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Helmut Altrichter
"Stalin - Der Herr des Terrors"

Er war der "Stählerne": Dafür steht der Kampfname "Stalin", den sich der spätere sowjetische Diktator schon 1912 gegeben hatte. Die Sowjetunion führte er mit harter Hand; Millionen Menschen starben unter seiner Herrschaft. Der Historiker Helmut Altrichter hat eine Biografie über Stalin geschrieben.

Von Sabine Adler |
    Cover von "Stalin. Der Herr des Terrors", im Hintergrund: Tschapka mit dem Emblem der Sowjetunion
    Stalins bevorzugte Herrschaftsinstrumente: Intrigen, Befehle, Gewalt (C.H.Beck-Verlag / Hendrik Schmidt / dpa-Zentralbild / ZB)
    Dass das sowjetische Radio einen Tag lang nur ernste Musik sendete, war ein Hinweis, wie schlecht es um den Woschd, den Führer, bestellt war. Am Morgen des 6. März 1953 verlas Juri Levitan, die Stimme Stalins, dann die Botschaft:
    "Hier spricht Moskau. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion teilt mit, dass am 5. März 1953, um 21 Uhr 50 nach schwerer Krankheit der Vorsitzende des Ministerrates und Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der UdSSR Josef Wissarionowitsch Stalin, gestorben ist."
    Fast drei Jahrzehnte, von 1924 bis 1953, hat Stalin die Sowjetunion regiert. Die von ihm bevorzugten Herrschaftsinstrumente waren Intrigen, Befehle, Androhung oder Anwendung von Gewalt. Der Buchtitel gibt den Tenor vor: "Stalin - Der Herr des Terrors."
    Der junge Stalin
    Mit 350 Seiten fällt die Biografie knapp aus, was ihren Leserkreis erweitern dürfte. Nach den Lebensgeschichten von Benito Mussolini und Robert Mugabe ist die über Stalin der dritte Band einer Reihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, die sich den Diktatoren des 20. Jahrhunderts zuwendet.
    Der Osteuropa-Historiker Helmut Altrichter hat im Falle Stalins die Aufgabe übernommen und stand damit vor der Qual der Wahl. Eine unfassbare Fülle an Material wurde seit der Perestroika zugänglich gemacht. Große Bestände des Partei- und Präsidentenarchivs sind inzwischen digitalisiert im Internet zu lesen, unzählige Biografien, wie die des russischen Historikers Oleg Chlewnjuk oder des US-Kollegen Stephen Kotkin, der allein fast 2000 Seiten über die frühen Jahre Stalins verfasste.
    Diktatur über das Proletariat
    Dieser junge Stalin war auch für Altrichter eine Entdeckung. Er zeichnet das Porträt von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, des 1879 als Sohn eines Schusters geborenen Georgiers, der sich jedoch nie als Proletarier verstand, in einer Zeit, in der sich die Ereignisse überschlagen. Das Zarenreich geht unter, an dessen Stelle errichten der Revolutionsführer Lenin, Stalin und Konsorten mitnichten eine Diktatur des Proletariats, sondern eine über das Proletariat, wie es Altrichter treffenderweise richtigstellt. In jeder Phase des Kampfes werden bereitwillig Millionen Menschenleben geopfert. Stalin persönlich unterzeichnete nahezu 400 Todeslisten, auf denen fast 40.000 Namen standen:
    "Wenn Chruschtschow nach Stalins Tod allerdings den Eindruck zu erwecken suchte, als hätten die Massenrepressalien erst in der zweiten Hälfte der 1930er begonnen, so unterschlug er, dass die Grundlagen des staatsterroristischen Systems bereits unter Lenin, in Revolution und Bürgerkrieg gelegt worden waren und auch die Politik der forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung mit Mitteln des Massenterrors durchgesetzt wurde. Sowenig der Massenterror erst 1937 begonnen hatte, endete er im Folgejahr. Er setzte sich am Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit fort und war zum integralen Bestandteil des Gesamtsystems geworden."
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    Denkmal für die Opfer des sowjetischen Terrors "Mauer der Trauer" des Bildhauers Georgi Franguljan in der russischen Hauptstadt Moskau (picture alliance / Emile Alain Ducke/dpa)
    Facettenreich und trotzdem kompakt beschreibt Altrichter den Machtmenschen Stalin in einem Gefüge von Genossen, die oft weitaus brillanter als er waren. Doch Lenin imponierte, dass Stalin nach dem abgebrochenen Priesterseminar eine Karriere als Bankräuber einschlug, sehr zum Vorteil der Parteikasse. Der raubeinige Stalin, den Lenin später zum Generalsekretär ernannte, trug bis an sein Lebensende nur uniformartige Jacken und Hosen und hatte keinerlei Scheu, sich die Hände schmutzig zu machen.
    Skrupellosigkeit und Machtwille
    Während Lenin wie besessen schrieb, 5000 Seiten füllte, brachte Stalin im Laufe seiner vielfachen Verbannungen und Gefängnisaufenthalte nichts zu Papier. Später quälte er sich und andere mit seinen Aufsätzen und Reden. Er wurde nie zum scharfsinnigen Analytiker, weitsichtigen Strategen und erst recht kein mitreißender Redner, was ihm sein Erzrivale Leo Trotzki voraus hatte. Auf den Konkurrenten reagierte Stalin mit Hass und Gewalt und ließ ihn schließlich - neben vielen anderen - ermorden. Dieser berühmten Dreier-Konkurrenz zwischen Lenin, Stalin und Trotzki widmet der Autor einigen Raum.
    Altrichter thematisiert, dass Stalin zwar gefürchtet und seine Talente und Fähigkeiten vielleicht überschaubar gewesen sein mochten, aber ihn an Skrupellosigkeit und Machtwillen niemand übertraf. Selbst Lenin sei das am Ende nicht geheuer gewesen, er soll die Ablösung Stalins als Generalsekretär empfohlen haben, der sei zu grob, habe zu viel Macht. Stalin seinerseits sorgte dafür, dass dieses Dokument, Lenins letzter Wille, nicht bekannt wurde:
    "Stalin wusste sich nach dem Tod Lenins im Januar 1924 - im Machtkampf um dessen Nachfolge durchzusetzen, obwohl er weder ein brillanter Redner noch ein origineller Theoretiker war. Doch er vermochte aus seiner Schwäche eine Stärke zu machen, indem er erst gar nicht versuchte, sich als eigenständiger Kopf zu präsentieren, sondern als Wahrer des Lenin‘schen Erbes."
    Ausführliche Bildunterschriften - wie diese hier gekürzte - sind ein Service für den Leser, der es schätzt, schon beim Blättern auf Interessantes zu stoßen und eine schnelle Zusammenfassung des Wesentlichen zu bekommen.
    Von Defiziten ablenken
    Vollständig unerwähnt in Helmut Altrichters Stalin-Biografie bleibt der Erfolg der Sowjetunion bei der Alphabetisierung der Bevölkerung, die Industrialisierung kommt fast nur im Zusammenhang mit der oft tödlichen Zwangsarbeit vor.
    Naturgemäß wird bei einer so oft beschriebenen Epoche und Person kaum etwas wirklich Neues zutage gefördert, aber Altrichter versteht es, die wichtigsten Irrtümer aufzugreifen, ohne gegen sie zu polemisieren. Denn man hat auch schon anderswo gelesen, dass Stalin und Lenin fast zu spät zur Oktoberrevolution gekommen wären, weil beide die Gunst der Stunde zunächst nicht erkannten, und die ganze - danach so verherrlichte - Bewegung alles andere als eine Massenveranstaltung war.
    Das gehört zweifellos in eine Stalin-Biografie, wie viele andere wichtige Etappen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zumal, wenn derartige Episoden den Diktator charakterisieren. Altrichter merkt zudem an, dass Stalin mitnichten einen außergewöhnlich vorausschauenden Instinkt besaß, jedoch wie kein anderer von seinen Defiziten abzulenken wusste. Trotzki hatte ihn durchschaut und gehöhnt, dass Stalin die Revolution nicht gemacht, sondern verpasst hat.
    Aber anders als Trotzki war Stalin schlau genug zu wissen, wann er sich einer anderen Person unterwerfen musste, was selten genug der Fall war. Während sich Trotzki mit Lenin anlegte, verdankte es Stalin seiner Fähigkeit zurückstecken und abwarten zu können, dass er Nachfolger des Revolutionsführers wurde.
    Stalin als Privatmann
    Dass die Sowjetunion zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gehörte, wird Stalin bis heute in Russland als großes Verdienst angerechnet. Der Stalinbiograf Altrichter erinnert daran, mit welcher Härte und welchen Fehlentscheidungen der Sieg errungen wurde, wie zögerlich, geradezu ignorant, Stalin zu Beginn auf die drohende Kriegsgefahr durch die deutsche Wehrmacht reagierte:
    "Stalin sah sich auch nicht in der Lage, noch am selben Tag als Partei- und Regierungschef in einer Rundfunkrede die sowjetische Öffentlichkeit vom deutschen Angriff zu informieren, ihr Mut zuzusprechen; daher wurde Molotow diese Aufgabe übertragen."
    Auch der Privatmann Stalin bekommt ein Gesicht. Er hatte unzählige Frauen, davon mehrere im Teenageralter, von denen er zumindest seine beiden Ehefrauen geliebt haben soll. Fast allen seiner ehelichen und noch zahlreicheren unehelichen Kinder war er ein meist gleichgültiger, nicht vorhandener Vater.
    Stalin hasste es zu reisen, flog nur ein einziges Mal. Er war ein Nachtmensch, der sich im Kremlkino Dutzende Male den gleichen Film ansah, am liebsten im Kreise seiner Genossen, die ihn nachts noch auf die Datscha begleiten mussten, um mit ihm zu tafeln.
    Sorgfältig arbeitet der Stalin-Biograf Altrichter heraus, wie gefährlich es sich in der Nähe des Diktators lebte, wie krankhaft misstrauisch er war, wie sehr sich selbst Mitarbeiter seiner engsten Umgebung vor ihm fürchteten. Am Schluss so sehr, dass sie sich stundenlang nicht in sein Zimmer wagten, als er im Sterben lag.
    Helmut Altrichter: "Stalin - Der Herr des Terrors. Eine Biografie."
    C.H.Beck, 352 Seiten, 16,95 Euro