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Ausnahmezustand in der Türkei
Kritik des Europarats

Nach den Terroranschlägen in Istanbul hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einen Rachefeldzug angekündigt. Damit wachsen die Sorgen im Ausland vor einer weiteren Eskalation der Lage in der Türkei. Schon im Vorfeld der Anschläge kritisierten Experten des Europarats die Anti-Terror-Politik der türkischen Führung.

Von Tonia Koch |
    Die Venedig-Kommission hatte am Wochenende Vertreter des türkischen Justizministeriums geladen, um über die Folgen des Ausnahmezustandes zu sprechen. Die türkische Regierung habe nach dem Putschversuch gute Gründe gehabt, den Ausnahmezustand zu verhängen und gegen die Putschisten vorzugehen, aber sie sei bei der Wahl ihrer Mittel über das Ziel hinausgeschossen, sagt der Vorsitzende der Kommission, Thomas Markert:
    "Das heißt, dass es sicher notwendig war, innerhalb der Armee und der Gendarmerie Leute zu suspendieren, aber es war nicht notwendig, so viele Beamte sofort zu entlasten."
    Es halte auch keinen rechtsstaatlichen Grundsätzen stand, dass pauschal abgeurteilt werde, dass der Einzelne nicht wisse, warum er festgenommen worden sei und was ihm konkret zur Last gelegt werde.
    "Es sind sehr viele Beamte entlassen worden aufgrund von Namenslisten, die an diese Dekrete anhängt waren. Aber diese Listen enthalten keine Anhaltspunkte warum gerade diese Person sich irgendwelcher Beteiligung am Staatsstreich oder anderer Vergehen schuldig gemacht hat."
    Ausnahmezustand wurde instrumentalisiert
    Willkür sei im Spiel gewesen bei dieser Form der Säuberung des Staatsapparates. Selbst wenn davon ausgegangen werde könne, dass etwa Mitglieder der Gülen-Bewegung am Putsch mitgewirkt hätten, so sei es nicht hinnehmbar, dass jedem Sympathisanten der Bewegung eine Beteiligung unterstellt werde. Auch gegenüber anderen Gruppen sei der Ausnahmezustand instrumentalisiert worden, so Markert:
    "Die Dekrete sind dazu genutzt worden, um sehr stark gegen angebliche Anhänger der PKK und andere kurdische Bewegungen vorzugehen."
    Noch im August hatte der Generalsekretär des Europarates Torbjørn Jagland Verständnis dafür geäußert, dass in dieser für ein Land einmaligen Situation eines Putsches, die Emotionen hochkochen und es zu Überreaktionen kommen könne, dass dies aber nicht von Dauer sein dürfe:
    "Es ist wichtig, dass die Unschuldsvermutung für alle gilt und dass die juristische Aufarbeitung in Einklang mit europäischen Standards geschieht."
    Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu versprach seinerzeit, dass die Türkei ihren Verpflichtungen nachkommen werde:
    "Jeder wird der Justiz überantwortet, wir werden ein transparentes Verfahren einleiten und die europäische Menschenrechtskonvention ist Richtschnur unseres Handelns."
    Rote Linie Todesstrafe?
    Die Venedig-Kommission ist nun zu einer anderen Auffassung gelangt. Die Maßnahmen im Rahmen des Ausnahmezustandes seien eben nicht verfassungskonform. Die Türkei bestreite dies nach wie vor, so Markert, wolle jedoch den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Bereits in dieser Woche soll es in Straßburg weitere Konsultationen geben. Nach dem Willen des Europarates soll eine unabhängige Kommission eingesetzt werden, die sämtliche Entlassungen im öffentlichen Dienst aufarbeitet:
    "Die Hauptaufgabe wird jetzt sein, mit der türkischen Seite zu diskutieren, ob sie bereit ist, eine derartige unabhängige Kommission einzusetzen, deren Entscheidungen dann durch die Verwaltungsgerichte überprüft werden könnten."
    Zur Verstimmung zwischen beiden Seiten führen auch immer wieder Ankündigungen, die Türkei werde die Todesstrafe wieder einführen. Für den Europarat wäre das wohl eine rote Linie. Zwar ist auch Russland Mitglied des Europarats, obwohl es die Todesstrafe nach wie vor nicht abgeschafft hat. Allerdings gilt dort ein Moratorium, das heißt, sie wird nicht vollstreckt. Aber es dürfte der Türkei wohl schwer fallen, sich auf eine solche Position zurück zu ziehen, sollte das Parlament tatsächlich die Einführung der Todesstrafe beschließen. Thomas Markert:
    "Wenn man wirklich zu dem Schluss käme, dass sie zwar eingeführt, aber nicht vollstreckt würde, könnte man sicherlich eher mildere Sanktionen in Erwägung ziehen. Aber andererseits, wenn sie wirklich jetzt neu eingeführt wird, scheint es recht unwahrscheinlich, dass man die Todesstrafe einführt, um sie dann nicht zu vollstrecken."
    Anders als Russland hat die Türkei auch die Protokolle 6 und 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet, das heißt, sie hat sich auf internationaler Ebene bereits gegen die Todesstrafe ausgesprochen.