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Ukraine-Konflikt
"Putin ist der Verursacher der Eskalation"

Der Grünen-Europapolitiker Werner Schulz geht mit Russlands Präsident Wladimir Putin hart ins Gericht. Im Ukraine-Konflikt entlarve sich eine "zynische Doppelmoral" des Kremlchefs, sagte Schulz im Deutschlandfunk. Vom Parlament habe er sich einen "Blankoscheck" für einen Einmarschbefehl in die Ukraine ausstellen lassen.

Werner Schulz im Gespräch mit Thielko Grieß | 16.04.2014
    Werner Schulz, Europaabgeordneter Bündnis90/Die Grünen
    Werner Schulz, bis 2014 Europaabgeordneter Bündnis90/ Die Grünen, (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Der Grünen-Europapolitiker Werner Schulz warf Putin vor, selbst der Verursacher der Eskalation zu sein. Es gebe klare Beweise, dass paramilitärische Einheiten in der Ostukraine vorgingen und die Lage destabilisieren wollten, sagte Schulz im Deutschlandfunk. Die Einheiten würden die gleichen Uniformen wie auf der Krim tragen und seien mit Kalaschnikow-Gewehren bewaffnet, die nur russische Spezialeinheit verwendeten. In der Ukraine könne man diese nicht ohne Weiteres kaufen.
    Die ukrainische Übergangsregierung agiert nach Ansicht von Schulz zurückhaltend, um nicht in die "Propaganda-Falle" Russlands zu tappen. Bei dem für morgen geplanten Treffen in Genf verlangte er von der internationalen Gemeinschaft klare Worte an den Kreml. Russland stehe mit 40.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine. Der russische Präsident habe sich einen Blankoscheck für einen Einmarsch geben lassen. "Das muss morgen in Genf alles abgeräumt werden", sagte Schulz.

    Das Interview in voller Länge
    Thielko Grieß: Anti-Terror-Einsatz - das ist der Begriff, mit dem die ukrainische Regierung bezeichnet, was auf ihr Geheiß seit gestern im Osten der Ukraine geschieht. Anti-Terror-Einsatz - auch das ist ein Begriff, der politisch aufgeladen ist.
    Morgen, am Donnerstag, soll dann in Genf eine Ukraine-Konferenz stattfinden. Vier Parteien nehmen daran teil: die EU-Außenbeauftragte Ashton, außerdem Vertreter Moskaus, Washingtons und Kiews. Angela Merkel und Wladimir Putin haben gestern Abend telefoniert, und wie es hieß, um diese Konferenz vorzubereiten. Am Telefon ist jetzt der Europaabgeordnete Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen, Abgeordneter im Europaparlament. Einen schönen guten Morgen, Herr Schulz.
    Werner Schulz: Schönen guten Morgen.
    Grieß: Der russische Präsident, Wladimir Putin, hat gestern in dem Telefonat, so heißt es, auch gesagt, dass sich die Ukraine an der Schwelle zum Bürgerkrieg befinde. Sind Sie sich mit ihm einig?
    Schulz: Nein, in keinster Weise. Wenn, dann ist er jedenfalls der Verursacher für diese Eskalation und diesen Bürgerkrieg. Hier entlarvt sich ja doch eine sehr zynische Doppelmoral. Wir können uns erinnern, dass der gleiche Präsident Putin ja seinen Amtskollegen Janukowitsch aufgefordert hatte, den Spuk auf dem Maidan mit allen Mitteln zu beenden, also mit Gewalt, und jetzt wird praktisch das Gewaltmonopol, was die Übergangsregierung ausüben will, um wieder Ordnung herzustellen in der Ostukraine, als eine Verzweiflung oder in die Verzweiflung getriebene Bewohner der Südostukraine dargestellt, obwohl wir klare Beweise haben, dass hier paramilitärische Trupps vorgehen, Spezialeinheiten, die sogenannten Spetsnaz aus Russland sehr strategisch vorgehen und bestimmte Punkte und Städte in der Ostukraine besetzen, um die Lage zu deeskalieren.
    Grieß: Herr Schulz, von diesen Beweisen, von denen Sie jetzt auch gerade gesprochen haben, wird immer wieder berichtet und geschrieben und gesprochen. Aber ich habe sie noch nirgends gesehen. Können Sie die näher beschreiben?
    Schulz: Na ja, gut. Es sind die gleichen Uniformen, wie wir sie auf der Krim gesehen haben, die berühmten und berüchtigten grünen Männlein, Kampfuniformen, Sturmmasken, schusssichere Westen.
    Grieß: Da sagt der Kreml, die gibt es ja überall zu kaufen.
    Schulz: Ja, ja, schusssichere Westen und vor allen Dingen das Kalaschnikow-Sturmgewehr AK100, das es in der Ukraine eigentlich nicht gibt und das nur diese Spezialeinheit Spetsnaz verwendet. Dieses Sturmgewehr, das können Sie nirgendwo so ohne weiteres kaufen.
    "Sie sind in einer brutalen Zwickmühle"
    Grieß: Sie würden also vorschlagen, dass die Kiewer Regierung stillhält und eben nicht diesen Versuch unternimmt, im Osten der Ukraine für Ordnung zu sorgen, so wie es dort beschrieben wird?
    Schulz: Na ja, sie sind in einer brutalen Zwickmühle. Auf der einen Seite haben sie bisher sehr zurückhaltend reagiert, um nicht in die Propagandafalle zu tappen, dass sie auf das eigene Volk schießen würden. Man bezeichnet diese Regierung ja als Faschisten, die die Macht übernommen hätten in Kiew. Und wie gesagt, sie haben bisher sehr zurückhaltend reagiert. Auf der anderen Seite sind sie bemüht, dass es am 25. Mai ja auch Wahlen gibt, dass in dieser Region tatsächlich dann gewählt werden kann und eine legitime Regierung in Kiew die Amtsgeschäfte übernehmen kann.
    Grieß: Die Bürger im Osten der Ukraine - wir wollen nicht so tun, als sei das ein Block, ein einheitlicher Block. Es gibt sehr unterschiedliche Interessen. Aber es wird doch demonstriert für eine Föderalisierung, mindestens auch für eine Loslösung von der Ukraine. Ist das nicht verständlich, dass sich Bürger einer Region von einem bankrotten Staat lossagen wollen?
    Schulz: Aber schauen Sie, das sind ja alles Forderungen, die erst in der jüngsten Zeit in dieses Land hineingetragen worden sind. Russland hatte immer Interesse an der gesamten Ukraine. Man hat, wenn man mal zurückschaut, ja versucht, den Assoziierungsvertrag mit der EU zu verhindern, weil man die Ukraine in der Eurasischen Union haben möchte. Auch auf der Krim gab es keinerlei Autonomiebestrebungen. Die Krim hatte ja sogar einen autonomen Status gehabt. Eine Loslösung oder Wiederanbindung an Russland gab es bis dahin nicht. Diese Vorschläge, neue Verfassung oder föderales Staatswesen, das sind ja alles Forderungen, die von Russland aus jetzt gekommen sind und in die Region getragen werden. Die Propaganda hat gewirkt, insofern hat die Propagandaschlacht des Kremls ja schon Erfolge gehabt. Man fürchtet sich vor der Regierung in Kiew, man fühlt sich betrogen, aber betrogen worden ist man vor allen Dingen von Janukowitsch, der das Land ausgeplündert hat, der sogar diejenigen, die ihn in der Ostukraine gewählt haben, eigentlich schmählich im Stich gelassen hat.
    "Putin hat auch vor, den Westen, die EU zu schwächen"
    Grieß: Aber es sieht doch so aus, Herr Schulz, als habe sich der Westen auf ein Feindbild eingeschossen: Kiew gut, Moskau böse. Ganz so einfach ist es doch nicht. Sergei Lawrow will sich ja morgen in Genf immerhin noch an einen Tisch setzen.
    Schulz: Nein, ein Feindbild hat Russland vor allen Dingen aufpoliert: den Westen, diesen dekadenten schwulen Westen, dieses Europa, das politisch impotent ist. Dieses Feindbild wird seit einiger Zeit gepflegt. Und ich glaube, wir machen uns gewaltig was vor. Putin hat nicht nur vor, eine Eurasische Union zu gründen, wozu er die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan braucht, sondern er hat auch vor, den Westen, die EU zu schwächen. Wenn Sie die Verbindung zu den rechtsradikalen, rechtspopulistischen Kräften in Europa beispielsweise sehen, mit denen der Kreml eine Allianz eingegangen ist. Wer waren denn die Wahlbeobachter zu diesem angeblichen Referendum auf der Krim? Eine zusammengewürfelte Gruppe aus Rechtspopulisten, Neonazis und Vertretern aus der Linkspartei aus Deutschland. Die haben diese angebliche Wahl bestätigt. Und seit etlichen Monaten laufen konkrete Verbindungen zwischen diesen rechten Parteien und dem Kreml. Das heißt, man stärkt auf der einen Seite die rechten Kräfte, denen man einen Sieg bei den Europawahlen wünscht, und auf der anderen Seite versucht man, die Ukraine zu destabilisieren.
    Grieß: Ich will noch mal ein Stück weit bei der Rhetorik bleiben, die im Westen, auch in Deutschland verwendet wird. Gestern hat der SPD-Chef Sigmar Gabriel gesagt, Russland sei „offenbar bereit, Panzer über europäische Grenzen rollen zu lassen." Ist das nicht auch ein Stück einer Rhetorik, die nahelegt, als stünde die russische Armee in Frankfurt/Oder?
    Schulz: Nein. Aber die russische Armee hat zumindest die Krim okkupiert. Da ist man dazu übergegangen, die europäische Sicherheitsordnung zu sprengen, die es ja seit Jalta, seit dem Potsdamer Abkommen gibt. Man hat das Völkerrecht ignoriert. Man steht mit etwa 40.000 Soldaten an der Grenze der Ukraine. Der russische Präsident hat sich einen Blankoscheck geben lassen, einen Einmarschbefehl, jederzeit in die Ukraine einzumarschieren und einzugreifen. Ich finde, das muss morgen in Genf alles abgeräumt werden. Ansonsten könnten wir ja durchaus mal deutlich machen, was es heißt, wenn das Völkerrecht nicht eingehalten wird. Russland hält das Memorandum von '94, das Budapester Memorandum, nicht ein, wo man sich verpflichtet hat, die territoriale Integrität der Ukraine zu achten, die Souveränität zu achten, und die Ukraine hat in der Gegenleistung die Atomwaffen abgegeben. Wir könnten ja mal das Abkommen von Montreux beispielsweise aufkündigen, was die Passage von Kriegsschiffen durch die Meerengen des Bosporus regelt. Dann hat sich die Annexion der Krim als ein Pyrrhussieg erwiesen, weil der Hafen Sewastopol nichts mehr bringt und die Schwarzmeer-Flotte sich eigentlich nur noch im Schwarzen Meer tummeln kann und nicht mehr auslaufen kann. So sieht es dann aus, wenn man das Völkerrecht nicht akzeptiert.
    "Ein sehr aggressiver Nationalismus"
    Schulz: Herr Schulz, Sie sind in der DDR aufgewachsen, haben sich einen Namen als Bürgerrechtler zunächst gemacht, dann auch als Abgeordneter in verschiedenen Parlamenten. Im Mai scheiden Sie dann aus aus dem Europaparlament. Wenn Sie das jetzt so betrachten - Sie haben ja in Ihrem Leben immer wieder mit der Sowjetunion/mit Russland zu tun gehabt, das hat Ihr politisches Wirken auch berührt -, sehen Sie in dieser Entwicklung ein Wiederaufleben alter Traditionen, die vielleicht nur für einige Jahre in Moskau in Vergessenheit geraten sind?
    Schulz: Das ist eine Mischung. Es sind nicht nur alte Traditionen, es ist vor allen Dingen auch ein sehr aggressiver Nationalismus. Aus einem angeblichen Internationalismus ist ein aggressiver Nationalismus entstanden. Wir haben das schon bei Milosevic in Jugoslawien erlebt, wie sich solche Kommunisten plötzlich häuten zu Nationalisten. Hier haben wir es damit zu tun, mit einem neoimperialen Gebietsanspruch, den Putin hat. Wenn er sagt, wir sind ein Volk, bezogen auf die Ukraine, dann klingt das eben nicht wie der uns vertraute Ruf nach Wiedervereinigung, sondern bei Putin ist das die Einverleibung der Ukraine, oder zumindest die Spaltung der Ukraine, dass man zumindest größere Teile abtrennt und wieder an Russland anbindet.
    Das ist eine völlig andere Politik, natürlich auch mit Versatzstücken aus der Sowjetzeit. Das ganze Vokabular des Stalinismus kehrt zurück. Man redet jetzt von Vaterlandsverrätern, von 5. Kolonne, von Leuten, die sich mit den Gegnern gemein machen und dergleichen. Es ist ein Hurra-Patriotismus ausgebrochen, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte in Russland. Einstimmiges oder nur eine Gegenstimme gab es in der Duma zur Annexion der Krim. Das ist wie 1914, als Karl Liebknecht der einzige war, der gegen die Kriegskredite des Kaisers gestimmt hat.
    Grieß: Historische Vergleiche sind immer schwierig.
    Schulz: Aber in dem Fall ist es eine gleiche Situation, ein Hurra-Patriotismus. Mit St.-Georgs-Schleife am Revers hat man gejubelt, dass Putin die Krim heimgeholt hat, das Einsammeln russischer Erde, wie Alexander Gauland von der AfD sagt. Das ist ein unverblümter völkischer Nationalismus der reinsten Art, was wir da erleben. Man stelle sich mal vor, es würde dazu kommen, dass polnische Erde oder deutsche Erde oder französische Erde in Europa wieder eingesammelt wird. Wir würden ja alles sprengen, was wir uns nach '45 an Friedensordnung aufgebaut haben.
    Grieß: Harte Worte, harte Kritik an der Politik Moskaus heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Werner Schulz, Europaabgeordneter von den Grünen, danke für das Gespräch, Herr Schulz, und noch einen schönen Tag.
    Schulz: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.