Ein funktionierender Rechtsstaat und eine unabhängige Justiz seien heute selbst in Demokratien nicht mehr selbstverständlich, stellt die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fest. Die politische Einwirkung auf Richter und Justizsystem in Polen etwa sei erschreckend. Richter dürften keine Angst haben, Entscheidungen zu fällen, die Politiker vielleicht für falsch hielten, so die FDP-Politikerin. Die Gesetzgebung liege zwar bei den Parlamenten - diese dürften aber nicht alles machen, was sie wollten, sondern seien in Deutschland an das Grundgesetz gebunden. "Das ist eine der Säulen unserer wehrhaften Demokratie und gerade eine andere Weichenstellung, als wir sie in dieser Ausprägung in der Weimarer Republik hatten", erklärte Leutheusser-Schnarrenberger.
Rechtsstaat auch in Pandemie-Zeiten
Wenn Gerichte Entscheidungen der Politik kassierten oder korrigierten - wie etwa beim EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts -, sei das daher kein Beleg für zu viel Justiz, meint die Juristin. Und dass massive Grundrechtsbeschränkungen durch das Infektionsschutzgesetz immer wieder von Gerichten korrigiert wurden, zeige, dass es auch in Pandemie-Zeiten keine Aussetzung des Rechts gebe: "Der Rechtsstaat funktioniert auch in Ausnahmesituationen."
70 Jahre BGH
Am 8. Oktober wird in Karlsruhe der 70. Jahrestag der Gründung des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof gefeiert. Weit über 60 Prozent der Richter damals seien zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. Die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit sei lange nur punktuell geschehen. Erst seit einigen Jahren gebe es eine grundlegende Befassung mit der Frage, in welcher Kontinuität der BGH zu seinem Vorgänger im Dritten Reich, dem Reichsgerichtshof in Leipzig, stand und was diese bewirkte.