dadurch unsere Staatlichkeit in ihren Grundfesten bedroht. Ich glaube, keine dieser Ängste hält wirklich den Daten und Fakten stand.
    Zwei Männer steigen unter einem Stacheldrahtzaun hindurch
    Ungarn hat den umstrittenen Zaun an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien vorzeitig fertiggestellt (picture alliance/dpa/Sandor Ujvari)
    Barenberg: Nun muss man aber doch sagen, dass die Bilder ja nicht ohne Grund vermitteln, dass es sich um verzweifelte Menschen handelt, die unter großer Anspannung sind, die übermüdet sind, und dass auf der anderen Seite natürlich im Moment auch die Verwaltung, sagen wir, in Deutschland jedenfalls am Rand der Überforderung ist, wenn es darum geht, sich um all diese Menschen zu kümmern. Was ist trotzdem schief an diesem Bild?
    Straubhaar: Dass man glaubt, dass sozusagen der Innenminister für die Frage der Migrationspolitik hauptverantwortlich sei und dass es gelingen könne, in den europäischen Aufnahmegesellschaften die Flüchtlingsströme zu stoppen oder zu steuern. Beides ist ein Trugschluss. Die Migrationsthematik muss zusammen mit den Herkunftsregionen bewältigt werden und insbesondere die Flüchtlingsströme nach Europa müssen in den Herkunftsregionen eingedämmt werden, und deshalb ist es ein Thema meinetwegen der Außenminister oder der Entwicklungshilfeminister, der Zusammenarbeit der internationalen Minister, die dafür zuständig sind, und eben nicht der Innenminister.
    "Zeit der nationalen Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa ist abgelaufen"
    Barenberg: Nun beraten die verschiedenen Minister, vor allem die Innenminister ja darüber, wie man die Flüchtlingsströme ein Stück weit steuern kann, wie man unterscheiden kann zwischen denen, die beispielsweise um politisches Asyl nachsuchen, und denen, denen es um eine bessere Lebensperspektive, um eine bessere wirtschaftliche Perspektive geht. Ist das alles umsonst?
    Straubhaar: Nein, überhaupt nicht. Ich denke nur, was jetzt gerade in diesen Tagen neu klar wird, ist, dass die Zeit der nationalen Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa abgelaufen ist. Ich denke, es wird ganz offensichtlich, dass Deutschland und die übrigen Länder der Europäischen Union viel enger in diesem Thema zusammenarbeiten müssten, dass es zu einer Vergemeinschaftung auch all dieser Themen kommen muss mit einem Migrationskommissar - den gibt es heute schon -, der aber weit mehr Kompetenzen, auch ein größeres Budget erhalten sollte, um diese Fragen zentral zu steuern, weil es ja nicht sein kann, dass dann einzelne EU-Länder einen Anreiz erhalten, die Grenzen relativ durchlässig zu halten, weil sie haargenau wissen, dass die Flüchtlinge dort nur transitmäßig durchströmen, um letztlich nach Deutschland zu kommen, und deshalb wird sozusagen das Problem von einem Land aufs andere übertragen. Ich glaube, es ist ganz klar: Diese nationale Migrationspolitik, Asylpolitik, Flüchtlingspolitik ist an ihrem Ende angelangt.
    Barenberg: Und eine europäische, eine gemeinsame, eine auf Konsens gebaute Politik nicht in Sicht, oder?
    Straubhaar: Die ist natürlich unglaublich schwierig zu finden. Ich meine, wir haben gesehen, mit welchen Schwierigkeiten wir beim ganzen Thema Euro innerhalb Europas mit nationalen Interessen zu kämpfen hatten und zu kämpfen haben, und das ist natürlich bei Migrationspolitik, Flüchtlingspolitik noch einmal viel, viel ausgeprägter, weil dort geht es nicht um Geld, dort geht es um Menschen, die kommen. Die leben dann hier, die werden genauso soziale Ansprüche stellen wie alle anderen auch, und das ist natürlich das Herz der heutigen Nationalstaaten, der heutigen nationalen Gesellschaften, das da angesprochen wird, weil da geht es um die ganz wichtigen gesellschaftlichen Grundwerte und die teilt man nicht so gerne mit wildfremden. Da ist man nicht so gerne bereit, diese auf lange Geschichte gewachsenen Traditionen, Normen, Verhaltensweisen einfach so aufzulösen, wegzugeben. Da geht es um Urängste nationalstaatlicher Befindlichkeiten.
    Ursachen der Flüchtlingsbewegungen bekämpfen
    Barenberg: Was sagen Sie dann beispielsweise Bundesinnenminister Thomas de Maizière, wenn er sagt, 800.000 Flüchtlinge im Jahr - so viele erwarten wir 2015 -, das geht auf Dauer nicht. Da spricht er ja in der Tat vielen Menschen aus dem Herzen.
    Straubhaar: Ich denke, da hat er auch völlig Recht. Ich meine, 800.000 Menschen, das ist von der Größe der Stadt Köln, die netto zusätzlich und vor allem auch soziale Ansprüche stellen werden. Da, denke ich, kommt jede Gesellschaft früher oder später schon allein aus polit-ökonomischen Gründen, vielleicht nicht mal ökonomischen, aber aus politischen, sozialen, gesellschaftlichen Spannungen an die Grenze dessen, was sie zu leisten willens ist. Deshalb hat er Recht, gilt es an die Ursachen dieser Flüchtlingsbewegungen hinzuarbeiten und nicht an die Symptome hier in Deutschland, sondern da muss man an die Herkunftsregionen. Man muss auch daneben als europäische Politik dafür sorgen, dass sich nicht Diktatoren und feudale Herrscher ihrer innenpolitischen Probleme entledigen können, indem sie Flüchtlinge produzieren. Das sind gewaltige Aufgaben, die man nur im großen globalen Zusammenhang wird angehen können.
    "Offene Grenzen für alle ist eine absolute Illusion"
    Barenberg: Aber wenn wir einen Augenblick noch bei der Situation jetzt bleiben. Würden Sie denn tatsächlich sagen, es ist auch auf mittlere und längere Sicht das Beste, die Grenzen für Zuwanderer ganz zu öffnen?
    Straubhaar: Nein. Ich denke, offene Grenzen für alle ist eine absolute Illusion. Das gebe ich gerne zu. In jüngeren Jahren habe ich das auch noch positiver gesehen und gesagt, eigentlich aus ökonomischer Sicht spricht nichts gegen offene Grenzen, weil - Sie haben das ja zitiert - letztlich die Empirie zeigt, dass mehr Zuwanderung in aller Regel auch mehr Wohlstand für alle in einer Gesellschaft bedeutet. Aber da mittlerweile die Ungleichheiten zwischen reicheren und ärmeren Ländern eher gewachsen als vermindert worden sind, denke ich, ist es eine schiefe Politik zu glauben, dass man ohne Grenzen auskommt. Ich denke, die richtige Politik wäre, für Entwicklung, Stabilität, institutionelle Sicherheit, für ein Leben in Frieden und Freiheit in den Herkunftsregionen zu sorgen und auch dafür Geld in die Hand zu nehmen, um über Entwicklungshilfe-Maßnahmen und institutionelle Stabilität diese Sicherheit in den Herkunftsländern erreichen zu können.
    "Einwanderungsgesetz wäre sinnvoll"
    Barenberg: Brauchen wir trotzdem - auch diese Diskussion gibt es ja in Deutschland - so etwas wie ein Einwanderungsgesetz?
    Straubhaar: Ja. Das, denke ich, würde aus verschiedenen Gründen Deutschland sehr, sehr gut anstehen. Ich denke nicht, dass wir hier hinter anderen Ländern zurückliegen. Ganz im Gegenteil: Wir verfügen heute schon über moderne, flexible zuwanderungsrechtliche Bestimmungen. Das ist sehr gut und sehr viel in der Vergangenheit ins Gute gewendet worden. Aber ich denke, erstens wäre es gut, einfach um klarzumachen, wir sind ein Einwanderungsland, zweitens, um die Kompetenzen zu bündeln und nicht in jedem Ministerium unterschiedliche Vorstellungen zu haben, und daneben drittens auch, um dadurch gemeinsam mit anderen europäischen Staaten nicht nur eine Migrations-Innenpolitik betreiben zu können, sondern auch eine Migrations-Außenpolitik, so wie ich sie beschrieben habe, umsetzen zu können.
    Zuwanderer aus verschiedenen Ländern nehmen am 18.09.2014 in Berlin an einem "Integrationskurs Deutsch" im Sprach- und Integrationszentrum in Berlin teil.
    Einwanderung ist nicht einfach zu steuern, sagt Straubhaar. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Barenberg: Und wäre ein fester Bestandteil eines solchen Einwanderungsgesetzes, dass es sich, was die Kriterien für Zuwanderung angeht, ausschließlich nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts auswählt und versucht, das politisch ganz konkret zu steuern?
    Straubhaar: Ja, wobei man sich überhaupt keine Illusionen machen sollte. Zuwanderung ist in keiner Art und Weise so leicht steuerbar, wie sich das gewisse Politikerinnen und Politiker vorstellen. Wir wissen, dass wir diesen Fehler bei der Gastarbeiter-Politik der 60er-Jahre gemacht haben. Da haben wir auch gedacht, wir rufen nur Arbeitskräfte, und dann kamen Menschen, um Max Frisch zu zitieren, und genauso wäre das heute auch. Wenn wir schon regulieren, wenn wir schon steuern wollen, dann sollte das möglichst einfach geschehen. Dann geht es darum, auf Sprache, auf Deutsch zu setzen. Dann geht es darum einzufordern, dass die Rechtsordnung akzeptiert wird. Und dann geht es darum, dass man wirtschaftlich sich selber über Wasser halten kann. Viel mehr sollte man nicht regulieren.
    Barenberg: ... sagt der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar. Ich bedanke mich für das Gespräch.
    Straubhaar: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.