Dienstag, 19. März 2024

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Unabhängigkeit Schottlands
Nicola Sturgeon hat alles "auf eine Karte gesetzt"

Ob sich die Schotten für eine Unabhängigkeit entscheiden würden, hänge von der Frage nach der eigenen ökonomischen Perspektive ab, sagte Jan Eichhorn von der Universität von Edinburgh im DLF. Aktuell seien beide - Schottland und Großbritannien - in einer Extremposition, die einen Kompromiss schwer mache.

Jan Eichhorn im Gespräch mit Benjamin Hammer | 28.03.2017
    Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon geht ins Parlament in Edinburgh vor der Abstimmung über ein zweites Unabhängigkeitsreferendum.
    Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon geht ins Parlament in Edinburgh vor der Abstimmung über ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. (AFP / Andy Buchanan)
    Benjamin Hammer: Die Schotten sollen erneut über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich abstimmen. Das hat das Parlament in Edinburgh heute beschlossen. Die Regierung in London hat das so erwartet. Amused sind Theresa May und ihre Kabinettskollegen aber trotzdem nicht. Kommt es nun zu einer weiteren Abstimmung der Schotten und was bedeutet das für die Brexit-Verhandlungen zwischen UK und EU? Darüber spreche ich mit Jan Eichhorn. Er ist Sozialwissenschaftler an der Universität von Edinburgh und erforscht dort unter anderem den Wunsch der Schotten nach Unabhängigkeit. Guten Abend, Herr Eichhorn.
    Jan Eichhorn: Schönen guten Abend.
    Hammer: Das schottische Parlament fordert ein weiteres Referendum. Die britische Regierung in London, die müsste da aber mitspielen, und die sagt im Moment "No!", zumindest bis zum Austritt aus der EU. Kommt es in absehbarer Zeit überhaupt zu einer weiteren Volksabstimmung?
    Eichhorn: Das ist tatsächlich enorm spannend, denn beide Seiten sind ja in einer Extremposition, von der es so richtig eigentlich kaum einen Kompromiss geben könnte. Man sollte nicht vergessen, dass das auch beim letzten Mal in gewisser Art und Weise so war. Zumindest ging es um den Zeitpunkt. Theresa May hat ja nicht gesagt, dass es gar kein Referendum geben dürfte, aber dass es später stattfinden müsste, und ähnlich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, hatte das damals David Cameron gesagt. Er wollte damals, dass das schottische Unabhängigkeitsreferendum innerhalb einer kurzen Zeitperiode von sechs Monaten maximal stattfinden würde, und die SNP und die schottische Regierung haben sich aber durchgesetzt und damals diese zwei Jahre lange Kampagne durchführen lassen. Also es gibt auch immer Raum für die Verhandlungen über den Zeitraum, aber hier ist dieses starke Datum, der tatsächliche Brexit dann dazwischen. Da gibt es eigentlich keinen wirklichen Kompromiss dazwischen und von daher ist die Frage, wenn die britische Regierung das tatsächlich aussitzt, ob für die schottische Regierung da andere Druckmittel entstehen.
    Hammer: Welche Druckmittel könnten das sein?
    Eichhorn: Es gibt, denke ich, konkret das Hauptdruckmittel, dass der Eindruck entsteht, dass man sozusagen die Story weiter aufbaut, die britische Regierung gibt der schottischen Bevölkerung nicht die Möglichkeit, sich selber zu definieren, eine eigene Entscheidung zu treffen. Das ist das Risiko dieser Verhandlungsposition von Theresa May. Einerseits wirkt sie natürlich jetzt sehr stark und im Moment ist es auch noch so, dass die Mehrheit der Schotten gegen ein schnelles weiteres Unabhängigkeitsreferendum ist. Das kann sich natürlich aber auch ändern und wenn das der Fall sein sollte, dann könnte das natürlich so aussehen, als ob eine Westminster-Position aufgebaut wird, die sich stark gegen schottische Selbstbestimmung richtet. Wenn die SNP und die Grünen, die ja die Hauptparteien als Unabhängigkeitsbefürworter sind, das ausnutzen könnten, dann könnte sich da auch ein anderer Druck aufbauen, denn selbst wenn es ein späteres Referendum, ein, zwei Jahre nach dem Brexit geben würde, will die britische Regierung das natürlich auf keinen Fall verlieren. Da gibt es noch einiges an Spielraum, je nachdem wie sich die öffentliche Meinung in Schottland entwickelt.
    Hammer: Verstehe ich das richtig, die schottische Premierministerin glaubt aktuell nicht wirklich an eine schottische Unabhängigkeit, das ist vielmehr ein taktisches Manöver?
    Eichhorn: Das kann man durchaus so sagen. Bis vor zirka einem Jahr war auch die klare Aussage der Scottish National Party – und wir haben das auch erforscht in einer Reihe von Eliteninterviews -, dass man eigentlich nur dann ein zweites Unabhängigkeitsreferendum durchführen will, wenn man sich sicher ist, dass man das auch gewinnen würde. Man sprach davon, die Umfragen sollten idealerweise bei 60 Prozent Zustimmung sein. Da sind natürlich weit von entfernt. Wir sind so knapp unter der 50:50-Marke. Insofern war das tatsächlich für lange Zeit für Nicola Sturgeon auch stärker ein Druckmittel. Sie musste einerseits natürlich die starken Unabhängigkeitsbefürworter in ihren eigenen Reihen nicht nur besänftigen, sondern denen natürlich auch Antrieb geben. Andererseits kann sie natürlich kein zu großes Risiko eingehen. In der Hinsicht hat sie natürlich jetzt alles auf eine Karte gesetzt, denn jetzt kommt sie davon nur noch ganz, ganz schwer zurück – mit der einzigen Ausnahme (und das hat sie ja ziemlich klar gesagt und das hat auch der Fraktionschef in Westminster im House of Commence gesagt), dass wenn die britische Regierung doch noch auf die Verhandlungsvorschläge der schottischen Regierung einginge, ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum immer noch abgewendet werden könnte. Allerdings sind die Kriterien, die die SNP dafür aufgestellt hat, so hoch, dass die britische Regierung die kaum jemals erfüllen können wird.
    Hammer: Schauen wir uns das genau an. Welche Zugeständnisse könnte London denn gegenüber Schottland in Sachen Brexit machen?
    Eichhorn: Wenn man die schottische Regierung jetzt und ihr White Paper aus dem Dezember als wortwörtlich nimmt, dann müsste sie im Prinzip eine Situation schaffen, in der entweder Großbritannien doch im europäischen Binnenmarkt verbleibt, was natürlich genau diametral dem gegenübergesetzt steht, was die Premierministerin möchte, oder – das ist ja die zweite Variante, die die schottische Regierung mit angesprochen hat – dass für Schottland eine Sonderregel gefunden wird, in der Großbritannien sozusagen nicht im Binnenmarkt ist, Schottland aber schon. Das ist rein theoretisch (da beschäftigen sich mittlerweile viele Juristen mit) eventuell machbar, aber in der Praxis so unwahrscheinlich und eine so hohe Hürde, dass die eigentlich gerissen werden muss. Und wenn man sich das genau anguckt, ist das wahrscheinlich auch oder ist das jetzt seit einiger Zeit auch das Ziel. Die SNP hat sich sozusagen präsentiert als "wir sind tatsächlich kompromissbereit, man kann das abwenden, wir wollen nicht unbedingt die Unabhängigkeit, aber wir setzen diese Hürden so massiv hoch, dass man sich vorstellen müsste, ein Bundesland in Deutschland wäre Bestandteil des europäischen Binnenmarktes, der Rest Deutschlands aber nicht." Das ist natürlich in der Praxis extrem schwer vorstellbar.
    Ökonomische Perspektive steht für die Schotten im Mittelpunkt
    Hammer: Herr Eichhorn, Sie haben das letzte Referendum 2014 angesprochen, miterlebt und miterforscht. Wir sprechen jetzt im Jahr 2017. Halten Sie es für möglich, dass wir im Jahre 2020, 2022 von einem unabhängigen schottischen Land sprechen, das Mitglied der EU ist?
    Eichhorn: Man muss auf jeden Fall sagen, wenn man sich momentan die Situation anguckt, dass das eine Möglichkeit ist. Verhandlungspositionen können sich jederzeit ändern und wie gesagt, die britische Regierung sagt nicht prinzipiell Nein zu einem schottischen Referendum. Es könnte passieren, dass nach einem Brexit so etwas erlaubt würde.
    Der zweite Punkt ist dann natürlich, wie wahrscheinlich ist es, dass die Schotten für die Unabhängigkeit stimmen würden, und wenn man sich die Umfragen jetzt anguckt, gehen die seit mehreren Monaten ein paar Prozentpunkte hoch und runter. Aber wir sehen die im Durchschnitt so bei 46, 47 Prozent Zustimmung. Wenn man das vergleicht mit 2012, da waren 28 Prozent der Schotten für die schottische Unabhängigkeit; am Ende waren es 45 dann zwei Jahre später im Referendum. Das heißt, man muss das Ganze absolut in Betracht ziehen, dass das passieren könnte. Der wichtigste Faktor für die Schotten ist aber immer und wird es wahrscheinlich auch immer bleiben, die Frage nach der eigenen ökonomischen Perspektive. Fast alle Schotten, die glauben, Schottland würde es nach der Unabhängigkeit ökonomisch besser gehen, stimmen für die Unabhängigkeit, und fast alle, die denken, es würde ihnen schlechter gehen, stimmen dagegen. Es bleibt also sehr spannend und von dieser ökonomischen Frage wird sehr, sehr viel abhängen.
    Hammer: Stimmt Schottland erneut über seine Unabhängigkeit ab – darüber habe ich vor der Sendung mit Jan Eichhorn gesprochen. Er ist Sozialwissenschaftler an der Universität von Edinburgh.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.