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Vor 200 Jahren
Jean-François Champollion entschlüsselte die Hieroglyphen

Nach dem Untergang der antiken ägyptischen Hochkultur geriet ihre Sprache in Vergessenheit. Die Hieroglyphen blieben zwar in rauen Mengen erhalten, aber niemand konnte sie mehr lesen. Der Franzose Jean-François Champollion entschlüsselte das Rätsel.

Von Klaus Ungerer | 14.09.2022
Der Rosettastein
Der Rosettastein, mit dem Jean-François Champollion die Hieroglyphen entschlüsselt hat, steht heute im British Museum in London (picture alliance / Daniel Kalker)
Der Verrat von Typhon endet auf dem Thron von Isis; die Feuchtigkeit der Natur wird von der Wachsamkeit von Anubis bewacht.“
Dieser Text klingt nicht sehr sinn-, aber schön geheimnisvoll. Er stammt von Athanasius Kircher, dem Hieroglyphenexperten des 17. Jahrhunderts. Aus ein paar Schriftzeichen auf einem Obelisken hatte er diese Sätze herausgelesen. Heute wissen wir, was sie wirklich bedeuten, nämlich:
„Osiris spricht.“

Lange kursierten zweifelhafte Theorien

Kircher stand in einer langen Tradition. Schließlich konnte seit Jahrhunderten niemand mehr Hieroglyphen lesen. Es gab ein paar antike Stimmen zum Thema, doch auch deren Wahrheitsgehalt war zweifelhaft. So teilte der griechische Geschichtsschreiber Diodor mit, Hieroglyphen seien keine Lautschrift wie unser Alphabet, sondern eine Symbolschrift.
„Die ägyptische Schrift baut sich nicht aus Silben auf, sondern aus dem Aussehen der gezeichneten Dinge und ihrer metaphorischen Bedeutung.“
Sein Kollege Horapollon meinte: „Wenn sie einen Schreiber darstellen wollen oder einen Propheten oder einen Einbalsamierer – zeichnen sie einen Hund.“
Bei Grabungsarbeiten in Ägypten findet man 1799 den uralten Stein von Rosetta. Er enthält eine Inschrift in dreifacher Ausfertigung: einmal auf Griechisch. Dann auf Demotisch – einer Schriftsprache, die von den Hieroglyphen abstammt. Schließlich, oben abgebrochen, derselbe Text noch mal. In Hieroglyphen. Nun gibt es einen Hieroglyphentext mitsamt Übersetzung. Das Griechische kann man lesen. Die anderen beiden Texte nicht.
Doch wie soll man die Bilderschrift zum griechischen Text in Beziehung setzen?

Jean-François Champollion beherrschte mehr als zehn Sprachen

In Paris brütet ein junger Wissenschaftler seit Jahren über dem Rätsel: Jean-François Champollion. Er spricht Latein, Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Syrisch, Aramäisch, Persisch, Äthiopisch, Chaldäisch – und die ausgestorbene ägyptische Sprache, das Koptische. Dass Koptisch die Sprache sein könnte, die in den Hieroglyphen aufgezeichnet ist, oder zumindest ein naher Verwandter – diese Idee hat noch niemand getestet.
Am Morgen des 14. September 1822 öffnet Champollion seine Post. Jemand hat ihm eine Inschrift aus Ägypten geschickt. Er sieht eine Zeichenfolge, die ein Königsname sein muss, aber welcher? Das erste Symbol des Namens ist eine Sonne. Champollion tut etwas Verwegenes: Er liest die Sonne nicht als Buchstaben. Sondern als Wort. Das Wort für „Sonne“ nimmt er aus dem Koptischen: „Re“ oder „Ra“. Er nimmt die nächsten Zeichen dazu. Plötzlich steht ein Name vor seinen Augen: „Ramses“. Sollte das etwa funktionieren? Er sieht einen Ibis. Der ist das Symbol für den Gott Thoth. Er liest den Ibis als „Thoth“. Nimmt die nächsten Zeichen dazu. Plötzlich steht wieder der Name eines Pharaos vor seinen Augen: Thutmosis.
Das Grab des französischen Wissenschaftlers Jean-François Champollion
Jean-François Champollion ist im Jahre 1832 in Paris gestorben (picture-alliance / dpa / dpaweb / Helmut Heuse)
Einen rauschhaften Vormittag lang klappt einfach alles. Er kann einigen Zeichen koptische Wörter zuordnen: das Wort „Leben“. Das Wort „ewig“. Das Wort „Liebe“. Plötzlich lässt sich in den Hieroglyphen des Rosettasteins eine ganze lange Wendung übersetzen, die im Griechischen genau so dasteht:
„Der König Ptolemaios, der ewig lebt, geliebt von Ptah.“
Champollion weiß: Er ist seit vielen Jahrhunderten der erste Mensch, der dies lesen kann. Die Hieroglyphen sind keine reine Lautschrift. Und keine Symbolschrift. Sie sind beides.
„Hieroglyphenschrift ist ein komplexes System: eine Schrift, die gleichzeitig figurativ, symbolisch und phonetisch ist – in ein und demselben Text, in ein und demselben Satz, und, ich traue mich, es zu sagen, in ein und demselben Wort.“
Dies ist der Schlüssel. Er hat ihn gefunden. Am 14. September 1822 läuft Jean-François Champollion aufgeregt durch die Straßen von Paris, schafft es zu seinem Bruder ins Büro, ruft: "Ich habe es geschafft!“
Bricht zusammen. Schläft wie tot. Und wacht erst fünf Tage später wieder auf. Zumindest will es die Legende so. Glaubwürdig ist sie nicht. Die Menschen aber lieben Legenden, sie lieben bunte, blumige Geschichten mehr als nüchterne Informationen, so wie es auch Athanasius Kircher tat.