Die Vizepräsidentin des Verbands der Betriebs- und Werksärzte, Anette Wahl-Wachendorf, betrachtet die geplante Aufhebung der Impfpriorisierung ab dem 7. Juni als "positive Entwicklung", durch die das bisherige Impfverfahren weiter an Fahrt aufnehmen könnten. Mehr und schneller zu impfen sei nun wichtig. Die Zeit dürfe nicht mit der Diskussion um Priorisierungen zu vertan werden.
Wahl-Wachendorf: Sinnvolle Integration in Impfprozess
Insofern begrüßt Wahl-Wachendorf es, wenn neben Impfzentren und Hausärzten bald auch die Ärzte in den Unternehmen Impfungen durchführen. "Es macht absolut Sinn, die Bevölkerungsgruppe der produktiv Tätigen in den Betrieben, die zum Teil auch keinen Hausarzt haben, entsprechend sehr bald zu versorgen."
Gleichwohl dürfte der bisher zur Verfügung stehende Impfstoff vorübergehend nicht ausreichen, um allen Interessierten schnell ein Angebot machen zu können. Vorerst sei es "auch eine Wahrheit", dass sich nicht jeder einen Impfstoff aussuchen könne. Aufgrund der absehbaren Produktionsmengen deute jedoch einiges darauf hin, "dass wir wahrscheinlich sehr viel Biontech-Impfstoff in den Firmen zur Verfügung haben werden", so Wahl-Wachendorf.
"Viel Biontech-Impfstoff in den Firmen zur Verfügung"
Aber auch der Impfstoff von Johnson & Johnson sei ganz aktuell vom Bundesgesundheitsministerium gelistet. Wahl-Wachendorf: "Der hat den großen Vorteil, dass es ein Single Shot ist."
Dass Szenario, dass die Öffnung der Impfungen für Betriebsärzte zu noch mehr bürokratischem Chaos führen könnte, bezeichnete Wahl-Wachendorf als "nicht absehbar".
Das Interview in voller Länge:
Josephine Schulz: Wir haben es gerade im Beitrag gehört. Die Hausärzte sind besorgt. Wie bewerten Sie das, die Aufhebung der Impfreihenfolge?
Anette Wahl-Wachendorf: Ich würde das so bewerten, wie das auch der Kollege Gassen bewertet hat und Herr Spahn formuliert hat. Es ist im Grunde eine positive Entwicklung, denn wir sprechen seit kurzem von dem Impf-Turbo. Der kann noch mehr Fahrt aufnehmen. Es heißt, mehr und schneller zu impfen und nicht die Zeit mit der Diskussion um Priorisierungen zu vertun.
Schulz: Die Hausärzte beklagen gerade einen extremen Ansturm auf ihre Praxen und teilweise auch eine aggressive Stimmung. Rechnen Sie damit, dass das in den Betrieben dann auch so kommen könnte?
Wahl-Wachendorf: Es dauert noch ein Stück weit. Der 7. Juni ist noch ein bisschen hin. Bis dahin wird es sich eventuell etwas normalisiert haben. Was aber ein viel kritischerer Punkt ist, ist der Punkt, dass wir davon ausgehen müssen, dass zum Zeitpunkt 7. Juni noch nicht ausreichend Impfstoff für uns zur Verfügung steht, und das ist die schwierige Diskussion jetzt, denn wir erhalten viele Anrufe, viele, viele Bitten von Unternehmen, uns bei diesem Thema zu unterstützen.
Schulz: Wie ist denn jetzt der Stand? Wissen Sie schon ungefähr, wie viele Impfdosen Sie bekommen?
Wahl-Wachendorf: Die Zahl schwankt immer. Herr Spahn hat eine Zahl in den Ring geworfen. Das ist eine kleine Weile her. Da hieß es 500.000 Impfungen in der Woche. Mal heißt es 200.000 in Baden-Württemberg. Das schwankt und wir haben als Berufsverband gefordert, dass wir eine Mindestmenge pro Arzt bekommen müssen, um überhaupt handeln zu können.
Schulz: Was sagen Sie denn zu der Verteilung zwischen Hausärzten, Betriebsärzten und Impfzentren? Ist das für Sie nachvollziehbar, dass die Hausärzte dann noch weit mehr bekommen als die Betriebsärzte?
Wahl-Wachendorf: Die Verteilung liegt nicht in unserem Ressort. Es ist wichtig, das ganze Thema breit zu streuen. Es gibt nun mal die Impfzentren. Die Kosten der Impfzentren sind transparent nachzulesen. Es ist sehr, sehr gut, dass die Hausärzte bundesweit in der Bundesrepublik unterstützen, und es macht absolut Sinn, die Bevölkerungsgruppe der produktiv Tätigen in den Betrieben, die zum Teil auch keinen Hausarzt haben, entsprechend jetzt doch sehr bald zu versorgen
Impfzentren "kritisch prüfen"
Schulz: Es gab ja von den Hausärzten teilweise auch die Forderung, dass man die Impfzentren jetzt langsam zumachen sollte. Sehen Sie das ähnlich?
Wahl-Wachendorf: Das ist eine politische Entscheidung. Und wie gesagt: Die Kosten waren und sind ein Thema. Ich meine, dass wir die Impfzentren an bestimmten Standorten sehr wohl brauchen, aber sicher muss man die einer kritischen Prüfung unterziehen.
Schulz: Aber ist es nicht auch ein Stück weit problematisch, wenn gerade dieser knappe Impfstoff, der auch im Juni immer noch knapp sein wird, mit Betriebsärzten jetzt auf noch mehr Akteure verteilt wird, die dann alle jeweils zu wenig haben?
Wahl-Wachendorf: Das sehe ich nicht. Es geht um eine flächendeckende Versorgung und um viele Zugangsmöglichkeiten, die geschaffen sind. Ein Zugang sind Impfzentren, ein Zugang sind Hausärzte. Es gibt weitere Zugänge und ein wichtiger Zugang im Unternehmen oder mobil sind Betriebsärzte.
Schulz: Aber könnte es nicht möglicherweise sein, dass das für noch mehr bürokratisches Chaos sorgt, wenn sich jetzt die Menschen an allen unterschiedlichen Stellen gleichzeitig um Impftermine bemühen, sowohl im Betrieb als auch beim Hausarzt und in Impfzentren?
Wahl-Wachendorf: Bisher ist das nicht absehbar. Da wird von den Empfängern, von den Interessierten am Impfstoff sehr sorgsam in der großen Masse vorgegangen. Insofern würde ich absolut dafür plädieren, um diesen Impf-Turbo und diese verschiedenen Zugänge zu ermöglichen, weiter aufrecht zu erhalten und auch sinnvoll zu gestalten, das so zu machen.
Möglicherweise viel Biontech-Impfstoff in den Firmen
Schulz: Wir haben gerade schon mal kurz über die allgemeine Impfpriorisierung gesprochen, die ab 7. Juni aufgehoben werden soll. Wie ist das denn innerhalb der Betriebe? Werden die Betriebsärzte da von sich aus noch mal eine Priorisierung vornehmen, beispielsweise welche Menschen auf der Arbeit einem höheren Risiko ausgesetzt sind?
Wahl-Wachendorf: Wir sehen hier weniger die Betriebsärzte als die Unternehmen in der Verantwortung, die das lange gewohnt sind, über viele Jahrzehnte. Das Stichwort, was wir da gut kennen und die Betriebe auch gut kennen, ist Gefährdungsbeurteilung. Das Unternehmen wird da sorgfältig überlegen, welche Beschäftigten beispielsweise im Vertrieb oder im Kontakt mit anderen Menschen häufig unterwegs sind und zunächst als erste auf die Liste kommen, und dass es Beschäftigte gibt, die nicht ganz vorne auf der Liste stehen.
Schulz: Wie ist es denn mit Blick auf die verschiedenen Impfstoffe? Kann ich mir als Teil der Belegschaft aussuchen, welchen Impfstoff ich bekomme, oder kann es dann auch sein, dass ich zum Beispiel als junge Frau AstraZeneca nehmen muss?
Wahl-Wachendorf: Wir haben natürlich die gleichen Rahmenbedingungen und Kautelen, wie sie im Moment Gültigkeit haben. Insofern wird das Beispiel von Ihnen, was genannt wurde, auf keinen Fall passieren. Aber es ist auch eine Wahrheit - das wissen wir bisher und das wird auch weiterhin so sein -, dass wir uns keinen Impfstoff aussuchen können. Wir haben die Vorstellung aufgrund der Produktionsmengen, dass wir wahrscheinlich sehr viel Biontech-Impfstoff in den Firmen zur Verfügung haben werden oder für die Firmen, aber auch Johnson & Johnson ist ganz aktuell gelistet vom BMG – hat den großen Vorteil, dass es ein Single Shot ist.
Schulz: Sie haben es selber gesagt: Es gibt immer noch zu wenig Impfstoff, und auch für die Betriebsärzte sind da jetzt erst mal keine gigantischen Mengen vorgesehen. Wenn ich jetzt in einem großen Betrieb arbeite mit vielen hundert Mitarbeitern, was würden Sie sagen, wie lange wird es wahrscheinlich dauern, bis ich im Betrieb geimpft werde?
"Kritische-Infrastruktur-Unternehmen zunächst dran"
Wahl-Wachendorf: Das kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Schulz.
Schulz: Würden Sie den Leuten raten, sich jetzt doch lieber auch parallel um Impftermine beim Hausarzt zu bemühen, oder würden Sie eher sagen, die Leute, die wissen, dass in ihrem Betrieb geimpft wird, die sollen jetzt auch darauf warten?
Wahl-Wachendorf: Ich denke, dass die Beschäftigten mit ihren Unternehmensleitungen oder umgekehrt, dass man so gut im Gespräch ist und da eine Idee oder eine Vorstellung hat, wann man wo zum Zuge kommt, und nach dieser Entscheidung, die im Vorfeld auch an vielen Stellen in der Landschaft schon getroffen ist, wird dann jeder Beschäftigte entscheiden können wollen und dürfen, welchen Weg und welchen Zugang er wählt.
Schulz: Wie wird das denn jetzt zwischen den Betrieben organisiert? Bemüht sich da jeder Betrieb alleine um Impfstoff, oder wird das zentral verteilt, welche Betriebe möglicherweise wichtiger sind als andere?
Wahl-Wachendorf: Es gibt natürlich die Kritis-Unternehmen. Das ist ganz klar. Die Priorisierungen haben da schon weiterhin Gültigkeit und die sind zunächst dran. Sicherlich ist die Kontingentierung, die Ressource Impfstoff, die zu gering zur Verfügung stehen wird – das ist der Stand heute – eine Herkules-Aufgabe, eine schwierige Aufgabe in der Abwägung der Kontingentierung. Die obliegt ziemlich sicher uns Betriebsärzten, um da gute Entscheidungen zu treffen, wann man wo zuerst impft.
Schulz: Aber wie wägen Sie das ab? Glauben Sie, dass es da jetzt einen Konkurrenzkampf unter den Betrieben gibt, dass jeder schreit, wir sind wichtiger, wir brauchen zuerst?
Wahl-Wachendorf: Die Abwägung – dafür gibt es (noch) keinen Algorithmus. Das wird, wie ich eben schon sagte, mit dem Stichwort Herkules sicherlich eine schwierige Aufgabe. Da bei diesem Thema aber eine große Transparenz hergestellt sein wird – dadurch, dass darüber gesprochen wird -, bin ich sicher, dass dort eine kluge Abwägung gelingt, die zum Beispiel, wenn wir uns die Muster-Modellprojekte in der Bundesrepublik anschauen, nicht dazu führen wird und sollte, dass jetzt zunächst mal nur große Unternehmen betrieblich geimpft werden. Das sehe ich nicht, dass das folgen wird.
Schulz: Sie haben gerade selber die Modellprojekte angesprochen, die schon laufen, zum Beispiel bei Satorius in Göttingen. Was konnte man daraus schon für Lehren ziehen?
Wahl-Wachendorf: Mein Kenntnisstand der Modellprojekte ist, dass das überall sehr, sehr gut gelaufen ist, und Modellprojekte sind in diesen Fällen auch exzellent vorbereitet worden. Da gab es viel Expertise. Insofern ist das eine gute und große Chance in der Pandemie, wo man binnen eines Jahres zu Lösungen gekommen ist, daraus überhaupt für die Zukunft, für unsere Zukunft zu lernen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.