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Lage in der Ostukraine
"Ich habe nirgendwo so traurige Menschen getroffen"

Nirgendwo auf der Welt habe er Menschen in so schlechter, trauriger und ängstlicher Stimmung getroffen wie bei seiner Erkundungsreise entlang der Minsker Demarkationslinie, sagte Werner Strahl von Cap Anamur im Dlf. Viele Familien seien auseinander gerissen, die medizinische Versorgung der zurückgebliebenen alten Menschen schlecht.

Werner Strahl im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Ein Mann im Dorf Nikishino im Donbas schaut aus einer zerstörten Tür auf eine leere Dorfstraße.
    Viele Menschen aus der Grenzregion in der Ostukraine sind geflohen oder in die westliche Ukraine gegangen. (AFP / Odd Anderson)
    Jürgen Zurheide: Die Lage in der Ostukraine bleibt immer noch schwierig. Auf der einen Seite gibt es diese kriegerischen Auseinandersetzungen, auf der anderen Seite immer noch die Frage der Einfluss Russlands. Er ist überall spürbar. In der Ukraine selbst gibt es allerdings auch jede Menge Probleme. Über all das wollen wir reden mit Werner Strahl von der Organisation Cap Anamur, er ist in der Ukraine gewesen und jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Strahl!
    Werner Strahl: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Wo sind Sie genau gewesen?
    Strahl: Ich bin zunächst in Kiew gewesen, und dann, wie vor zwei Jahren auch, habe ich eine Reise, eine Erkundungsreise entlang der Minsker Demarkationslinie gemacht, also in der Ostukraine im Gebiet Luhansk und Donezk, allerdings nur auf der ukrainischen Seite, denn die andere Seite ist für Ausländer verboten.
    "Meistens alte Menschen zurückgeblieben"
    Zurheide: Was haben Sie gesehen, und was haben Sie beobachten können?
    Strahl: Die Lage der Bevölkerung hat sich in den letzten zwei Jahren etwas gebessert, wobei je weiter man in den Osten kommt und in dieses Grenzgebiet, die Lage immer trauriger wird, und ich kenne viele Gebiete der Welt, ich habe nirgendwo so traurige Menschen getroffen in allgemein schlechter, trauriger und ängstlicher Stimmung wie dort in der Ostukraine. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht, da viele Menschen aus der Grenzregion weggezogen sind, entweder geflohen oder aber in die westliche Ukraine, wo sie Arbeit gefunden haben oder weiter nach Polen gegangen sind, sodass meistens alte Leute zurückgeblieben sind, die sich schlecht versorgen können.
    Die Lage an der Grenze selbst ist so schlecht, was die medizinische Versorgung, das, was unser Hauptaugenmerk ist, angeht. Es sind Krankenhäuser geschlossen worden, weil die aufgegeben wurden und teilweise zerstört wurden in dem heftigen Krieg, der geherrscht hatte, und dann nicht mehr versorgt worden sind oder nicht mehr auf der Kiewer ukrainischen Seite in der Versorgung gerechnet werden.
    Andererseits tun sich auch sehr hoffnungsvoll Dinge auf, die wir erfreut sind. Das ist eine Human-Rights-Gruppe, eine Gruppe von jungen Rechtsanwälten, inzwischen 35, die sich zusammengeschlossen haben, um Menschenrechte zu verteidigen und den Menschen auch in der Ukraine, wo viel Korruption herrscht, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Also das ist eine sehr hoffnungsvolle Sache, die auch von der Bundesregierung, vom Auswärtigen Amt und dem französischen Auswärtigen Amt gesehen wird, sodass diese Gruppe jetzt im Dezember den deutsch-französischen Menschenrechtspreis verliehen bekommt.
    Kaum staatliche Gesundheitsversorgung
    Zurheide: Lassen Sie uns noch mal eben zurückkommen auf die humanitäre Lage, gerade, was Sie geschildert haben über die gesundheitliche Versorgung. Wer müsste das machen? Das müsste doch die Regierung in Kiew eigentlich tun. Kann sie es nicht oder will sie es nicht oder beides?
    Strahl: Das Gesundheitssystem in der ganzen Ukraine ist relativ schlecht, und es soll im nächsten Jahr eine große Gesundheitsreform gemacht werden, ähnlich wie die Gesundheitsreform, die Obama in den USA gemacht hat. Die vielen armen Leute müssen sich ihre Medikamente, weil die Medikamente teilweise in den Krankenhäusern nicht vorhanden sind, selbst kaufen, und das können sie bei den sehr geringen Renten und den geringen Möglichkeiten, die Läger in den Krankenhäusern haben, nicht selbst. Das ist also ein großes Problem, dass die Leute da sich verlassen müssen auf die staatliche Versorgung, die aber nicht erfolgt.
    "Große Truppenaufmärsche in Luhansk"
    Zurheide: Inwieweit beeinflusst denn der neue Konflikt in der Ostukraine die Lage? Ich weiß nicht, was Sie davon mitbekommen haben. Da gibt es ja den selbsternannten Führer der Republik Luhansk, der offensichtlich plötzlich zurückgetreten ist und in Moskau ist. Spürt man sowas auch über die Grenze hinaus, dass es da neue Sorgen gibt über möglicherweise kriegerische oder weitere kriegerische Auseinandersetzungen?
    Strahl: Das spürt man stark, denn die Medien, die erreichbar sind, werden von den Ukrainern oder von den Leuten, die auf der ukrainischen Seite jetzt sind, sehr stark wahrgenommen. Die Sache ist sehr unklar. Ich habe das am Dienstag und Mittwoch noch mitbekommen, dass große Truppenaufmärsche stattfinden von Soldaten, die offensichtlich der russischen Armee angehören, aber ihre Hoheitsabzeichen nicht mehr tragen, sondern nur weiße Armbinden, die Stadt Luhansk übernommen haben, viele Militärfahrzeuge und Panzer sind dort aufgefahren und haben das Innenministerium und wichtige Gebäude in Luhansk selbst besetzt. Igor Plotnizki, der selbst ernannte Chef der Luhansker Volksrepublik, wie er sich nennt, ist – weiß man nicht genau, die Nachrichten aus Moskau sind unklar. Also wahrscheinlich ist er doch wieder zurückgekehrt. Er hatte ausgelöst das Ganze, weil innerhalb der Luhansker Regierung offensichtlich große Streitigkeiten stattfinden, und er hatte seinen Innenminister entlassen, der daraufhin offensichtlich russische Truppen ins Land gerufen hat und wieder eingesetzt worden ist. Aber es ist sehr schlecht zu überschauen von westlicher Seite.
    "Eine Grenzsituation wie in der DDR"
    Zurheide: Die Frage war ja auch, erwächst daraus die Gefahr weiterer Auseinandersetzungen dann möglicherweise über diese Demarkationslinie hinweg oder sagen Sie, das ist im Moment relativ ruhig?
    Strahl: Viel ruhiger als vor zwei Jahren natürlich, als der heiße Krieg noch war, aber die OSZE hat allein in der letzten Woche 9.000 Übergriffe, dass also von beiden Seiten geschossen wurde, teilweise durch Scharfschützen, teilweise aber auch durch Granaten, die auf das andere Gebiet gefeuert wurden. Also 9.000 Übergriffe, das ist doppelt so viel wie in der Woche zuvor. Da scheint die Sache etwas heißer zu werden. Die Grenze ist vermint. Also es entwickelt sich, glaube ich, ein bisschen eine Grenzsituation wie wir es in der DDR hatten, dass also nur noch vier Grenzübergänge in die beiden annektierten Gebiete Luhansk und Donezk existieren. Alles andere ist stark gesichert, sodass also da eine chronische Grenze eingetreten ist, die ganz viele Familien teilt. Das ist so schrecklich, also wenn die sich nicht besuchen können, was nur mit Schwierigkeiten möglich ist. Sie müssen besondere Pässe haben, und es ist eine traurige Situation, wenn von den Familien einige Angehörige im Westen sind. Die jungen Leute sind nach Möglichkeit in den Westen gegangen, um dort Arbeit zu finden.
    Zurheide: Was können Sie ganz konkret tun? Was tun Sie?
    Strahl: Wir haben vor zwei Jahren begonnen, ein Krankenhaus zu rehabilitieren, das einen Kilometer von der Grenze entfernt ist und jetzt für 25.000 Menschen, die in der Gegend noch wohnen, zuständig ist und werden das auch weiterführen, alte Menschen versorgen mit Hygieneartikeln, mit Windeln und Seife und Dinge, die sie brauchen. Wir unterstützen diese Human-Rights-Group, die also sehr ehrenhafte Arbeit macht, und wir werden unsere Hilfe, was offiziell verboten ist, wahrscheinlich auch in die besetzten Gebiete bringen können, wo die medizinische Versorgung noch schlechter ist. Das geschieht aber auf geheimen Wegen, die wir hier nicht veröffentlichen wollen.
    Zurheide: Dann bedanke ich mich an diesem Punkt ganz herzlich für Informationen, die Sie uns gegeben haben, einen Blick in eine Welt, in die wir nicht so oft schauen können. Werner Strahl war das von Cap Anamur. Herzlichen Dank!
    Strahl: Herzlichen Dank, Herr Zurheide!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.