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NSU-Prozess
Keine Häme mehr für Radio Lotte

Am 29. April 2013 ging ein Aufschrei durch die deutsche Medienlandschaft: Bei der Verlosung der Presseplätze beim Münchner NSU-Prozess waren renommierte Medien wie die "FAZ", die "TAZ", "Die Welt" oder "Die Zeit" leer ausgegangen. Dafür bekam etwa das wenig bekannte Radio Lotte aus Weimar einen Presseplatz. Die Kritiker verstummten schnell.

Von Henry Bernhard | 23.07.2015
    Der ICE aus Berlin hält am Bahnhof Jena Paradies. Nicht weit von hier, im Stadtteil Winzerla, sind Zschäpe, Mundlos und Bönhard aufgewachsen. Der Zug endet hier. Auch Friedrich Burschel steigt aus. Er hat eine halbe Stunde Aufenthalt, dann geht es mit der Bahn weiter nach München, zum NSU-Prozess. Burschel berichtet für das Bürgerradio Radio Lotte in Weimar. Er hatte das Glück, sowohl auf der ersten als auch auf der zweiten, der ausgelosten Journalistenliste zu stehen. "Da bin ich schon richtig aus meinem Stuhl hochgefedert und dachte: Jetzt sind wir da drin und da hat mich diese Häme nicht so richtig interessiert."
    Der NSU-Prozess hat Burschel zum Pendler zwischen Berlin und München gemacht. "Ich mache wöchentlich einen Bericht, der so um die zehn Minuten dauert, wo ich über die Prozesstage berichte, aber eben auch versuche, aus dem Gerichtssaal rauszuschauen, zu schauen, was passiert in den Untersuchungsausschüssen, welche Enthüllungen sind gerade in welchem Medium veröffentlicht worden, und irgendwie zu versuchen, Zusammenhänge herzustellen. Sonst kann man das gar nicht mehr verstehen, was da vor sich geht.“
    Trailer Radio Lotte Weimar – mit einer Sondersendung aus aktuellem Anlass. Live-Interview von Chefredakteur Shanghai Drenger mit Friedrich Burschel: "Schönen guten Tag, Fritz!" – "Hallo!" – "In dieser Woche ging es ja im Gerichtssaal auch noch mal um mögliche direkte Beteiligung an den Vorbereitungen der Taten von Beate Zschäpe, oder?" – "Bilddateien wurden da ausgewertet, die im Brandschutt in Zwickau in der Frühlingsstraße gefunden worden sind, also im letzten Unterschlupf des NSU. Die sind dahin gegangen und haben sich diese, genau diese Leute, die in diesem Imbiss gearbeitet haben, ausgesucht als ihre nächsten Opfer. Also, da läuft es einem schon kalt den Buckel runter!"
    "Man muss zu Wertungen und Fragen kommen"
    Es geht dem Sender nicht nur um Berichterstattung, sondern auch um Engagement gegen rechts. Shanghai Drenger, Chefredakteur bei Radio Lotte: "Fritz Burschel hat ja hier lange Jahre in Weimar gearbeitet, hat hier die Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus mit aufgebaut, Aktivitäten initiiert gegen Rechtsextremismus, Demonstrationen angemeldet et cetera Und hat eben in dieser Zeit bei Radio Lotte als Moderator gearbeitet und als Redakteur. Und ist dann irgendwann nach Berlin gegangen und hat für die Rosa-Luxemburg Stiftung gearbeitet, was er eben jetzt noch macht."
    Es stört das Weimarer Bürgerradio nicht, dass Friedrich Burschel zwar gelernter Journalist ist, heute aber als Referent für Neonazismus bei der der Linkspartei nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet. Die Stiftung trägt zudem alle Reisekosten. Anders wäre die kontinuierliche Berichterstattung aus München für ein Bürgerradio absolut nicht finanzierbar. Aus journalistischer Sicht eine etwas heikle Konstruktion. Das sieht auch Burschel selbst so. "Ja – und das mag so sein! Und es mag auch sein, dass viele meiner Bewertungen mainstream-tauglich sind. Im Übrigen glaube ich aber auch, dass eine reine Berichterstattung - Was ist heute in unserem Guckkasten Gerichtssaal passiert? - definitiv zu wenig ist. Man muss zu Wertungen kommen, man muss zu Fragen kommen; es sind so viele Ungereimtheiten nach wie vor ungeklärt."
    So sehen es auch viele Kollegen im Gerichtssaal, die Burschels Expertise schätzen. Gerade Journalisten, die sich schon zehn, 20 Jahre mit Neonazis auseinandersetzten, könnten besser Zusammenhänge erkennen und erläutern, meint auch Kai Mudra, NSU-Berichterstatter der "Thüringer Allgemeinen". Da könne man auch eine linke politische Grundfärbung der Berichterstattung in Kauf nehmen.
    "Das Bürgerradio hat natürlich komplett eine Richtung. Der Vorteil ist, dass man jemanden hat, der sich sehr gut in der Szene auskennt. Es ist ja zulässig, da auch Experten für die journalistische Aufarbeitung mit ran zuziehen! Dass man auf derartige Möglichkeiten zurückgreift, ist okay, deswegen muss die Berichterstattung nicht schlechter sein; aber man soll es vor allen Dingen deutlich machen!"
    "Eine gesellschaftliche Diskussion findet im Grunde nicht statt"
    Die Vielfalt der Medien beim Prozess würden auch solche politisch engagierten "Sonderformen" der Berichterstattung, wie Mudra es nennt, zulassen. "Sie hören Radio Lotte Weimar. Heute nicht nur in Weimar, sondern in ganz Deutschland. Über 25 Freie Radios sind angeschlossen an unsere Sondersendung, heute live vor dem Oberlandesgericht in München in der Nymphenburger Straße."
    Ab und an erwähnen sie bei Radio Lotte es auch mal, dass Friedrich Burschel mittlerweile bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung angestellt ist. Bei der letzten Sondersendung, sechs Stunden live aus München, vom Fahrrad-Sendemobil von Radio Lotte direkt vor dem Gerichtssaal, jedoch nicht.
    "Eine gesellschaftlich wirklich profunde, tiefgehende Diskussion des NSU-Geschehens findet im Grunde nicht statt. Wie geht es einer türkischen Community in Deutschland; wie kann man verhindern, dass so was wieder passiert? Im Gegenteil: Wir müssen uns eher sogar dagegen wehren, dass der Verfassungsschutz, der Inlandsgeheimdienst, noch mehr Kompetenzen bekommt. Also, die Diskussion ist völlig fehlgeleitet. Es wird wirklich nicht über Konsequenzen diskutiert."
    Berichterstattung, Kommentar und politischer Aktivismus gehen hier Hand in Hand. Das ist wohl der Preis für ein Bürgerradio, überhaupt so umfassend berichten zu können. Häme gießt jedenfalls keiner mehr aus über Radio Lotte aus Weimar. Aber, noch einmal Kai Mudra von der "Thüringer Allgemeinen": "Das Problem ist einfach: Man sollte dann auch deutlich machen, wer für einen die Arbeit leistet."
    Friedrich Burschel steigt wieder ein in den ICE nach München. Auch wenn er inzwischen vermutet, dass dort schon lange nicht mehr die relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem NSU verhandelt werden.