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Vertrauen im Journalismus
Im Post-Relotius-Zeitalter

Seit bekannt wurde, dass der "Spiegel"-Reporter Claas Relotius dutzende Beiträge mindestens teilweise erfunden hat, steht die Glaubwürdigkeit des journalistischen Genres „Reportage“ infrage. Beim Reporterforum in Hamburg diskutierten Hunderte Journalisten über Konsequenzen für ihre Arbeit.

Von Daniel Bouhs | 15.04.2019
Titel des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel": "Sagen, was ist" auf der Ausgabe Nr. 52, vom 22.12.2018 - in Bezugnahme auf den Wahlspruch des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein: "Sagen, was ist".
Im Dezember 2018 machte "Der Spiegel“ den Betrugsfall des Reporters Claas Relotius zur Titelgeschichte (dpa / picture alliance / Winfried Rothermel)
Nein, persönlich war Claas Relotius nicht dabei als Hunderte Reporter über die Folgen seiner Fehltritte und Fälschungen diskutieren. Er oder vielmehr das Schlagwort "Relotius" spielten dennoch eine Rolle.
"Das ist eigentlich die ganze Zeit präsent", sagt Eva Marie Stegmann. Die Journalistenschülerin hat sich auf das Genre "Reportage" spezialisiert.
"Ich muss sagen, ich hatte Angst, dass es so eine Veranstaltung wird, die – ja – eine gewisse Hoffnungslosigkeit, Resignation und so weiter transportiert. Aber im Gegenteil!"
Aus dem Fall Relotius lernen
Das Reporterforum hatte Relotius gleich mehrfach mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. Nun ging es darum, zu klären: Wie können Journalisten es besser machen als Relotius – und wie können sich Redaktionen vor kleinen und großen Fälschern schützen?
"Ich erlebe das als ein Vortasten, als einen Versuch, sich zu orientieren: Was ist zulässig, was sind die Grenzen der Zulässigkeit, ab wann bewegen wir uns künftig in Bereichen, wo wir als Reporter das so nicht mehr schreiben sollten?", erklärt Andreas Wolfers.
Der Leiter der Henri-Nannen-Schule hat einen der 36 Workshops geleitet: "Liebeserklärung an die Reportage". Diskutiert haben die Reporter etwa die Beschreibung eines irischen Briefträgers im Magazin der "Süddeutschen Zeitung": "O'Brien ist ein guter Briefträger. Keiner, der neugierig Postkarten liest. Einer, dem die Menschen von sich aus erzählen, was drinsteht. Dem sie verraten, wo sie einen Schlüssel versteckt haben, falls sie mal nicht zu Hause sind."
Auf dem Reporterforum war man sich einig: Früher hätten Redaktionen so eine Formulierung dankbar angenommen nach dem Motto: Was für ein schöner Text! Der Zeitgeist nun aber sei, alles zu hinterfragen: An wie vielen Haustüren war der Reporter eigentlich dabei – oder hat ihm das vielleicht nur der Briefträger selbst erklärt, um sich zu schmücken?
Nannen-Schulen-Leiter Wolfers sagt: Im Post-Relotius-Zeitalter gehe es darum, dem Publikum zu erklären, wie Reportagen zustande kommen.
"Also da gibt es eine Zäsur. Und die gibt es auch bei anderen Aspekten einer Reportage, zum Beispiel der Quellentransparenz oder beim Umgang mit rekonstruierten Szenen."
Das Schimpfwort "Relotius"
Welche Lehren der "Spiegel" aus seiner eigenen Affäre zieht, blieb geheim: Man wolle dem anstehenden Abschlussbericht nicht vorgreifen, erklärte Spiegel-Blattmacher Clemens Höges auf der Veranstaltung.
Da Relotius sein journalistisches Unwesen aber auch in anderen Redaktionen treiben konnte, trifft sein Fall ohnehin die ganze Branche. Holger Stark – früher selbst "Spiegel"-Reporter, nun Investigativchef der "Zeit" – berichtet zudem: Das Schimpfwort "Relotius" sei omnipräsent.
"Umso wichtiger ist es, dass wir offenlegen, wie wir zu bestimmten Ergebnissen gekommen sind, woher unsere Schlussfolgerungen stammen und sie damit gewissermaßen unangreifbar machen."
Vertrauen zum Misstrauen?
Allerdings sorgte sich so mancher Reporter um die Lesbarkeit seiner Texte. Reportagen sollten nicht zu "Fußnotenapparaten" verkommen. Und auch interne Transparenz stoße an Grenzen, etwa der Wunsch einiger Redaktionen an Reporter, Selfies mit den Gesprächspartnern und deren Telefonnummern mitzubringen. Außerdem könne die Stimmung kippen – vom Vertrauen zum Misstrauen.
Holger Stark hält dagegen: "Das ist kein Misstrauen, sondern das ist aus meiner Sicht ein gutes, produktives Zusammenspiel zwischen dem Reporter, der Reporterin, der oder die draußen ist, und dem verantwortlichen Redakteur, der dann letztlich auch presserechtlich verantwortlich ist."
Journalistische Kontrollen ohne ständige Faktenchecks?
In einigen Häusern sind sogar Zufallsgeneratoren im Gespräch, die Texte für Faktenchecker auswählen. Die Idee dahinter: So wie Fahrkartenkontrolleure Schwarzfahrer suchen, könnten journalistische Kontrollen Reporter abschrecken, die es nicht so genau nehmen wollten – auch in kleineren Redaktionen ohne ständige Faktenchecks.
Stephan Lebert, Reporter bei "Die Zeit", spricht beim Reporter Workshop des Spiegel Verlags am 12.04.2019 zum Thema "Betrug an der Redaktion - wie damit umgehen?" auf dem Podium. 
Beim "Reporter-Workshop '19" im "Spiegel"-Gebäude in Hamburg diskutierten Journalisten über den status quo der Reportage (dpa / picture alliance / Axel Heimken)
Journalistenschülerin Eva Marie Stegmann findet all das gut, wenn es dazu beiträgt, ihrem Lieblingsgenre wieder zu mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen.
"Ich habe den Eindruck, dass wirklich jeder mit sich selbst auch härter ins Gericht geht als vorher. Es ist auch dieses Gefühl von diesem Trotz: Nein, wir sind nicht alle Relotius und wir lassen uns jetzt auch nicht die Dinge, die gut funktioniert haben, quasi madig machen."