Sonntag, 19. Mai 2024

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Lily Montagu
Die erste Jüdin auf einer deutschen Kanzel

Im August 1928 schreiben Berliner Zeitungen von einer "Sensation": Als erste jüdische Frau überhaupt predigt Lily Montagu in einer deutschen Synagoge. Während ihre Zeitgenossen noch diskutieren, ob Frauen Rabbinerinnen werden dürfen, beansprucht Montagu selbstbewusst männliche Privilegien.

Von Christian Röther | 07.08.2018
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    Auf der Titelseite der Jüdisch-Liberalen Zeitung ist auch Lily Montagu zu sehen - obere Reihe, Zweite von links (Jüdisch-Liberale Zeitung, 24. August 1928)
    "Lange Reihen von Autos, festlich geschmückte Menschen, drängendes Getriebe. Alles strömt nach dem protestantisch schmucklosen, wenn auch jetzt geschmackvoll umgebauten Betsaale der jüdischen Reformgemeinde. Diesmal gilt‘s einer Sensation. Denn hier soll Lily Montagu predigen: die erste Frau, die in Deutschland eine jüdische Kanzel besteigt." (Bertha Badt-Strauss in der "Jüdischen Rundschau", 24. August 1928)
    Es ist Sonntag, der 19. August 1928. Unter den Besuchern der Reformsynagoge in der Berliner Johannisstraße ist auch die Publizistin Bertha Badt-Strauss. Die religiös-konservative Jüdin berichtet in der Jüdischen Rundschau von dieser liberalen "Sensation" – ein wenig spöttisch zwar, aber mit viel Empathie für die erste Frau auf der Kanzel, Lily Montagu. Sie ist damals Mitte 50.
    "Ganz zuletzt entdeckt man in all dem Getriebe vorne die gebückte Gestalt einer Frau: hochgewachsene Gestalt, Gesicht wie aus Stein gemeißelt; eingehüllt (ich weiß kein anderes Wort) in ein weites violettes Gewand, das Haupt von violettem Barett bedeckt. Tiefgeneigten Hauptes blickt sie in das schmale Gebetbüchlein der Reformgemeinde, als wolle sie es auf einmal auslernen. Diese Frau ist ganz einsam, ganz in sich versunken, ganz allein mit ihrem Gott." (Bertha Badt-Strauss in der "Jüdischen Rundschau", 24. August 1928)
    "Für Berlin war das unerhört"
    "Sie sprach über eine halbe Stunde lang auf Deutsch. Was für eine Britin vielleicht nicht leicht war, aber auch zeigt, wie wichtig das Deutsche für Theologie und das liberale Judentum damals doch noch war", erklärt Hartmut Bomhoff vom Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Er hat sich intensiv befasst mit Lily Montagu und ihrer Berliner Predigt:
    "Für Berlin war das unerhört. Es gibt auch viele Zeitungsberichte über diese Sensation."
    "Eine Sensation war es, dass eine Dame, Miss Honorable Lily Montagu, London, die Festpredigt hielt. Sie entwickelte die Gedanken des religiös-liberalen Judentums. Das liberale Judentum, so meint sie, sucht einen Ausgleich zu schaffen zwischen persönlicher Religion und Gemeinschaftsreligion." (Jüdisch-Liberale Zeitung, 24. August 1928)
    In der konservativeren Jüdischen Rundschau hingegen interessiert sich Bertha Badt-Strauss vor allem für den Gemütszustand von Lily Montagu.
    "Fast zögernd und widerwillig, als hafteten ihr die Füße am Boden, schreitet sie zur Kanzel hinauf. Und dann – beginnt eine Predigt, die auch für den ganz anders gewöhnten und gerichteten Juden zum Erlebnis wird. Diese Worte sind das in seiner Schmucklosigkeit erschütternde Bekenntnis einer Seele, die Gott gesucht hat." (Bertha Badt-Strauss in der "Jüdischen Rundschau", 24. August 1928)
    "Sie war extrem selbstbewusst"
    Lilian Helen Montagu wird 1873 in London geboren, in eine jüdisch-orthodoxe Familie, erklärt Hartmut Bomhoff:
    "Ihr Vater war lange Vorsteher einer orthodoxen Gemeinde und gar nicht glücklich über die persönliche Entwicklung der Tochter."
    Lily Montagu engagiert sich vielfältig für die jüdische Bevölkerung – für die Armen, für die Frauen.
    "Sie war extrem selbstbewusst. Sie konnte es sich leisten, weil sie aus einer wohlhabenden Familie stammt, und konnte schon als junge Frau in London das Wort erheben. Es wurde gehört, weil sie immer noch als junge Frau als orthodox galt und einfach Standing in der gewachsenen Gemeinschaft hatte", sagt Bomhoff.
    "Die Macherin"
    So wirkt sie wesentlich mit am Aufbau der Weltunion für Progressives Judentum: "Lily Montagu war die Macherin, die dafür gesorgt hat, dass sich das liberale Judentum im Jahre 1926 weltweit organisiert hat."
    Zwei Jahre später trifft sich die liberale Weltunion also in Berlin. Die religiöse Gleichberechtigung der Frauen stand damals in der jüdischen Reformbewegung noch ganz am Anfang, erklärt Hartmut Bomhoff:
    "Auch in den liberalen Synagogen hat man erst in den 30er Jahren begonnen – in Berlin – über das gemischte Sitzen, wie es so schön heißt, nachzudenken."
    "Zum Segen ist diese Frau Vielen geworden"
    Die weltweit erste Rabbinerin, Regina Jonas aus Berlin, wird ebenfalls erst in den 30ern ordiniert. In den 20ern wird im liberalen Judentum aber schon diskutiert über die religiösen Rechte und Rollen der Frauen. Doch während andere noch reden, schreitet Lily Montagu bei ihrem Besuch in Berlin zur Tat.
    "Sie machte vor allem Furore, weil sie zum Abschluss der Predigt den hebräischen Priestersegen sprach. Was einfach für damalige Verhältnisse unerhört war, dass eine Frau sich daran macht, diesen Inbegriff von Tradition der Gemeinde zu spenden", erläutert Bomhoff.
    "Es segne und behüte dich der Ewige / Es lasse sein Antlitz leuchten dir der Ewige und beschütze dich / ER wende sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden" (Aaronitischer Segen)
    Wie mag diese überraschende Segnung durch eine Frau wirken auf die Menschen in der vollbesetzten Reformsynagoge? Die religiös-konservative Jüdin Bertha Badt-Strauss jedenfalls zeigt sich wenig empört – im Gegenteil: trotz ihrer kritischen Distanz scheint sie ergriffen.
    "Wer am Morgen zu Lily Montagus Füßen saß, der fühlte, dass sich an ihr ein altes Bibelwort erfüllt hat. Zum Segen ist diese Frau Vielen geworden, in ihrer Einheit von Leben und Lehre, von Wirken und Wort. Die heilige Sprache klingt vertrauter von ihren strengen Lippen als man erwarten möchte: wie halb-vergessene Muttersprache ihrer suchenden Seele." (Bertha Badt-Strauss in der "Jüdischen Rundschau", 24. August 1928)
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    Die komplette Titelseite der Jüdisch-Liberalen Zeitung zur "liberalen Weltkonferenz" in Berlin (Jüdisch-Liberale Zeitung, 24. August 1928)