Die überwiegende Meinung von Eltern und Kindern sei es, "dass es mit dem Schulunterricht im Home Schooling wirklich nicht gut funktioniert – dass die Kinder und die Eltern sich oft allein gelassen fühlen", fasst Dominik Schneider seine Gespräche mit den Betroffenen zusammen.
Mit Blick auf die medizinische Erfassung sei zu beobachten, dass besonders Kinder mit schwereren Erkrankungen (wie z.B. Zucker) deutlich später in die Klinik kämen als zu Nicht-Pandemie-Zeiten. Schneider: "Das liegt einfach daran, dass die Kinder nicht so gut im Gesundheitsnetz – in den Kinderarztpraxen oder in den Kliniken – gesehen werden. Sie sind einfach nicht da."
Kinder, die kontinuierlich Computer gespielt haben
Zudem nehme die psychische Belastung deutlich zu, aber auch die Rate von depressiven Störungen und pathologischem Medienkonsum. Auch schlechte Ernährung und Gewichtszunahme sei bei Kindern vermehrt zu bemerken.
Schneider: "Wir sehen Kinder aus dem Dortmunder Süden, die bei uns kollaptisch in die Klinik kommen, weil sie über eine Woche kaum geschlafen haben, sondern nur kontinuierlich Computer gespielt haben – mit zwei, drei Stunden Schlaf."
Grundsätzlich, erklärte der Mediziner, bewegen sich Kinder in drei großen sozialen Räumen: in der Familie, in der Schule und bei Freunden bzw. in Hobbys. "Wir haben mit diesem harten Lockdown den Kindern zwei von diesen drei sozialen Räumen genommen. Das heißt, sie sind in ihrer Lebensrealität viel stärker eingeschränkt, als die meisten erwarten", sagte Schneider.
Der Klinikdirektor plädierte dafür, dass deshalb alles, was Kindern an Einschränkungen zugemutet werde, auch wissenschaftlich gut begründet sein müsse.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Wir haben ja gerade schon einmal über die Kinder gesprochen und die Schwierigkeiten von Kindern, die auf der Fluchtroute im Balkan festsitzen. Wir wollen auch jetzt den Blickwinkel der Kinder beibehalten, und wir fragen: Was macht die Pandemie eben eigentlich mit Kindern? Ich will jetzt ausdrücklich sagen, dass wir das nicht unter dem üblichen Blickwinkel tun, den wir häufig in der öffentlichen Debatte verwenden, wenn wir dann sagen, nun ja, die Kinder haben Schwierigkeiten, wenn sie nicht in die Schule gehen können, nicht weil die Kinder Schwierigkeiten haben, sondern weil die Eltern dann Schwierigkeiten haben und nicht arbeiten können. Das ist ja die vorherrschende Diskussionslinie. Wir wollen das jetzt ausdrücklich anders machen und fragen, was passiert im Moment mit Kindern. Ich freue mich, am Telefon ist Dominik Schneider, Professor und Chefarzt der Kinderklinik in Dortmund. Guten Morgen, Herr Schneider!
Dominik Schneider: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Schneider, wenn ich Sie jetzt so ganz allgemein frage, was ist Ihnen im vergangenen, im abgelaufenen Jahr passiert, wie erleben Sie Kinder beziehungsweise wie verändern sich Kinder in der Pandemie?
Schneider: Ja, ist schon ein verrücktes Jahr, auch für die Kinder und für die Familien und insgesamt natürlich für die Familien ein sehr belastendes Jahr. Ich hab mir, als ich im Frühjahr den ersten Schul- und auch unseren Klinik-Lockdown miterlebt habe, wo wir alles umstrukturiert haben, eigentlich angewöhnt, immer die Kinder zu fragen, wie es dir geht und wie es auch in der Schule klappt, wie es in der Kita klappt, und da sind die Meldungen sehr gemischt. Es ist doch so, dass einige Kinder jetzt in der zweiten Phase berichten, dass es in der Schule auch relativ gut klappt, aber die überwiegende Darstellung, die überwiegende Schilderung ist, dass es mit dem Schulunterricht im Homeschooling wirklich nicht gut funktioniert, dass die Kinder, aber auch die Eltern sich oft alleingelassen fühlen, und das berichten auch die Kinder als Belastung.
Zurheide: Wir reden gleich über Schule noch mal ganz speziell. Wenn so Kinder zu Ihnen kommen, wie verändern die sich, was haben Sie da wahrgenommen?
Schneider: Wir sehen ja verschiedene Sachen: Wir sehen einmal natürlich die Kinder, die mit schweren Erkrankungen bei uns in die Klinik kommen, und da gibt es nicht nur die Erfahrung bei uns jetzt in Dortmund, sondern da gibt es auch mittlerweile gute internationale Studien zu, dass die Kinder mit schweren Erkrankungen wie Zucker oder Krebserkrankung deutlich später in die Klinik kommen, teilweise wirklich in desolaten Zuständen. Das liegt einfach daran, dass die Kinder nicht so gut im Gesundheitsnetz, in den Kinderarztpraxen oder in den Kliniken, gesehen werden. Sie sind einfach nicht da. Das Zweite, dazu gibt es auch gute Studien im deutschen wie auch im internationalen Umfeld, dass halt die psychische Belastung deutlich zunimmt, die Rate von depressiven Störungen, die Rate von pathologischem Spielverhalten, pathologischem Medienkonsum, die schlechte Ernährung, die zunimmt, Gewichtszunahme. Da kann ich teilweise groteske Beispiele nennen. Das ist eine körperliche wie auch psychische extreme Belastung für die Kinder.
Probleme bestehen unabhängig von sozialen Schichten
Zurheide: Hat das was mit der sozialen Situation zu tun – Dortmund ist natürlich auch eine Stadt, die ein hohes soziales Gefälle hat –, oder sagen Sie, das hat nicht unbedingt nur, es hat auch, aber nicht nur damit zu tun? Wie ist da Ihre Wahrnehmung?
Schneider: Das geht quer durch alle Schichten. Wir sehen Kinder aus dem Dortmunder Süden, die bei uns kollaptisch in die Klinik kommen, weil sie über eine Woche lang kaum geschlafen haben, sondern nur kontinuierlich Computer gespielt haben, mit zwei, drei Stunden Schlaf. Wir sehen aber auch Kinder aus dem Dortmunder Norden, wo die Eltern einfach nicht in der Lage sind, einen geregelten Tagesablauf sicherzustellen, wo die Kinder dann wirklich in schlimmen Zuständen – eben Verwahrlosung, schlecht ernährt, schlecht gepflegt – dann auch aufgegriffen werden. Das ist nicht ein Schichtproblem, sondern das ist ein Problem, das durch alle Schichten wirklich geht.
Zurheide: Jetzt haben wir über Corona und Schule nur am Rande bisher gesprochen. Was macht das mit Kindern – Sie haben die Auswirkungen geschildert –, wenn sie eben nicht in die Schule gehen können? Auf der anderen Seite haben wir die Diskussion, welche Risiken haben wir mit Kindern in der Schule, Kinder als Treiber der Pandemie, wie ist da so Ihre Sicht auf dieses Thema, das ja durchaus umstritten diskutiert worden ist und häufig auch mit widersprüchlichen Informationen in der Öffentlichkeit. Wie ist Ihre Sicht darauf?
Schneider: Das Problem ist in der Tat, dass die Studienlage ja nicht so einfach ist, weil es gibt ja nicht ein Kind, das nur in der Schule ist und nur außerhalb der Schule ist, sondern es sind immer gemischte Sachen. Es gibt eigentlich ganz gute Erhebungen in Deutschland wie auch im Internationalen, die zeigen, dass Kinder zumindest erst mal nicht so schwer an COVID erkranken, also die Erkrankungsschwere, falls sie den Virus bekommen, ist nicht so stark, das ist erst mal gut. Das Zweite, was wir aber auch wissen, dass natürlich Infektionen auch in den Schulen gesehen werden, die werden quasi auch in die Schulen hineingetragen, und sie kommen aus den Schulen wieder hinaus. Es gibt natürlich auch in Einzelfällen mal kleinere oder größere Ausbrüche in Schulen, das ist aber insgesamt selten, wenn man das mal auf die Gesamtzahl der Studien bezieht. Und wenn man sich zum Beispiel sehr gute und umfängliche Studien des Gesundheitsamts Frankfurt anschaut, wo mal nachgeschaut wurde, was passiert denn, wenn eine Infektion in der Schule ist, man alle Kontaktpersonen untersucht hat, dann ist doch die Weitergabe in den Schulen gering. In der Regel ist weniger als eine weitere Person dann in dieser Studie durch eine Indexpatient*in dann angesteckt worden. Das heißt, die Schulen sind anders als bei Influenza nicht so der Treiber der Pandemie. Wir wissen natürlich noch nicht, wie sich die neue Mutante auswirken wird, und wir wissen natürlich auch, dass wir die Schule nicht einfach so aufmachen können, wie es früher war. Und da haben wir von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und auch von unseren Spezialisten, den pädiatrischen Infektiologen, sehr früh Maßnahmen empfohlen, die halt auch einen sicheren Schulbetrieb ermöglichen sollen. Das sind halt mehr Maßnahmen als nur Maske tragen und Fenster auf, das sind Maßnahmen, die insgesamt auch die Schulorganisation angehen, also dass man verlässliche Gruppen hat, dass man versucht, den Schulweg auch sicher zu gestalten, dass man ein Testregime implementiert in den Schulen, dass man auch eine Nachverfolgung hat, wenn einmal ein Schüler positiv ist oder eine Lehrkraft, wie dann die Infektionen nachverfolgt werden können. Das ist ein großes Maßnahmenpaket, und das ist wirklich höchste Zeit, dass das jetzt auch wirklich umgesetzt wird.
Schulschließungen dienen nicht primär den Kindern
Zurheide: Ziehen wir einen Strich darunter. Sie sagen, wenn man kluge Maßnahmen einsetzt – und es gibt ja übrigens auch Oberbürgermeister, wir haben ja einige auch im Programm gehabt, in Solingen zum Beispiel, Tim Kurzbach ist einer derjenigen –, wenn man kluge Maßnahmen macht und die gehen eben über Masken und Lüften hinaus, dann kann man die Risiken auch in der Schule so beherrschen, dass man zumindest zu einer eingeschränkten Art von Unterricht kommt, ohne dass es pandemietreibend wirkt?
Schneider: Ja, da bin ich fest von überzeugt, auf jeden Fall, und das zeigen eigentlich auch die Daten. Man kann zum Beispiel nach Frankreich schauen, wo ja auch die zweite Welle gut bekämpft worden ist, und trotzdem waren die Schulen offen und die Schulen sind weiterhin hoffen. Das kann man machen, man muss aber da natürlich viel investieren, in die Technik, aber auch vor allem in Personal, und man muss auch intelligente Lösungen finden, wie das zum Beispiel in Solingen auch vorgeschlagen worden ist. Ich glaube, das ist schon wichtig. Und wenn ich hier einen Punkt noch einmal ausführen darf: Die Einschränkungen für die Kinder sind ja wirklich massiv. Es ist so, dass Kinder sich ja letztlich in drei großen sozialen Räumen bewegen – natürlich in der Familie, aber auch in der Schule, und der dritte Raum sind natürlich die Freunde und die Hobbys. Wir haben mit diesem harten Lockdown den Kindern zwei von diesen drei sozialen Räumen genommen, das heißt, sie sind in ihrer Lebensrealität viel stärker eingeschränkt als die meisten Erwachsenen, gleichzeitig sind aber die Kinder die, die am wenigsten durch die Infektion betroffen sind. Das heißt, die Schulschließungen sind eigentlich gar nicht für die Kinder primär, sondern es sind vor allem die Schulschließungen, um die Ausbreitung der Pandemie in Deutschland zu beschränken. Deswegen muss man alles, was man an Einschränkungen den Kindern zumutet, eigentlich auch wissenschaftlich gut begründen und alles tun, damit man die kurzfristigen, aber auch vor allem die langfristigen Folgen der Schulschließung für die Kinder minimiert.
Womöglich schlechtere Chancen auf späteren sozialen Aufstieg
Zurheide: Ich kenne da Ihre Haltung, ich weiß ja, wen ich jetzt frage, aber ich frage Sie trotzdem: Kinder in unserer Gesellschaft – ich hab’s in den einführenden Worten ja schon gesagt –, wir diskutieren das zu häufig unter dem Blickwinkel, welche Auswirkungen hat das für die Erwachsenen, wenn Kinder nicht in die Schule können, können die Eltern nicht richtig arbeiten. Das zeigt ja, wie in Deutschland diskutiert wird – ich formuliere es jetzt nicht als Frage, es ist ein eher Hinweis, dass Sie das jetzt verstärken werden, unterstelle ich mal.
Schneider: Ja, wir sehen ja die kurzfristige Gefährdung der Kinder, wir sehen natürlich die psychologischen Auswirkungen, aber wir sehen auch Kinder, die wirklich akut gefährdet sind in der Lockdown-Situation, wenn wirklich diese zwei von drei sozialen Räumen wegfallen und die Kinder in manchmal ja wirklich schwierigen Bedingungen nur auf die Familie zurückgeworfen sind und die Sozialsysteme auch nicht richtig unterstützen. Wir sehen Kinder mit Kindeswohlgefährdung, Vernachlässigung, Gewalterfahrung, aber auch sexuellen Missbrauch, das sind die Risiken, die wir sehen. Aber man muss auch sehen, dass das jetzt mal für die Lebensperspektive der Kinder bedeutet, dass ja gerade Kinder, die vielleicht einen Migrationshintergrund haben, nicht so einen Bildungshintergrund in der Familie haben, die nicht so gut Homeschooling bekommen, dass die in der Schule nicht gut mitkommen, da geht die Schere auseinander. Sie haben damit natürlich schlechtere Chancen auf einen guten Schulabschluss, schlechtere Chancen auf einen sozialen Aufstieg, und das wirkt sich natürlich langfristig auf die soziale Situation der Kinder aus und natürlich auch auf die Integration der Kinder in unsere Gesellschaft.
Zurheide: Ganz kurz zum Schluss: Was muss sich da ändern oder was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Schneider: Ich hab mich sehr gefreut, dass in dieser Woche gesagt worden ist, dass wenn wir aus dem Lockdown rausgehen, dass die Schulen und die Kitas prioritär geöffnet werden können, und das kann man, glaube ich, auch sicher tun mit einer schrittweisen Öffnung von den jungen Altersklassen her. Ich glaube, das ist wichtig, und wir müssen wirklich die Stimme der Kinder hören und auch ihre langfristige Perspektive mehr in den Blick nehmen.
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