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Vor 50 Jahren
Der Mord am palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani

Ghassan Kanafani gilt als einer der wichtigsten arabischen Schriftsteller. Zugleich war er Sprecher der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Am 8. Juli 1972, wurde er durch eine Autobombe in Beirut getötet. Der Anschlag ist bis heute ungeklärt.

Von Anne Françoise Weber | 08.07.2022
Ein palästinensischer Flüchtling steht neben einem Graffito, das den palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani zeigt mit der Aufschrift, "Ich werde nicht aufgeben, bevor ich mein Paradies auf Erden errichtet habe"
Ein palästinensischer Flüchtling steht neben einem Graffito, das den palästinensischen Schriftsteller Ghassan Kanafani zeigt mit der Aufschrift ,"Ich werde nicht aufgeben, bevor ich mein Paradies auf Erden errichtet habe" (picture alliance / AP Photo)
„Lamis fanden wir in der Nähe des Autos – sie sah aus, als ob sie schliefe.“ Im Gespräch mit dem Filmemacher Jon Webb erinnert sich die Dänin Anni Kanafani an den 8. Juli 1972 in Beirut. Ihr Ehemann Ghassan Kanafani und seine 17-jährige Nichte Lamis waren nach einem Familienfrühstück gemeinsam aufgebrochen - kurz danach explodierte eine Bombe in Kanafanis Auto: „Die Explosion war so stark, dass Ghassan herausgeschleudert wurde. Sie fanden ihn unten im Tal – nah an unserem Haus, das auf einem kleinen Berg stand.“
Der 36-jährige Kanafani war zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der von ihm gegründeten Wochenzeitung „al-Hadaf“, „das Ziel“. Sie war das Organ der Volksfront zur Befreiung Palästinas PFLP. Für diese marxistisch-leninistische Organisation übernahm Kanafani auch die Rolle des Sprechers.

Gegen Friedensverhandlungen mit Israel

In einem Interview mit dem australischen Fernsehen verteidigte er 1970 die Entführung von vier Flugzeugen durch seine Bewegung und sprach sich gegen Friedensverhandlungen mit Israel aus. Auf die Bemerkung des Journalisten Richard Carleton, es sei besser für die Palästinenser, im Elend zu leben als tot zu sein, antwortete er: „Vielleicht für Sie, aber nicht für uns. Unser Land zu befreien, Würde und Respekt zu erfahren und grundlegende Menschenrechte zu haben, ist für uns so wesentlich wie das Leben selbst.“

Vergeltungsschlag des israelischen Geheimdienstes ?

Kanafani wurde 1936 in Akko im Norden des britischen Mandatsgebiets Palästina als Sohn eines Anwalts geboren. Bei der Staatsgründung Israels 1948 floh er mit seinen Eltern und Geschwistern über den Libanon nach Damaskus. An der dortigen Universität studierte er arabische Literatur und schloss sich einer panarabischen Gruppierung an. Nach einigen Jahren als Kunstlehrer in Kuwait kam er als Redakteur eines politischen Magazins nach Beirut – dort war er 1967 beim Aufbau der PFLP dabei.
Wer fünf Jahre später den Anschlag auf Kanafani verübte, ist bislang nicht offiziell geklärt – es gibt jedoch Hinweise auf den israelischen Geheimdienst. Auf palästinensischer Seite gilt der Mord als Vergeltungsschlag für ein Massaker mit 26 Toten am israelischen Flughafen von Lod, zu dem sich die PFLP bekannt hatte.

Novelle „Rückkehr nach Haifa“

Der irakisch-deutsche Schriftsteller Najem Wali trennt zwischen den politischen Aktivitäten Kanafanis und seinen Novellen und Kurzgeschichten, die für viele bis heute zu den besten der modernen arabischen Literatur zählen. Zentrale Themen darin: Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die korrupten arabischen Regime und der bewaffnete Kampf gegen Israel.
Für Wali geht es in Kanafanis Geschichten allerdings um mehr: „Literarisch hat er interessante Themen ausgesucht, starke Themen, existentialistische Themen, die uns als Menschen interessieren über diese nationalen Gebiete hinaus.“
In seiner 1969 erschienenen Novelle „Rückkehr nach Haifa“ greift Kanafani das biblische Thema zweier um ein Kind streitenden Mütter auf. Er schildert die Rückkehr eines palästinensischen Paares in ihr Haus in Haifa, von wo sie 1948 geflohen waren. Ihren Sohn im Säuglingsalter haben sie in den Wirren zurückgelassen. Das Haus ist mittlerweile von polnischen Holocaust-Überlebenden bewohnt, die auch das Kind adoptiert haben.
„In Wirklichkeit wusste Efrat eigentlich gar nichts über Palästina. (…) Selbstverständlich hatte er nicht ganz geglaubt, dass jenes Land völlige Wüste sei, die von der Jewish Agency nach zweitausend Jahren wiederentdeckt wurde. Aber es war nicht das, was ihn damals am meisten beschäftigte.“

Novelle „Männer in der Sonne“

Die Geschichte wurde unter anderem in Israel fürs Theater adaptiert. Von starken Figuren und biblischen Anspielungen lebt auch ein weiteres bekanntes Werk Kanafanis, die Novelle „Männer in der Sonne“. Darin beschreibt er, wie drei Palästinenser versuchen, in einem Wassertanklastwagen versteckt die Grenze nach Kuwait zu überqueren. Weil ihr Fahrer am Grenzübergang aufgehalten wird, verenden sie kläglich im Wassertank. Die Novelle endet mit der Frage des Schleppers: „Warum habt ihr eigentlich nicht an die Tankwand geklopft? Warum nicht gerufen? Warum?“
Diese Anklage palästinensischer Tatenlosigkeit ist für Hartmut Fähndrich, der die Werke ins Deutsche übersetzt hat, exemplarisch für Kanafani: „Er hat das menschliche und das politische Leben auf eine Ebene der Metapher gestellt.“
Kanafanis Ziel war es, mit seinen Werken möglichst breite Bevölkerungsschichten zu erreichen – sein Portrait findet sich bis heute als Graffiti an den Mauern vieler palästinensischer Flüchtlingslager.