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Kein abgeschlossenes Kapitel

Elf Jahre währt die amerikanische Intervention in Afghanistan, doch der Staat steht immer noch nicht auf stabilem Fundament. Obwohl der Einsatz am Hindukusch im US-Präsidentschaftswahlkampf kaum eine Rolle spielt, versprechen beide Kandidaten einen Truppenabzug bis 2014.

Von Sabina Matthay | 03.11.2012
    "Who has something to say about the problems we face right now in Afghanistan?"

    Krisenstaat Afghanistan – gleich zum Semesterauftakt Thema eines Wochenendseminars an der George Washington University.

    "Democracy and governance are the main problem, corruption, accountability …"

    Demokratiedefizite, schlechte Verwaltung, Korruption, ein zunehmend störrischer afghanischer Präsident und natürlich der islamistische Aufstand – zahlreich sind die Probleme im zwölften Jahr der US-geführten Intervention, die die Studenten auflisten.

    "We are gonna be there …"
    Die USA werden noch lange am Hindukusch präsent sein, sagt der Seminarleiter, auch nach dem geplanten Abzug der Kampftruppen.

    "We are not actually leaving completely."

    Während die angehenden Politikwissenschaftler intensiv über amerikanische Ziele und Szenarien in Afghanistan über 2014 hinaus denken, erwecken viele Politiker im Präsidentschaftswahlkampf den Eindruck, als sei dieses außenpolitische Kapitel so gut wie abgeschlossen:

    "We are leaving. We are leaving in 2014. Period!"

    2014 sind wir da weg, beschied Vizepräsident Biden kurz und bündig. Und ausnahmsweise passt kein Blatt zwischen Demokraten und Republikaner. Mitt Romney, republikanischer Spitzenkandidat:

    "Wenn ich Präsident bin, bringen wir unsere Truppen bis Ende 2014 raus!"

    Weder Romney noch Amtsinhaber Obama erwähnten in ihrer außenpolitischen Fernseh-Debatte das strategische Partnerschaftsabkommen, das die Zusammenarbeit der USA mit Afghanistan weit über 2014 regelt, oder dass das amerikanische Militär nach Abzug der Kampftruppen an der internationalen Ausbilder- und Beratermission ITAM teilnimmt.

    Wer erwartet hatte, dass der Herausforderer danach fragen würde, ob Obamas massive Truppenverstärkung die finanziellen und menschlichen Kosten wert war, ob ein Erfolg in Afghanistan überhaupt rein militärisch definiert werden kann, der wurde enttäuscht. Dabei bietet Obamas Afghanistanpolitik nach Einschätzung des Journalisten Rajiv Chandrasekan von der Washington Post reichlich Angriffsfläche:

    "Obama kann sagen, dass Afghanistan zwar gewalttätig und chaotisch ist, dass aber die Zentralregierung zumindest Kabul und andere größere Städte kontrolliert und dass die afghanische Armee leichte Fortschritte macht. Er kann sagen, dass wir die Ausbreitung der Taliban aufgehalten haben. Aber er wird kaum sagen können, dass wir dort einen Sieg im herkömmlichen Sinne erzielt haben."

    Die Latte, so Chandrasekan, werde eben immer tiefer gehängt. Vielleicht, weil jetzt rund 60 Prozent der Amerikaner genug haben vom Einsatz in Afghanistan. Obama hielt seine Bilanz in der einzigen außenpolitischen TV-Debatte knapp:

    "Die Führung von Al Kaida ist dezimiert worden. Außerdem können wir jetzt den Übergang aus Afghanistan in verantwortungsbewusster Weise beginnen und sicherstellen, dass die Afghanen die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen."

    Werden amerikanische Truppen angesichts von Angriffen afghanischer Soldaten deren Ausbildung fortsetzen? Werden die USA sich an der Suche nach einem Nachfolger für den afghanischen Präsidenten Karzai beteiligen, der 2014 nicht wieder zur Wahl antreten kann? Werden sie Verhandlungen mit den Taliban anstreben? Darüber war im Wahlkampf weder von Obama noch von Romney etwas zu erfahren.

    Diese Verschwörung des Schweigens zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten berge Risiken, sagt Rajiv Chandrasekan:

    "Die USA werden weiterhin jedes Jahr Milliarden Dollar ausgeben müssen, um die afghanische Armee zu finanzieren, die afghanische Regierung zu unterstützen, den Afghanen humanitäre Hilfe zu leisten. Dazu ist aber politischer Konsens nötig. Wenn die Truppen jedoch nach Hause kommen, wird es immer schwieriger werden, den Kongress davon zu überzeugen, drei oder vier Milliarden Dollar pro Jahr für Afghanistan freizugeben."

    Nicht minder schwierig wird das mit Blick auf Pakistan, das sich seine Partnerschaft im Kampf gegen den Terror teuer bezahlen lässt. Allein 2010 beliefen sich die amerikanischen Subventionen auf über vier Milliarden Dollar. Doch die USA sind verärgert, weil Aufständische immer noch auf pakistanischem Boden Angriffe in Afghanistan vorbereiten können. Islamabad dagegen hat Washington bis heute nicht den Einsatz verziehen, bei dem 2011 Osama bin Laden ergriffen und getötet wurde.

    Trotzdem würde auch Mitt Romney sich als Präsident nicht von dem unzuverlässigen Verbündeten abwenden:

    "Wenn Pakistan zerfallen und zu einem gescheiterten Staat werden sollte, dann wären da seine Atomwaffen. Und Terroristen, die die Waffen in ihren Besitz bringen können. Technisch gesehen ist Pakistan ein Verbündeter. Das Land verhält sich derzeit nicht so, aber daran müssen wir arbeiten."

    Ob Romney oder Obama – die amerikanische Politik vis à vis Afghanistan und Pakistan wird über 2014 hinaus schwierige Entscheidungen erfordern. Mit dem Abzug ihrer Kampftruppen ist das Engagement der USA am Hindukusch nicht beendet. Der nächste US-Präsident wird seinen Landsleuten einiges erklären müssen.

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