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Vor 80 Jahren
Als Anne Frank ihr Tagebuch begann

Ein Leben in einem Amsterdamer Hinterhof, versteckt vor den Nazis in ständiger Angst und bedrückender Enge, aber auch mit typischen Teenagerkonflikten. Die Aufzeichnungen der Anne Frank von 1942 bis 1944 zählen heute zu den meistgelesenen Büchern der Welt.

Von Andrea Westhoff | 14.06.2022
Handschriftliche Originalseite aus dem Tagebuch der Anne Frank, ausgestell im Deutschen Historischen Museum in Berlin
Handschriftliche Originalseite aus dem Tagebuch der Anne Frank (imago/Kai Horstmann)
„Wenn Gott mich am Leben lässt, werde ich … nicht unbedeutend bleiben, ich werde in der Welt und für die Menschen arbeiten.“: Das schrieb Anne Frank am 11. April 1944 in ihr Tagebuch. Knapp ein Jahr später starb sie mit nur 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen. Aber ihre Schilderungen aus dem Leben in einem Hinterhaus-Versteck in Amsterdam haben viele Millionen Menschen berührt und wurden 2009 ins UNESCO Weltdokumentenerbe aufgenommen.

„Sonntag, 14. Juni 1942 – Ich werde mit dem Augenblick beginnen, als ich dich bekommen habe …“, notiert Anne Frank in das kleine, rot-weiß-karierte Büchlein – ein Geschenk zu ihrem 13. Geburtstag, zwei Tage zuvor. Ausführlich beschreibt sie die Feier, beklagt, dass sie keine Freundin hat: „Ich will dieses Tagebuch die Freundin selbst sein lassen.“

Frank-Übersetzerin Pressler: "Im Grunde ein Pubertätsbuch"

In Form von Briefen an „Kitty“ erzählt sie von ihren Konflikten mit den Erwachsenen und anderen Teenagernöten – ein Grund für die anhaltende weltweite Resonanz bei Jugendlichen, so Mirjam Pressler, die Kinderbuchautorin und Übersetzerin der Anne Frank-Texte 2018:
„Das liegt wirklich daran, dass ‚Anne Frank‘ im Grunde ein Pubertätsbuch ist, das die Entwicklung eines Mädchens zeigt in einer Offenheit und Ehrlichkeit, wie wir sie selten haben. Und das, glaub ich, merken die Jugendlichen.“

Zwei Jahre lang auf engstem, verdunkeltem Raum

Aber natürlich war Anne Franks Tagebuch immer mehr als ein Blick in die jugendliche Gefühlswelt. Die jüdische Kaufmannsfamilie Frank war bereits 1933 aus Frankfurt am Main nach Amsterdam geflohen, wo sie ab Mai 1940 wieder von den nationalsozialistischen „Judengesetzen“ eingeholt wurde.
Als Annes ältere Schwester Margot zum „Arbeitsdienst“ abgeholt werden soll, verstecken sich die Franks am 9. Juli 1942 zusammen mit einer befreundeten Familie im Hinterhaus der väterlichen Firma an der Prinsengracht 263. Insgesamt acht Menschen leben hier zwei Jahre lang auf engstem, verdunkeltem Raum, ständig in Angst, gesehen oder gehört zu werden. Anne Frank notiert mit erschreckender Klarheit:
„Freitag, 9. Oktober 1942 - Unsere jüdischen Bekannten werden gleich gruppenweise festgenommen. Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen.“

"Ich habe ein Gefühl wie ein Singvogel in vollkommener Dunkelheit"

Aber Anne berichtet auch vom Alltag in dieser Extremsituation: von kleinen Freuden und vielen Streitereien untereinander, von ihrer ersten Verliebtheit und der zunehmenden Verzweiflung: „Ich habe ein Gefühl wie ein Singvogel - der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe seines engen Käfigs fliegt.“ - Das Tagebuchschreiben ist für Anne Frank Überlebenshilfe – aber auch Aufgabe:
„29. März 1944 - Gestern Abend sprach Minister Bolkestein im Sender Oranje darüber, dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde.“
Anne Frank auf einer schwarz-weiß-Aufnahme aus dem Jahr 1944
Anne Frank (1944) (imago images / United Archives)

Die Gestapo ließ das Manuskript achtlos liegen

Sie fängt an, ihre Aufzeichnungen zu überarbeiten und setzt zugleich das „normale“ Tagebuchschreiben fort – bis zum 1. August 1944. Drei Tage später werden die acht Versteckten verraten, verhaftet und nach Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Der Vater Otto Frank überlebt als einziger. Bei seiner Rückkehr nach Amsterdam übergibt ihm seine ehemalige Mitarbeiterin Miep Gies, was die Gestapo bei der Verwüstung des Verstecks achtlos hatte liegen lassen: Annes Original-Tagebuch, die unvollendete Romanfassung und viele Hundert Seiten weitere Texte.
Otto Frank veröffentlicht 1947 in den Niederlanden, 1950 in Deutschland eine Auswahl unter dem Titel „Het Achterhuis“ – „Das Hinterhaus“. In den 1980er Jahren erscheint die vollständige Ausgabe im S.Fischer Verlag in Frankfurt. Für Alexander Roesler, Sachbuch-Programmleiter dort, ist klar, warum das „Anne Frank Tagebuch“ heute noch zu den meistgelesenen Büchern der Welt zählt:
„Abgesehen von dieser zeitgeschichtlichen Frage, ist da etwas Menschliches eingefangen worden und meisterhaft ausgedrückt worden, was absolut überzeugend ist und zu den Menschen spricht und auch weiterhin zu ihnen sprechen wird.“ Etwa wenn Anne Frank im Februar 1944 schreibt: „Ich sehne mich so nach Gesprächen, nach Freunden, nach Freiheit, nach Alleinsein. Ich sehne mich so nach Weinen.“