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Habeck (Grüne) zu Waffenlieferungen an Ukraine
"Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch alleingelassen"

Grünen-Co-Chef Robert Habeck hat sich erneut für die Lieferung von „Defensivwaffen“ an die Ukraine ausgesprochen. Es gehe dabei um den Schutz der Bevölkerung, sagte er im Dlf. Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO lehnte er jedoch ab. Dafür sei es „zu früh“.

Robert Habeck im Gespräch mit Philipp May |
Robert Habeck
Robert Habeck (Grüne) sieht keine Problem darin, der Ukraine Waffen für Verteidigungszwecke zu liefern. (dpa)
Er habe Verständnis dafür, dass sich die Ukraine allein gelassen fühle, sagte Robert Habeck im Dlf. Gepanzerte Fahrzeuge könnten etwa zum Transport von Verletzten oder zur Minenräumung eingesetzt werden und sollten deshalb an Kiew geliefert werden.
Die Ukraine verteidige auch die Sicherheit Europas, so Habeck. Wenn das Land den Konflikt um die Krim verlieren sollte, sieht der Grünen-Co-Chef die Gefahr, dass Russland in anderen Regionen genauso vorgehen könnte wie auf der Krim. Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato hält Habeck momentan allerdings nicht für möglich, unter anderem darum, weil "die NATO nicht sortiert genug" sei und die Situation dadurch weiter eskalieren könne.
Habecks Forderung, die Ukraine mit deutscher Waffentechnik zu unterstützen, hat empörte Reaktionen durch alle politischen Parteien hindurch ausgelöst. Sowohl die Linke als auch Union und FDP zeigten kein Verständnis für Habecks Forderung. Der Konflikt sei nicht mit Waffen zu lösen, sagte etwa die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, Marie-Agnes Strack Zimmermann. Auch der ehemalige Generalstabsoffizier und CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter und die Linke Außenpolitikerin Sevim Dağdelen kritisierten Habecks Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch aus den eigenen Reihen gab es Kritik an Habecks Vorstoß.
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Das Interview zum Nachlesen:

Philipp May: Hat Sie der Besuch an der Front tatsächlich so sehr beeindruckt, dass Sie jetzt mit Ihrer Parteilinie brechen?
Robert Habeck: Der Besuch an der Front war beeindruckend, aber die Äußerungen, über die jetzt der ganze Wirbel entstanden ist, sind dort vorgefallen aus einer politischen Analyse, die ja auch schon vor meinem Reiseantritt getroffen war. Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch allein gelassen und sie ist allein gelassen. Deutschland baut Nord Stream zwei zu Ende. SPD- und CDU-Ministerpräsidenten wollen die Sanktionen gegenüber Russland aufheben wegen der Ukraine. Es gibt den Truppenaufmarsch im Osten. Die Krim ist annektiert. Und Deutschland liefert keine Medivacs, keine Nachtsichtgeräte, keine Kampfmittelbeseitigung, und das habe ich mal klargestellt. Irgendwas muss man halt tun, um nicht nur seine Worte wie Hohn klingen zu lassen.
May: Hat Selenskyj Sie denn nach Waffen gefragt?
Habeck: Nein! Selenskyj und ich, wir haben darüber nicht gesprochen. Beim Außenminister war es Thema. Aber der Deutschlandfunk hat mich danach gefragt.
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"Dafür sorgen, dass Ukrainer nicht erschossen werden"

May: Sie haben gerade gesagt, es geht um Defensivwaffen. Aber es gibt ja eigentlich – das haben wir auch im Beitrag gehört – kaum Waffen, die man nicht auch offensiv einsetzen könnte. Oder geht es tatsächlich nur um Nachtsichtgeräte und Ähnliches?
Habeck: Natürlich kann man, wenn man U-Boote zur Minenräumung hat, auch Minen legen. Aber einen Angriffskrieg wird man damit nicht führen können. – Natürlich kann man in gepanzerten Fahrzeugen auch Angriffe fahren, aber darüber, worüber hier gesprochen wurde und was mal eine Anfrage der Ukraine war, die die Bundesregierung abgelehnt hat, waren gepanzerte Fahrzeuge zum Verletztentransport von der Front zurück, dass die Leute nicht verbluten.
Natürlich kann man – das ist jetzt hier die neue Kriegsführung der Warlords auf der anderen Seite, dass sie mit kleinen Dingern, die man quasi vom Medienmarkt kennt, mit kleinen Drohnen Minen abwerfen, hinter der Grenze, die dann in den Vorgärten liegen und die Menschen verletzten. Natürlich kann man mit Drohnen-Abfanggeräten oder mit Zerstörung der Drohnen auch nach vorne schießen. Aber darum geht es und es geht darum, dafür zu sorgen, dass Ukrainer nicht erschossen werden.

"Ich habe ja bewusst von Defensivwaffen gesprochen"

May: Dennoch steht Ihre Aussage, man kann der Ukraine bestimmte Waffenlieferungen nicht verwehren, Waffen, die dann ja auch eingesetzt werden können gegen Menschen, schon diametral gegen grüne Überzeugungen und auch gegen das Wahlprogramm.
Habeck: Das würde ich nicht sagen. Ich habe ja bewusst von Defensivwaffen gesprochen, wie eben ausgeführt. Auf gepanzerten Fahrzeugen kann natürlich ein Maschinengewehr aufgebaut und stationiert werden. Deswegen ist es eine Waffe. Aber im Wesentlichen sind die Dinger dazu da und werden auch so bestellt, um Verletzte zu transportieren beispielsweise.
Zum Wahlprogramm oder auch zur Exportrichtlinie der Bundesregierung einmal gesagt: Die Frage ist, wie man auf die Situation schaut. Wenn ein Land angegriffen wird, dann gibt es auch die Möglichkeit zu helfen. Die Krim ist besetzt. In den getrennten Gebieten werden russische Pässe ausgegeben. Der Außenminister von Russland droht, dass seine Truppen dort einmarschieren. Scharfschützen erschießen die Soldaten an der Grenze. Da nicht defensiv zu helfen, ist schwierig, wenn man sagt, die Ukraine kämpft für ihre Freiheit.
May: Was sagt Annalena Baerbock denn dazu? Sieht die das genauso wie Sie?
Habeck: Annalena hat vor ein paar Wochen ein Interview in der "taz" gegeben, wo sie die Linie schon eingeschlagen hat.
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"Grüne haben eine pazifistische Tradition"

May: Welche Reaktionen kommen sonst aus Ihrer Partei?
Habeck: Na ja. Grüne haben eine pazifistische Tradition, und das ist auch gut, dass wir uns schwertun mit der Debatte über Waffen insgesamt. Es ist ja ein Ehrenprädikat der Partei, dass man nicht hinter jedem Kriegsschrei sofort hinterherstürmt. Insofern gibt es gemischte Reaktionen. Aber wir haben auch eine lange Tradition, der Ukraine zu helfen. Namen sind Rebecca Harms oder Marieluise Beck, die hier immer vor Ort waren. Deswegen hat meine Partei auch ein besonders hohes Ansehen. Ich glaube, meine Einladung beruht nur darauf, auf diesem Ruf.
Vielleicht muss man es so formulieren: Die Ukraine kämpft hier nicht nur für sich selbst, sondern die Ukraine verteidigt auch die Sicherheit Europas hier. Wenn das fällt und sie fühlen sich bedroht, dann ist das eine Einladungen an Russland, andere Konflikte ebenfalls eskalieren zu lassen. Ich glaube, so sollte man es sehen, und alle, die jetzt sagen, was macht der denn da, die sollten sich mal überlegen, was sie denn eigentlich tun. Die Dankbarkeit der Ukraine für die diplomatischen Bemühungen Deutschlands ist groß und ist hoch. Die sicherheitspolitische Situation wird allerdings hier völlig anders eingeschätzt, und ich sage es noch mal: Nord Stream zwei als Stichwort wird hier als Aufgabe der Sicherheitsgarantie der Ukraine gesehen. Und sie haben recht, so wird es auch gesehen.

"Ich habe es rein auf die Ukraine bezogen"

May: Zu Nord Stream zwei würde ich gleich mit Ihnen kommen. Ich würde gerne einen ganz kurzen Schlenker machen, weil das ja schon auch eine Grundsatzfrage ist, die Sie aufgeworfen haben, weil für ihre Freiheit kämpfen viele. Ist das jetzt nur rein auf die Ukraine bezogen, oder können Sie sich auch Waffenlieferungen in andere Gebiete vorstellen, zum Beispiel Israel?
Habeck: Nein! Ich habe es rein auf die Ukraine bezogen, auf die konkrete Situation, auf die Annexion der Krim, auf die Schießerei auf die Soldaten. Wenn Sie fragen, wie ist es an der Grenze – die erzählen, dass die russischen Sniper, die Scharfschützen jeder seinen eigenen Fingerabdruck haben, und sie können an den Schüssen erkennen, welche Gruppe da gerade im Einsatz ist. Einige schießen direkt in die Stirn, einige schießen immer ins Auge. So ist die Situation an der Grenze. Und dann zu sagen, wir machen das alles mit diplomatischen Dingen, mit diplomatischen Gesprächen, ist natürlich richtig, aber trotzdem sollte man Nachtsichtgeräte, Aufklärungsgeräte, Kampfmittelbeseitigung, Medivacs doch zur Verfügung stellen.

"Die NATO-Mitgliedschaft ist viel schwieriger"

May: Wenn Sie sagen, die Ukraine verteidigt die Freiheit des Westens, dann wäre ein logischer Schritt auch eine NATO-Mitgliedschaft.
Habeck: Wenn die Ukraine diesen Konflikt verliert – und in den Jahren 2015 fortfolgende waren ja weite Teile der Ukraine destabilisiert und Panzer sind vorgerückt -, dann ist das eine Einladung, dass das auch an anderen Stellen probiert werden kann. Die NATO-Mitgliedschaft ist viel schwieriger. Die Ukraine drängt darauf. Deswegen heißt das nicht, dass das sofort funktionieren kann, weil die NATO selber uneinig ist und unorganisiert ist an dieser Stelle. Aber das, was ich vorgeschlagen habe, der Ukraine zumindest da, wo keine Eskalation des Krieges zu befürchten ist, aber die Truppen Deutschland um Hilfe bitten, noch mal in diesen Defensivwaffen, die ja Waffen sind – ich habe es schon dreimal jetzt gesagt -, da immer nur Nein zu sagen, das, finde ich, ist die Konsequenz aus der Situation.
May: Nach den Waffen habe ich Sie jetzt auch nicht gefragt. Aber grundsätzlich: Sie sind Befürworter bei aller Kompliziertheit dieses Schrittes grundsätzlich einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft? Habe ich das jetzt richtig verstanden?
Habeck: Nein! Jetzt im Moment kann man das nicht machen. Die Ukraine will das. Die NATO ist nicht sortiert. Das wäre auch eine Eskalation der Situation. Da muss die Ukraine geduldig sein. Die konkrete Aktion, das konkrete Helfen, das ist das, was man jetzt tun kann, um Menschenleben zu retten.

"Wir sind gegen die Pipeline"

May: Kommen wir zu Nord Stream zwei, Sie haben es gesagt, die den Gastransit durch die Ukraine nach Europa auch quasi obsolet machen würde. Würde eine grüne Bundesregierung die Pipeline sofort stoppen?
Habeck: Wir wollen erst mal sehen, dass sie nicht zu Ende gebaut wird. Es sind noch vier Monate zur Wahl. Ich registriere es so, dass im Moment alles getan wird, um die Pipeline doch noch schnell anzuschließen. Aber ja, wir sind gegen die Pipeline. Im Moment geht es erst mal darum, dass sie nicht zu Ende gebaut wird. Wenn sie dann noch nicht fertig gebaut wird, sollten wir sie stoppen.
Oliver Krischer, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen, auf dem Bundesparteitag im November 2018. Dabei wurden die KandidatInnen für die Europawahl im Mai 2019 gewählt.
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Habeck: Zu wenige Sanktionen gegen Belarus

May: Herr Habeck, das große derzeitige Konfliktthema, wo wir schon dabei sind, würde ich auch gerne noch kurz ansprechen – mit einem anderen ehemaligen Sowjetstaat, der an die EU grenzt, Belarus. Nach der erzwungenen Flugzeuglandung und der Verhaftung des Regime-Kritikers Protasevich und seiner Freundin hat die EU weitere Sanktionen beschlossen und gleichzeitig auch den Flugverkehr von, nach und über Belarus quasi eingestellt. Sind Sie als Grüne damit einverstanden?
Habeck: Wenn man sich anschaut, was möglich wäre an Sanktionen, hat die EU nicht genug beschlossen. Schon vor zehn Jahren gab es eine lange Liste, die die volle Breite der Sanktionen aufgelistet hat, und jetzt fehlt immer noch weite Teile der Harnstoff-, der Düngerindustrie, der Ölindustrie, der Chemieindustrie. Das würde ich jetzt als ersten Punkt sofort bemängeln und sagen, richtig sanktionieren, auch die Lücken schließen und auch diese großen Industriekomplexe ansprechen, und Ausweitung der persönlichen Sanktionen. Das trifft schon die Leute um Lukaschenko, wenn ihre Kinder nicht mehr im Ausland studieren können.
Belarus - EU reagiert mit Sanktionen
Mit Empörung und verschärften Reaktionen hat die EU auf die erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Belarus reagiert. Das Regime in Minsk bestätigte inzwischen, dass sich der bei der Aktion verhaftete Regimekritiker Roman Protasewitsch in U-Haft befindet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.