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Jugendliche in der Pandemie
Ausgebremst, aber keine Generation Corona

Wechselunterricht und geschlossene Schulen haben Jugendliche in die eigenen vier Wände verbannt. Vielen fehlt der Kontakt mit Gleichaltrigen. Etliche klagen auch über psychische Belastungen und Lerndefizite. Es gibt erste Ansätze, dem entgegenzusteuern.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger |
Mit großen Abständen stehen Tische und Stühle in der Turnhalle vom Montessori-Schulzentrum in Leipzig. In der Turnhalle sollen die Abiturprüfungen unter größten hygienischen Bedingungen geschrieben werden.
Covid-19 beschäftigt uns schon über ein Jahr: Der Alltag von Jugendlichen in der Corona-Zeit wird stark durch die veränderte Lernsituation bestimmt. (dpa / Waltraud Grubitzsch)
"So haben meine Freunde und ich uns nicht unser Abitur vorgestellt, also unser letztes Jahr." Die Osterferien sind in vielen Bundesländern ab diesem Montag vorbei, die Schulen dort – teils für den Präsenz-, teils für den Distanzunterricht – wieder geöffnet. Niovi, 18 Jahre alt, 12. Klasse, hat diese Woche mündliche Abiturprüfung, danach folgen – anders als sonst in Berlin - die schriftlichen Prüfungen. Es ist bereits der zweite Abi-Durchlauf unter Pandemie-Bedingungen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
"Es wurde einem immer gesagt, wie toll die Oberstufenzeit ist, was man da alles erlebt, und diese Möglichkeiten hatten wir gerade die letzten zwei Jahre einfach nicht. Wir sind auch froh, dass es bald vorbei ist. Generell fühle ich mich eigentlich gut vorbereitet fürs Abitur, aber ich bin auch ziemlich erschöpft vom Homeschooling und fühle mich einfach ziemlich ausgelaugt, was Lernen angeht."

Viele Dinge sind weggefallen

Niovi besucht ein Gymnasium in Berlin-Kreuzberg. Das erste Halbjahr der 11. Klasse lief normal, erzählt sie. Dann kam der erste Lockdown im März 2020, der zweite folgte im Herbst. Eine Riesenumstellung: "Auf einmal saß man jeden Tag zu Hause. Man saß einfach jeden Tag vor seinem Computer, hat gearbeitet und wusste nicht, wann man seine Freunde wiedersehen kann. Da sind ja auch ganz viele andere Sachen weggefallen, nicht nur mein Sport, sondern auch AG's in der Schule wie zum Beispiel Chor oder Bläserklasse, in der ich drin bin."
Im Jahr 2020 wurden die schriftlichen Abiturklausuren am Bünder Gymnasium am Markt in der Sporthalle mit den vorgeschriebenen Hygienerichtlinien geschrieben. 
Ein Wegweiser für den Zugang zum Abitur (dpa / Kirchner-Media / Noah Wedel)
Auch Luisa Regel, stellvertretende Sprecherin des Landesschülerausschusses in Berlin, hat die Abitur-Prüfungen vor sich. Die Schülerin einer Integrierten Sekundarschule im Bezirk Pankow macht nach 13 Jahren Abitur, sie fühlt sich allerdings nicht gut vorbereitet – und verweist auf große Lücken im Lernstoff bei Schülern und Schülerinnen. "Und ich weiß, dass es vielen Schüler und Schülerinnen ähnlich geht, aber dass viele auch starke Motivationsverluste haben. Es wurde nun mal fast ein gesamtes Semester verpasst und im zweiten Semester auch noch mal ein ganzes Stück. Da fehlt halt einfach viel."

Veränderte Lernsituation

Der Alltag von Jugendlichen in der Corona-Zeit wird stark durch die veränderte Lernsituation bestimmt. Die Berliner Schülervertretung hat in einer Online-Umfrage die Meinung von fast 6.000 Schülern und Schülerinnen zu ihrer Situation zu Hause und zum Kontakt mit dem Lehrpersonal eingeholt.
Schule - Wie sich coronabedingte Lernlücken auffangen lassen
Wie können Schüler den Lernstoff aufholen, den sie Corona-bedingt bislang verpasst haben? Die Kultusministerkonferenz hat eine Milliarde Euro für Nachhilfemaßnahmen in Aussicht gestellt. Andere Konzepte erwägen die Verlängerung der Schulzeit oder den Stoff grundsätzlich zu entschlacken.
Die Antworten waren teilweise überraschend positiv, in der Mehrheit aber ernüchternd: 19 Prozent der Befragten kamen im vergangenen Winter mit dem Lernen unter Pandemie-Bedingungen gut, elf Prozent sogar besser klar. 37 Prozent fühlen sich allerdings stärker, 32 Prozent stark belastet. Das hängt auch mit sozialer Ungleichheit zusammen, so Luisa Regel: "Es gibt einmal soziale Ungleichheiten, wo die Schüler und Schülerinnen zur Schule gehen, welches Elternhaus sie besuchen, ob es ein eigenes Zimmer gibt, ob man WLAN zu Hause hat, ob man ein eigenes Endgerät besitzt und damit auch, ob man gut am Unterricht teilnehmen kann. Und die Schulen, die immer noch Unterschiede zeigen, die einzelnen Bezirke, wo es unterschiedlich läuft, aber selbst in verschiedenen Klassen läuft es unterschiedlich je nach Motivation der LehrerInnen."

Gegen Lücken im Lernstoff

Um die Lücken im Lernstoff zu schließen, bietet das Land Berlin seit vergangenem Sommer tausenden von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern sogenannte Ferienschulen an. Inwiefern diese Lücken damit zu tun haben, wie den Schülern das Lernmaterial vermittelt wird, hat Katharina Spieß untersucht. Die Leiterin der Abteilung Bildung und Familie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hält zum Beispiel Videokonferenzen wegen des direkten Kontakts für besonders wichtig.
Eine siebenjährige Erstklässlerin sitzt vor einem iPad, welches eine "Padlet Klasse 1b" darstellt und lernt im Homeschooling für die Schule. 
Nach Ende der Osterferien haben viele Schüler Distanzunterricht (dpa / Guido Kirchner)
Als die Schulen im März 2020 schlossen, waren die Gymnasien hier deutschlandweit federführend, stellt Spieß fest. 36 Prozent von ihnen arbeiteten mit Videokonferenzen, aber nur 25 Prozent der Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Doch nicht nur das:
"Wir können in unserer Studie sehen, dass nach dem ersten Lockdown dieser Unterschied sogar noch größer wurde. Fast 60 Prozent der Schüler im Gymnasium hatten Videokonferenzen, während dies bei Haupt-, Real- und Gesamtschülern knapp ein Viertel war. Also hier gibt es große Unterschiede zwischen den Schultypen, die unseres Erachtens nicht pädagogisch erklärt werden können."

Motivation oft gesunken

Wie groß die Lernrückstände insgesamt sind, lässt sich noch nicht sagen, stellt Dr. Annabell Daniel vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation fest.
"Das Problem ist im Wegfall des gemeinsamen Lernens zu sehen, in einem Absinken der Motivation. Wir wissen aus ersten Befragungen jetzt, dass die Schüler und Schülerinnen gerade aus den Abschlussjahrgängen sich während der Schulschließungen deutlich weniger mit schulischen Aktivitäten beschäftigt haben, deutlich weniger Zeit mit Schulaufgaben verbracht haben als das üblicherweise der Fall ist, wenn sie in Präsenzunterricht sind. Und das dürfte natürlich auch Auswirkungen auf die Lernergebnisse haben, die dadurch negativ beeinflusst werden dürften."
"Wir retten seit Jahrzehnten zusammen mit den Schülern das Schuljahr"
Das von Bund und Ländern geplante Nachhilfeprogramm zeige, dass die Politik endlich begriffen habe, dass Nachhilfeinstitute Teil des Schulsystems seien, sagte Cornelia Sussieck, Bundesverband Nachhilfe- und Nachmittagsschulen.
In der Politik ist das Thema spät angekommen. Der Deutsche Lehrerverband spricht von rund 500 Unterrichtsstunden, die seit Beginn der Pandemie weggefallen sind. Alle Jahrgangsstufen sind betroffen. Bis zum 13. April können Eltern etwa in Berlin beantragen, dass ihr Kind das Schuljahr freiwillig wiederholt, kurz danach folgen Gespräche über den individuellen Lernrückstand. Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, CDU, kündigte vor Kurzem an, den Lernstand am Ende des Schuljahres zu ermitteln und ein bundesweites Nachhilfeprogramm aufzulegen.

Wie viel ist das Abitur wert?

Geht das nicht früher?, kritisieren Bildungsforscherinnen wie Annabell Daniel. Die Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen könnten bereits jetzt gemessen werden. Fest steht, dass die Abiturjahrgänge 2020 und '21 unterschiedlich stark von dem Lockdown betroffen sind. Dass bei ihr deutlich mehr Unterricht ausgefallen ist, bereitet Abiturientin Niovi Sorgen: "Irgendwie haben wir auch das Gefühl, dass unser Abitur jetzt vielleicht gar nicht so anerkannt wird, wie das von anderen. Dabei haben wir sogar vielleicht mehr gearbeitet als je zuvor und mehr zu Hause gemacht, als wir es jemals gemacht hätten in der Schule. Und das ist die Frage: Ach, das war der Corona-Jahrgang, ach, das Abitur zählt vielleicht nicht ganz so viel. Dabei finde ich, zählt es sehr stark, weil wir wirklich noch nie so viel gemacht haben und unter den Umständen zu lernen, war wirklich nicht leicht."
Wiederaufnahme des Schulbetriebs an der Realschule Benzenberg unter Auflagen des Corona-Infektionsschutzes
Schüler mit Masken auf dem Pausenhof (dpa / Rupert Oberhäuser)
Wie es Jugendlichen in der Corona-Pandemie geht, reicht jedoch weit über ihre Rolle als Schüler und Schülerinnen hinaus. Es geht auch um die entscheidenden Übergänge ins Auslands- und Freiwilligenjahr, in ein Studium, Praktikum oder eine Berufsausbildung. Hinzu kommt die Ablösung vom Elternhaus zugunsten sozialer Beziehungen außerhalb der Familie. Was unter Pandemiebedingungen nicht funktioniert, sagt Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Universität Frankfurt.

Zwei Typen von Jugendlichen

In zwei Studien zu "Jugend und Corona" hat sie gemeinsam mit der Universität Hildesheim im März und November 2020 jeweils tausende Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 30 Jahren befragt, wie es ihnen im Auf und Ab der Pandemie geht.
"Weil wir natürlich davon ausgegangen sind, dass ihr Alltag und ihr Wohlbefinden vermutlich erheblich beeinträchtigt sein wird durch die Infektionsschutz-Maßnahmen. Und wir hatten darüber hinaus den Eindruck, dass allenfalls über Jugendliche gesprochen wird, aber sie selbst und ihre Perspektive kaum einbezogen wird, dass es auch einen sehr negativen Diskurs über Jugend in der Öffentlichkeit gab, also Jugendliche als Regelbrecherinnen und Regelbrecher."
Sozial benachteiligte Kinder und Corona - "Es ist eine kleine Katastrophe"
Die Pandemie habe die Gesellschaft in zwei Gruppen geteilt, denn die Armen verlören komplett den Anschluss, sagte Pastor Bernd Siggelkow im Dlf. Gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten sei die Lage dramatisch.
Die Studien zeigen, dass es zwei Typen von Jugendlichen gibt. Die einen fühlten sich durch die Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen während des ersten Lockdowns erheblich eingeschränkt. Die anderen gewannen der Situation viel Positives ab, weil sie ihre Zeit freier einteilen und mit den Eltern und Geschwistern intensiver zusammen sein konnten.

Angst vor der Zukunft

Beim zweiten Lockdown allerdings überwog das Gefühl, sehr viel Zeit zu verlieren und in einer Art Dauerwarteschleife zu sitzen, resümiert Sabine Andresen die Ergebnisse der zweiten Studie, JuCo2. Sorgen und Ängste spielten eine große Rolle. "Interessant finde ich an diesen Ergebnissen von JuCo2, dass wir sehr deutlich sehen, wie hoch der Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist, die Angst vor der Zukunft haben, das ist fast die Hälfte. Die besonders Betroffenen von dieser Zukunftsangst sind Jugendliche, die auch finanzielle Sorgen haben. Der Anteil der Jugendlichen, die über finanzielle Sorgen berichten, ist auch gestiegen im Vergleich zur ersten Studie. Also hier macht sich schon die gesamte wirtschaftliche Situation auch bemerkbar."
Die Pandemie bestimmt die sozialen Kontakte. Laut der Jugend- und Corona-Studie treffen sich viele Jugendliche online oder bei Spaziergängen nur mit einem Teil ihrer Freunde und Freundinnen. 28 Prozent fühlten sich von diesen häufiger und besser unterstützt. 45 Prozent gaben an, dass soziale Kontakte durch Corona abgebrochen seien. Weit mehr als die Hälfte fühlt sich einsam, mehr als 40 Prozent psychisch belastet. Die Berliner Abiturientin Niovi: "Meine Freundinnen und ich sind jetzt auch 18 geworden im Sommer. Mit 18, mit dem Erwachsenwerden, kommen ja eigentlich auch ganz viele Freiheiten, die uns jetzt verwehrt waren. Diese Möglichkeit, sich zu entdecken und diese Freiheiten auszuleben, die gab es jetzt gar nicht."

Psychische Erkrankungen

Seit Beginn der Kontaktbeschränkungen sieht Dr. Miriam Gottberg in der Potsdamer Praxis, in der sie tätig ist, täglich, dass vorbelastete Kinder und Jugendliche, wie sie sagt, trauriger, einsamer und ängstlicher werden. Auch bislang gesunde junge Menschen würden erstmals psychische Belastungen oder sogar Erkrankungen entwickeln, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
Stühle und Tische stehen in einem Klassenraum des Alten Gymnasiums. In Niedersachsen sind die Schulen seit Mitte März 2020 wegen der Corona-Pandemie geschlossen. 
Coronavirus - Situation an Schulen (dpa / Hauke-Christian Dittrich)
Sie reichen von depressiven Symptomen, wie zunehmend trauriger Stimmung, Konzentrations- und Schlafstörungen bis hin zu Essstörungen und Mediensucht. Auch Ängste vor Schule und sozialen Kontakten, Wut und Gereiztheit nehmen zu. In vielen Familien verschlechtere sich das Familienklima. Und das, obwohl diese Eltern und Kinder hart dafür kämpften, dass es ihnen besser gehe. Doch die Kräfte seien mittlerweile erschöpft. Miriam Gottberg: "Man muss sich das wirklich mal bildlich vorstellen: Jugendliche und Kinder und junge Erwachsene, die den größten Teil des Tages über Monate hinweg allein in ihren Zimmern sind und dort den Tag strukturieren müssen. Wir haben ganz viele Kinder und Jugendliche bei uns in der Praxis, die es vergessen, Pausen zu machen, die vergessen, sich essen zu machen, die vergessen, sich zu fragen: Kann ich noch? Brauche ich gerade irgendetwas anderes? Die auch vergessen, Freunde anzurufen, wenn sie Fragen haben, die gar nicht auf die Idee kommen, sich irgendwie Hilfe zu organisieren, sondern die dann, in diesen Sorgen, Fragen und Unsicherheiten verharren."

Nur noch wenige Kontake

Oft sind die Eltern nicht da, manche Jugendliche den ganzen Tag allein. Wenn sie Glück haben, sagt Miriam Gottberg, sitzt eine Schwester oder ein Bruder nebenan, und sie können gemeinsam Mittag essen. Oft aber hätten sie auch unterschiedliche Lernzeiten und würden sich kaum begegnen. "Ich habe viele Familien, in denen die Kinder und Jugendliche tatsächlich wenige außerfamiliäre, soziale Kontakte haben, in denen Freunde wenig getroffen werden, auch einzelne Freunde. Man soll ja den Kreis klein halten, aber auch, dass einzelne Freunde regelmäßig getroffen werden, passiert nicht oft. Ich plädiere sehr dafür, dass immer, wenn das irgendwie zu organisieren ist, Kinder und Jugendliche sich eine Lernblase suchen dürfen, also einen festen Lern-, Pausen- und Freizeitpartner. Und, ich finde es ganz wichtig, dass Eltern ihre Kinder egal welchen Alters dabei unterstützen, so eine Lernblase zu finden und aufrecht zu erhalten."

Es hängt von der Familie ab

Dabei hängt es weniger von finanziellen Engpässen oder vom Beherrschen der deutschen Sprache ab, ob die Jugendlichen zu Hause Rückhalt finden, sagt Ulrike Ravens-Sieberer, Professorin für Gesundheitswissenschaften, Gesundheitspsychologie und Versorgung von Kindern und Jugendlichen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Eine viel größere Rolle spiele das Familienklima. "Wenn die Familie es schafft, Unterstützung zu bieten, auch wenn sie Schwierigkeiten hat und wenn sie da ist für die Kinder als Ressource, dann schaffen das auch Familien ganz gut, die aus schlechten sozialen Verhältnissen kommen."
In der von Ulrike Ravens-Sieberer geleiteten Copsy-Studie wurden im Juni 2020 und im Januar dieses Jahres mehr als 1.000 elf- bis 17-Jährige online zum Thema befragt: Dabei zeigte sich, dass sich zwar die Lebensqualität und das psychische Befinden von einem Teil der Kinder und Jugendlichen im Verlauf der Pandemie verschlechtert habe, so die Forschungsdirektorin. Doch viele kämen gut durch die Pandemie. "Wir wissen, dass es ungefähr so zehn bis 15 Prozent von Kindern und Jugendlichen sind, die besonders unter dieser Krise leiden und die sehr belastet sind, und wo ich auch wirklich denke, dass wir mehr Hilfe zur Verfügung stellen müssen. Betroffen sind vor allen Dingen Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen. Aber man muss auch sagen, dass viele Kinder über Ressourcen verfügen, die sie schützen und die sie dann auch seelisch stabilisieren können. Und in unserer Studie hat sich als besonders wichtige Ressource die Familie herausgestellt, weil sie einfach Sicherheit bietet und Unterstützung und sie kann andere Risikofaktoren ausgleichen."

Sorgen wegen der Ausbildung

Genauer hinschauen müsste man auch bei Jugendlichen, die in der Corona-Zeit ihren mittleren Schulabschluss machen, fordert Annabell Daniel vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung. Sie hätten derzeit wenig Möglichkeiten, sich mit den eigenen beruflichen Interessen und Stärken sowie mit den Möglichkeiten auf dem Ausbildungsmarkt zu beschäftigen. Denn Betriebspraktika, Berufs- und Studienberatung an Schulen sowie Ausbildungsmessen fallen seit mehr als einem Jahr aus.
Die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt komme hinzu. Bereits im Herbst 2020 hätten die Betriebe knapp neun Prozent weniger Ausbildungsplätze angeboten als im Vorjahr. Dieses Jahr dürften es noch weniger werden. All dies verunsichere die Schüler und Schülerinnen, sagt Annabell Daniel:
"Das motiviert natürlich auch, noch länger im Schulsystem zu verbleiben, höhere Abschlüsse zu erwerben und sich auch mehr Zeit für diesen Übergang zu nehmen. In der Forschung sprechen wir häufig auch von der Moratoriumsorientierung, also, dass sich die Schüler mehr Zeit nehmen für den Übergang in die Ausbildung oder in ein Studium und auch dadurch Zeit gewinnen, sich klarer zu werden, was sie eigentlich beruflich machen möchten, wo sie hinwollen und dass der Verbleib im Bildungssystem das auch ermöglicht."

Gastronomieausbildung ohne Gäste

Besonders schwierig ist es für diejenigen, die sich bereits für eine Ausbildung im Hotel- und Gaststättenbereich entschieden haben. Kai Buttkewitz hatte gerade seine Ausbildung als Koch beendet, als die Pandemie ausbrach. Als einer der Jahrgangsbesten entschied er sich deshalb, bei seinem Ausbildungsbetrieb, einem Landgasthof mit Hotel nahe Nürnberg, einen weiteren Abschluss zu machen. Aber beides, das Lernen im Betrieb und in der Berufsschule, sei nur sehr eingeschränkt möglich, sagt der 20-Jährige.
Berliner Landesschülersprecherin"Eine enorme Unsicherheit, was unsere Zukunft angeht"
Durch die Corona-Pandemie und das digitale Lernen habe vielen Schülerinnen und Schülern im vergangenen Jahr der Austausch unter Gleichaltrigen sehr gefehlt, sagte die Berliner Landesschülersprecherin Ha Thy Nguyen im Dlf. Dadurch seien vermehrt psychische Probleme entstanden.
"Zum 14.9. habe ich dann die Ausbildung angefangen zum Restaurantfachmann, war dann genau einmal in der Schule, und dann ging das Homeschooling los. Bei mir geht’s jetzt noch, dadurch, dass ich viele Sachen, die ich als Koch gemacht habe, auch irgendwie anwenden kann. Sei es jetzt mathematisch, das ist kein Problem, aber eben für andere Leute in meiner Klasse, die schon Schwierigkeiten haben, ging es da schon los: Das ist keine ordentliche Beschulung. Da geht man halt gnadenlos unter einfach."
In der Berufsschule schaffe man beim Online-Unterricht wohl nur die Hälfte des Lernpensums, meint Kai Buttkewitz. Und der praktische Unterricht falle ganz weg. Zwar könne er im Restaurant seines Ausbildungsbetriebs üben, ein Fünf-Gang-Menü zu planen, einzudecken oder auch mal zu servieren. Aber mit richtigen Gästen komme er nicht in Berührung, denn der Landgasthof hat sich darauf umgestellt, Essen außer Haus zu liefern. Hans Schneider ist der Chef des Gasthofes und auch Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband: "Da bleibt natürlich sehr viel auf der Strecke. Wir haben ja jetzt, wenn man es zusammenrechnet, in den letzten zwölf Monaten mussten wir neun Monate schließen. Da fehlt natürlich Ausbildungsinhalt, und je näher die Auszubildenden an die Prüfung ran rücken, desto unsicherer werden sie natürlich. Aber es ist halt sehr viel Theorie, und was fehlt, ist die Praxis, das Arbeiten am Gast."

Keine Generation Corona

Wie die Ausbildung in den kommenden Monaten weitergeht, und wann die Prüfungen geschrieben werden, ist offen. Der angehende Restaurant-Fachmann Kai Buttkewitz versucht zwar, die Zeit positiv für sich zu nutzen, doch unterm Strich werde die Corona-Zeit seine Altersgruppe wohl sehr prägen: "Weil diese Einschränkung was mit der Persönlichkeit macht zu 100 Prozent. Es ist jetzt nicht so, dass wir eine ganze Generation haben werden, aber es ist auf jedem Fall über dem normalen Durchschnitt von dem, was man sonst an psychischen Problemen hat. Ich glaube, dass die Generation schwerer betroffen sein wird von irgendwelchen Sachen im späteren Lebensalter, aber auch, ich glaube, dass diese Generation auch irgendwelche Freiheiten wieder mehr zu schätzen weiß."
Von einer Generation Corona wollen die Expertinnen trotz allem nicht sprechen – auch wenn sie befürchten, dass die sozialen Unterschiede in dieser Altersgruppe zunehmen könnten.

Alternative Lernorte schaffen

Damit dies nicht geschieht, so die Berliner Schülervertreterin Luisa Regel, müsse die Politik sich endlich stärker um die Belange der Schüler und Schülerinnen kümmern – und zum Beispiel geschlossene Schulen durch alternative Lernorte außerhalb der eigenen vier Wände ersetzen.
"Weil viele vergessen: Schule heißt nicht nur lernen, Schule ist kein reiner Lernort, ist ein Begegnungsraum, ein Bildungsraum, ein Ort für soziale Interaktion. Und das fällt auch alles weg. Man muss dringend weiter die digitale Ausstattung voranbringen, dringend daran arbeiten, dass Schulen zumindest einen Sozialarbeiter bekommen, so schnell wie möglich, an den sich SchülerInnen bei Problemen melden können."