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Eröffnung vor 130 Jahren
Das Neue Theater – Kristallisationspunkt des Berliner Kulturkampfes

Kurz nachdem am 19. November 1892 das Neue Theater in Berlin eröffnet wurde, hagelte es bereits Verrisse. Doch dann sorgten einige Zufälle dafür, dass das Haus zu einem der wichtigsten Orte deutscher Theatergeschichte werden sollte.

Von Christian Berndt | 19.11.2022
Blick in das Theater am Schiffbauerdamm in Berlin, das in den 50er-Jahren vom „Berliner Ensemble“ unter Leitung Bertolt Brechts bezogen wurde
1925 erhielt das Neue Theater den Namen Theater am Schiffbauerdamm. In den 1950er-Jahren wurde es vom „Berliner Ensemble“ unter Leitung Bertolt Brechts bezogen. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Jens Kalaene)
Als am 19. November 1892 das Neue Theater mit Goethes „Iphigenie auf Tauris“ eröffnete, nahm die Kritik davon kaum Notiz. Neue Bühnen schossen zu dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden in Berlin. Und schon kurz darauf war das Neue Theater schon wieder geschlossen. Doch nur drei Monate später sorgte ein Zufall dafür, dass die Bühne Theatergeschichte schreiben sollte: Nebenan am Deutschen Theater war die geplante Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Die Weber“ verboten worden, weil die Behörden Aufruhr befürchteten. Als Ausweichstätte für eine geschlossene Aufführung pachtete man das verwaiste Neue Theater – und die Premiere wurde ein Triumph.

Max Reinhardt brachte den Wandel

Damit hatte sich der Naturalismus als führende neue literarische Strömung endgültig durchgesetzt. Das Neue Theater war nun etabliert, hatte aber finanzielle Schwierigkeiten. Bis 1903 der neue Stern am Berliner Theaterhimmel die Direktion übernahm: Max Reinhardt. Hier konnte er nun auf großer Bühne seine künstlerischen Visionen verwirklichen:

„Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers, sondern Enthüllung. Mit dem Licht des Dichters steigt er in die noch unerforschten Abgründe der menschlichen Seele. Er ist der Mensch an der äußersten Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, und er steht mit beiden Füßen in beiden Reichen."
Reinhardt wollte weg vom sozialen und psychologischen Realismus der naturalistischen Dichter und stattdessen – sichtlich inspiriert von Sigmund Freuds gerade erschienener „Traumdeutung“ - ein sinnliches Theater, das spielerisch im Unterbewussten des Menschen forscht.

1905 inszenierte Reinhardt am Neuen Theater Shakespeares „Sommernachtstraum“. Auf der Bühne wurde eine täuschend echte Waldkulisse aufgebaut und erstmals die Drehbühne als dramaturgisches Mittel eingesetzt. Der kreisende Wald erzeugte das Gefühl eines traumhaften Strudels, Reinhardt interpretierte das Stück als rauschhafte Sommernacht, in der unbewusste Triebe erwachen. Musik und Szenerie waren gleichberechtigte Akteure neben dem Text, der Regisseur emanzipierte sich vom Autor. Es war die Geburtsstunde des modernen Regietheaters. Kurz darauf ging Reinhardt ans Deutsche Theater, die damals wichtigste Bühne in Berlin, während am Neuen Theater immer wieder die Direktion wechselte.

Und dann kam Brecht

1925 erhielt die Bühne den Namen Theater am Schiffbauerdamm, zwei Jahre später übernahm der junge Schauspieler Ernst Josef Aufricht – finanziell unterstützt vom reichen Vater – die Leitung. Er wollte progressive Gegenwartsdramatik spielen und suchte für die Eröffnung verzweifelt nach einem Autor, wie er später erzählte:
„Ich sagte, wenn wir jetzt nichts finden, muss ich mich umbringen. Wir haben nur noch eine Möglichkeit, in die Künstlerlokale zu gehen. Und bei Schlichter, im kleinen Hinterzimmer, saß einer: es war Bert Brecht!“

Der gefragte Jungdichter wurde engagiert und schrieb mit Kurt Weill in kurzer Zeit ein Eröffnungsstück, das zum Jahrhundert-Welterfolg wurde: „Die Dreigroschenoper“. Das Stück lief bis 1933 über zehntausendmal an Europas Bühnen. Aufricht ließ nun kontroverse Autoren wie Ernst Toller spielen, die Rechten tobten und das Theater am Schiffbauerdamm wurde zum Kristallisationspunkt des politischen Kulturkampfes jener Jahre.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise musste Aufricht das Haus aufgeben, nach 1933 wurde es zur Lustspiel-Bühne. Nach dem Krieg war es Brechts Verbundenheit mit dem Haus zu verdanken, dass die Bühne weltberühmt werden sollte: Brecht war noch im amerikanischen Exil, als ihn der Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin einlud, dort sein Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ zu inszenieren. Die Premiere 1949 wurde ein solcher Erfolg, dass die SED-Führung Brecht den Aufbau eines eigenen Ensembles gewährte. Aber erst nach langem Drängen Brechts konnte die Truppe 1954 ins Theater am Schiffbauerdamm einziehen, das nun Berliner Ensemble hieß.
Mit den Auslandstourneen kam der Weltruhm des Theaters, der auch nach Brechts Tod 1956 anhielt. In den 60er-Jahren verlor das Berliner Ensemble den Ruf des führenden Avantgardetheaters, aber bis heute zählt es zu den wichtigsten deutschen Bühnen. Und es gibt wohl kein anderes deutsches Theater im 20. Jahrhundert, an dem sich künstlerische und politische Zeittendenzen so verdichtet haben wie hier am Berliner Schiffbauerdamm.