Sonntag, 28. April 2024

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"Gretchens" Hinrichtung vor 250 Jahren
"Wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt"

Susanna Margaretha Brandt hat Goethe zur Figur des Gretchen im „Faust“ angeregt. Ihre reale Geschichte hat wenig gemein mit dem Melodrama, aber sie ist typisch für die zahlreichen Kindsmord-Prozesse des 18. Jahrhunderts. Vor 250 Jahren wurde sie in Frankfurt hingerichtet.

Von Ulrike Rückert | 14.01.2022
Szene aus Friedrich Wilhelm Murnaus "Faust"-Verfilmung von 1926
Camilla Horn als Gretchen in Friedrich Wilhelm Murnaus "Faust"-Verfilmung von 1926 (picture alliance / akg-images)
Margarete: „Geschwind!
Rette dein armes Kind.
Fort! Immer den Weg
Am Bach hinauf,
Über den Steg,
In den Wald hinein,
Links, wo die Planke steht,
Im Teich.
Faß es nur gleich!
Es will sich heben,
Es zappelt noch!
Rette! rette!“
Faust: „Besinne dich doch!
Goethes "Faust", Szene im Kerker. Von dem Verführer Faust verlassen, hat Gretchen ihr Kind ertränkt und will nun im Wahn die Tat ungeschehen machen. Zu der Figur inspiriert hatte Goethe ein Kriminalfall in Frankfurt: Susanna Margaretha Brandt, 24 Jahre alt und Magd in einem Gasthaus, hatte kurz vor Weihnachten 1770 mit einem durchreisenden Logiergast die Nacht verbracht. Um Ostern herum begannen die Leute zu reden. Ihre Schwestern und ihre Dienstherrin bedrängten sie mit Fragen.
"Sie hätte aber nichts sagen können, und wäre ihr nicht anders gewesen, als wann ihr das Maul zugebunden wäre.“

Kirche und Obrigkeit drohten mit "Hurenstrafe"

So heißt es im Verhörprotokoll. Von den Frauen, die im 18. Jahrhundert wegen Kindsmordes angeklagt wurden, waren die meisten Dienstmägde wie Susanna Brandt. Wenn ihre Schwangerschaft offenkundig wurde, verloren sie ihre Stelle und damit auch ihr Obdach. Überdies drohte ihnen eine - wie man sagte - "Hurenstrafe" von Kirche oder weltlicher Obrigkeit: sie würden am Pranger oder im Büßerhemd vor der Kirchentür stehen müssen. So stigmatisiert, konnten sie kaum noch Arbeit oder einen Ehemann finden.
"Es hätte ja nichts zu sagen, sie wäre nicht die erste, und würde auch nicht die letzte sein."

Geburt in der Waschküche

Das sagten Susanna Brandts Schwestern ihr immer wieder, aber sie stritt vehement ab, schwanger zu sein. Nichtsdestotrotz kündigte ihr die Wirtin Anfang August. Am selben Tag setzten die Wehen ein, einige Wochen zu früh. Sie brachte ihr Kind allein in der Waschküche zur Welt, würgte es, damit es nicht schrie, und schlug es mit dem Kopf gegen ein Fass. Eine Weile saß sie da mit dem toten Kind im Schoß. Dann versteckte sie es im Stall unter der Streu.
"Nachderhand hätte sie es herzlich bereuet, daß sie ihr Kind umgebracht, während der Tat aber wäre sie ganz verstockt und verblendt gewesen."

Kindsmörderinnen als Faszinosum

Was treibt Mütter dazu, ihre Neugeborenen zu töten? Mit dieser Frage beschäftigten sich die Zeitgenossen intensiv. Juristen, Ärzte, Pädagogen und Philosophen verfassten Abhandlungen darüber, Dichter schrieben Dramen und Balladen über Kindsmörderinnen. Um das Thema kristallisierten sich Debatten über Strafrecht, Sexualmoral und die weibliche Natur.

Und was war mit dem Vater?

"Wenn man die Quellen untersuchet, aus denen die Kindermorde entspringen, so sind es hauptsächlich die Schande gefallener Mädchen, und die Armut", befand der Wiener Jurist Joseph von Sonnenfels. Die Strafjustiz war auf Fakten fixiert, auf Beweise und Geständnisse, und Strafen dienten der Abschreckung. Aufklärer wie von Sonnenfels fragten nun auch nach der seelischen Verfassung der Täter und Täterinnen und den äußeren Umständen, die mildere Strafen rechtfertigen könnten. Und wirkte Härte wirklich abschreckend? War es nicht vernünftiger, nach den Ursachen von Verbrechen zu suchen und die Gesellschaft so umzugestalten, dass sie beseitigt würden? Auch Susanna Brandts Verteidiger schilderte eindringlich ihre Notlage: mittellos, ohne Arbeit und der Schande ausgesetzt. Eloquent verwies er auf die Ausnahmesituation der Geburt. Und er erinnerte daran, dass es auch einen Erzeuger gab, der sie überdies mit Wein willig gemacht habe.
„Dieser Bösewicht ist die moralische Ursache alles des Unglücks. So muß seine listige Verführung der Inquisitin ihr in gewisser Maße zur Entschuldigung gereichen.“

Hingerichtet "unter beständigen Zurufen der Herrn Geistlichen"

Susanna Brandt sei keine "liederliche Dirne", sondern „alles Mitleidens würdig“. Doch ihre Richter ließen sich nicht erweichen. Überdies hatte sie im Verhör gestanden, sie habe seit seinen ersten Bewegungen geplant, es zu töten. Am 14. Januar 1772 bestieg sie das Schafott und, so notierte der Ratsschreiber:
"Der Nachrichter band sie an zweien Orten am Stuhl fest, entblößete den Hals und Kopf und unter beständigen Zurufen der Herrn Geistlichen wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt."
Im 19. Jahrhundert änderten die deutschen Länder nach und nach ihre Strafgesetze: Frauen wie Susanna Brandt, die ihr Kind bei oder gleich nach der Geburt töteten, wurden nicht mehr mit dem Tod bestraft. Ab 1871 galt das für das ganze Deutsche Reich.