Sonntag, 28. April 2024

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NS-Widerstandskämpferin
Als das Tagebuch der Ruth Andreas-Friedrich erschien

„Onkel Emil“ war der Tarnname einer Berliner Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime um die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich. Sie versteckten Juden, fälschten Papiere - und flogen nie auf. Im Juli 1947 erschienen erstmals Teile aus Ruth Andreas-Friedrichs Tagebuch.

Von Almut Finck | 06.07.2022
Die Schreibmaschine auf der Ruth Andreas -Friedrich, ihre Tochter Karin und Walter Seitz in Berlin-Steglitz ihre Flugblätter hundertfach abtippten. Ausgestellt in in der Gedenkstätte Weiße Rose in München.
Die Schreibmaschine auf der Ruth Andreas-Friedrich, ihre Tochter Karin und Walter Seitz in Berlin-Steglitz ihre Flugblätter hundertfach abtippten. Ausgestellt in der Gedenkstätte Weiße Rose in München. (imago images/Winfried Rothermel)
Die Nacht vom 18. auf den 19. April 1945 ist mondlos und schwarz. Im Schutz der Dunkelheit huschen zwei Gestalten durch die Straßen der Hauptstadt des „Dritten Reichs“. Vor einem Briefkasten bleibt die Frau stehen:
„N-E-I-N male ich mit zusammengebissenen Zähnen hastig auf den breiten Einwurfschlitz.“ Vier Buchstaben pinselt auch der Mann auf Mauern und Schaufenster.
„Nein – Nein – Nein. Wir malen und schreiben mit gesammelter Inbrunst. Auf Bordschwellen und Telegraphenmaste, auf Gartentore und Litfaßsäulen.“

Die Aktionen von "Onkel Emil"

Am nächsten Morgen im längst weitgehend zerbombten Berlin: überall der weiß- und rotleuchtender Protest. Die Journalistin und Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich hat die lebensgefährliche Aktion mit einem Dutzend Gleichgesinnter organisiert. Zwei Tage später klebt die Gruppe – Deckname "Onkel Emil" - mit selbstgerührtem Mehlkleister Flugblätter an Häuserwände und Laternenmasten:
„Berliner! Ihr kennt den Befehl des Wahnsinnigen Hitler und seines Bluthunds Himmler, jede Stadt bis zum äußersten zu verteidigen. Schreibt überall euer Nein an! Bildet Widerstandszellen in Kasernen, Betrieben, Schutzräumen!“

Die Tagebücher - "Der Schattenmann"

Ruth Andreas-Friedrich beschreibt die nächtliche Operation in ihrem Tagebuch, das sie von 1938 bis zwei Jahre nach Kriegsende führt. Unter dem Titel "Der Schattenmann" veröffentlicht Peter Suhrkamp große Teile daraus im Juli 1947. Danach gerät das Buch lange in Vergessenheit. In Wirtschaftswunderzeiten interessiert sich kaum einer für die kühnen Taten von Nazigegnern, die zeigen: wer wissen wollte, der wusste. Wer Unrecht und Terror etwas entgegensetzen wollte, der konnte.


Ruth Andreas-Friedrich, geboren 1901, ist der Fixpunkt der etwa zwölfköpfigen Widerstandsgruppe. In ihren Notizen benutzt sie eine Geheimschrift und keine Klarnamen, um die Freunde zu schützen: Andrik Krassnow nennt sie ihren Lebensgefährten, den russischstämmigen Dirigenten Leo Borchard, Heike, das ist ihre Tochter Karin Friedrich, nach dem Krieg eine bekannte Redakteurin der „Süddeutschen Zeitung“. Hinter Doktor Tegel verbirgt sich der Gefängnispfarrer Harald Poelchau, über den die Gruppe Zugang zu zahlreichen Häftlingen bekommt, unter anderem Helmuth James Graf von Moltke.

Blankes Entsetzen angesichts zunehmender Gräuel

Anders als Moltkes Kreisauer Kreis entwickelt die „Clique“, wie Andreas-Friedrich sie nennt, keine politischen Konzepte. Was sie eint: Fassungslosigkeit angesichts der Verrohung ihrer Mitmenschen, etwa in der Nacht des Pogroms 1938, als man beobachten kann, wie junge Burschen mit der Präzision von kalten Maschinen Schaufensterscheiben zertrümmern.
„Keiner gönnt den Umstehenden einen Blick. Weder Hass ist in ihnen noch Empörung. Weder Aufruhr noch Zorn. Sie führen nicht an, sie führen nur aus. Und ihre ganze Leidenschaft ist darauf gerichtet, untadelige Ausführer zu sein. Meister im Handwerk gläserner Zerstörung.“

Das blanke Entsetzen der Freunde weicht in Anbetracht zunehmender Gräuel einem so pragmatischen, wie zutiefst humanistisch geprägten Impuls, einfach nur zu helfen, so vielen wie möglich. Entrechtete und Verfolgte, vor allem Juden, werden reihum versteckt, Lebensmittelkarten für die „U-Boote“ genannten Untergetauchten gestohlen, Papiere gefälscht für die Flucht. Sehr früh schon hat Ruth Andreas-Friedrich geahnt:
„Die geistige Katastrophe ist viel schlimmer, als die materielle es jemals werden kann. Was man in vielen Jahren an Unfug, Geschichtsverfälschung, Wahrheitsverdrehung und Kunstverleumdung in die Köpfe gehämmert hat, das wird sich aus diesen Köpfen so leicht nicht wieder herausmeißeln lassen.“
Drei Jahre nach Kriegsende geht Ruth Andreas-Friedrich nach München und lebt dort als Schriftstellerin. Besonders tragisch der Tod ihres Freundes Leo Borchardt, alias Andrik. Zwei Monate nachdem er zum Leiter der Berliner Philharmoniker ernannt worden ist, erschießt ihn irrtümlich im August 1945 ein Wachposten der Alliierten.
„Andrik Krassnow ist tot.“ - Mit diesen Worten endet „Der Schattenmann“, das Kriegstagebuch Ruth Andreas-Friedrichs. „Er war sechsundvierzig Jahre alt, als er das Leben verlassen musste. Und er lebte gern.“