Vieles, was vor der Pandemie in einer liberalen Gesellschaft selbstverständlich möglich war, ist aktuell durch die Corona-Maßnahmen unmöglich. Einzelhandel, Restaurants, Museen, Theater und Sportvereine sind geschlossen. Planmäßig endet der Lockdown am 10. Januar, doch vieles deutet auf eine Verlängerung der Maßnahmen hin. Von einer Zumutung für die Demokratie hatte Angela Merkel gesprochen. Was diese Zumutung für den Rechtsstaat heißt, darüber haben wir mit Nora Markard gesprochen Sie ist Professorin für Verfassungsrecht in Münster und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Freiheitsrechte.
Sandra Schulz: Wie geht es den Grundrechten in der Pandemie Frau Markard?
Nora Markard: Ja, das ist, glaube ich, so einerseits-andererseits. Ich würde sagen, unterm Strich war das letzte Jahr eher ein gutes Jahr für die Grundrechte. Wir haben am Anfang wirklich große Sorgen natürlich gehabt, es gab ja ziemlich scharfe Einschnitte, gerade das Totalverbot für Versammlungen oder auch weitreichende Einschnitte wie, dass man noch nicht mal auf einer Parkbank sitzen darf.
Aber wir haben relativ schnell gesehen, dass die Gerichte reagiert haben, dass der Rechtsstaat quasi funktioniert hat, und dass dann auch die Politik zunehmend eingelenkt hat. Ich denke, insofern geht es den Grundrechten auch ganz gut, als wir sehr viel über sie diskutiert haben. Das machen natürlich einerseits die Querdenken-Minderheitsangehörigen, die versuchen zu argumentieren, Grundrechte heißt, dass jede Beschränkung der individuellen Freiheit schon eine Verletzung ist, aber ich glaube, die Mehrheit hat gerade in dem Prozess der letzten Monate wirklich verstanden, dass es um eine Abwägung geht mit dem Gemeinwohl und der Rechte anderer, also um eine Verhältnismäßigkeitsbetrachtung, die Frage, ob es mildere Mittel gibt.
Schulz: Ja, müssen Sie aber, glaube ich, trotzdem noch ein bisschen genauer erklären. Es sind Einschränkungen im Frühjahr da gewesen, auch jetzt wieder, von denen man guten Gewissens ja sagen kann, dass es die zumindest in der Geschichte der Bundesrepublik so noch nicht gegeben hat. Ihre Bilanz, die so positiv ausfällt, die erklären Sie dann auch den Menschen – wir wissen, es ist eine Minderheit, aber auch eine laute Minderheit, die von einer Corona-Diktatur spricht –, die erklären Sie wie?
Markard: Es sind ja Maßnahmen, die erst mal aus einer Schutzpflicht des Staates resultieren. Es ist klar, dass der Eigenverantwortung das nicht komplett überlassen werden kann. Das haben wir ja auch gesehen, als die Maßnahmen noch relativ schwach ausgefallen sind, dass die Verbreitung des Virus dann so stark wird, dass die Gesundheitssysteme rasch überlastet sind und es dann eben zu einer Situation kommt, wo Einzelne nicht mehr versorgt werden können. Gerade am Anfang von so einer Situation ist es ja auch so – wir wussten ja anfangs noch nicht sehr viel über das Virus –, dass damit natürlich auch der Einschätzungsspielraum der Politik einfach größer ist und die rechtlichen Vorgaben nicht so eng. Je mehr wir wissen, desto klarer sind die Vorgaben dann eben auch an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.
"Ein gutes Jahr für die Wissenschaftskommunikation"
Schulz: Sie haben es gerade gesagt, diese Abwägung Grundrecht gegen Grundrecht, die sind Ihr täglich Brot oder das täglich Brot von Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtlern, das sehen Sie dann sozusagen als eine der wenigen positiven Konsequenzen, dass das Land jetzt durch so eine Art Crashkurs Verfassungsrecht geht vielleicht noch mal parallel zu diesem Crashkurs Virologie, der ja auch parallel läuft.
Markard: Es war auf jeden Fall, sag ich mal, ein gutes Jahr für die Wissenschaftskommunikation sicherlich, sowohl in der Virologie als auch sicher im Verfassungsrecht. Klar, das ist jetzt kein eindeutig positives Urteil. Ich meine, wir haben auch viel darüber diskutiert, dass die breit angewendeten Maßnahmen auch Menschen sehr unterschiedlich treffen, also das Stichwort Lockdown und Betroffene von häuslicher Gewalt, das hat eben sehr stark gezeigt, dass man da wirklich differenziert auch drüber nachdenken muss. Diese Klein-Klein-Verhältnismäßigkeitsbetrachtung hat auch dazu geführt, dass man ständig nachsteuern muss, jede Woche wieder gucken, wie ist denn die Situation. Wir haben bei der Föderalismussituation in Deutschland außerdem noch 16 Länder, die unterschiedlich regeln. Dass es da kein Gesamtkonzept gibt, dass es da ständig Nachbesserungen gibt, das ist natürlich für die Akzeptanz auch gleichzeitig wieder problematisch. Sicherlich müsste hier jetzt auch mal bei den Lessons learned, also was nehmen wir mit von dieser Situation, unbedingt eine Nachbesserung bei der Rechtsgrundlage geschaffen werden.
Schulz: Diese Abwägungen, die Sie gerade angesprochen haben, die treffen jetzt ja aktuell zusammen in der Diskussion, die jetzt stärker in den Fokus rückt, die Diskussion um Impfungen. Wenn Geschäfte und Restaurants irgendwann wieder öffnen, weil die Inzidenzzahlen besser sind, wenn bis dahin ein paar mehr Leute geimpft sind und wenn wir bis dahin auch wissen sollten, dass die Impfungen wirklich vor Ansteckungen schützen, würden Sie mir als Restaurantbetreiberin dann dazu raten, meinen Betrieb zu öffnen für Leute, die geimpft sind?
Markard: Was ich Ihnen raten würde, weiß ich da nicht, aber jedenfalls müssen wir wohl davon ausgehen, dass eine Differenzierung beim Zugang zu solchen Restaurants nicht an sich völlig rechtswidrig wäre. Das wird ja jetzt gerade unter dem Stichwort des Privilegs diskutiert, ob es ein Privileg ist, in ein Restaurant gehen zu dürfen, und ob man da nicht solidarisch sein müsste. Diese Diskussion führt natürlich dazu, für die Grundrechte der Restaurantbetreiber*innen, dass die dann die ganze Zeit zu bleiben sollen, bis auch der Letzte, der will, geimpft worden ist. Diese Grundrechte müssen wir natürlich auch einbeziehen. Wenn wir davon ausgehen, dass von Geimpften keine Gefahr mehr ausgeht, dann spricht eigentlich auch nichts dagegen, sie in solche Betriebe wieder reinzulassen, und im Gegenteil spricht viel dafür, dass es rechtswidrig wäre, ihnen das weiterhin zu verbieten.
Schnelltests gegen vermeintlichen indirekten Impfzwang
Schulz: Ja, aber jetzt im Moment läuft die Diskussion ja eher in genau die entgegengesetzte Richtung. Innenminister Seehofer sagt, es dürfe keinen Impfzwang geben, keine, Zitat, "Sonderbehandlung für Geimpfte".
Markard: Ob man da das Wort Sonderbehandlung benutzen sollte, da kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Das ist ja ein Begriff, der aus dem Nationalsozialismus für Euthanasie bekannt ist, also eine etwas ungeschickte Wortwahl sicherlich. Aber dass es eine unterschiedliche Behandlung gibt, je nachdem, ob Menschen für andere gefährlich sind oder nicht, das ist ja erst mal eine völlig sinnvolle und auch verhältnismäßige Überlegung.
Die Frage ist aber gleichzeitig dieser indirekte Impfzwang, der da angesprochen wird. Wenn ich zum Beispiel als geimpfte Person irgendwo rein darf und als nicht geimpfte nicht, dann ist ja immer noch mal die Frage, gibt es nicht eigentlich mildere Mittel wiederum, zum Beispiel, kann ich nicht einfach ein Schnelltestergebnis vom, weiß ich nicht, selben Tag am besten vorzeigen und sagen, hier, seht ihr, jedenfalls jetzt gerade bin ich auch nicht infektiös. Damit wäre ja der indirekte Impfzwang, der vermeintliche, schon bereits gelöst, oder auch zum Beispiel, wenn die Person die Krankheit schon durchgestanden hat und so weiter. Da ist sicherlich einiges möglich.
Klar ist, nur weil es Private sind, sind die nicht völlig frei von grundrechtlichen Bindungen. Wir haben vom Bundesverfassungsgericht gelernt, dass zum Beispiel, wenn ein bundesweites Stadionverbot ausgesprochen wird, dass dann zumindest sozusagen ein Willkürverbot herrscht, also dass die Privaten diese Monopolstellung haben oder diese Massenveranstaltung abhalten, wo es auf die individuelle Person gar nicht ankommt, dass die jetzt also nicht völlig willkürlich Personen ausschließen können. Also müssen die auch dann sich fragen lassen, ob es nicht zum Beispiel mildere Mittel gibt.
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