Dienstag, 19. März 2024

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Reichsbürger
"Rechte Neigungen sind in der Polizei nicht total selten"

Dass es wie in Bayern vermutet auch unter Polizisten sogenannte Reichsbürger gibt, überrascht den Politikpsychologen Thomas Kliche nicht. Er sagte im Deutschlandfunk, gewisse Erfahrungen von Polizisten brächten einige dazu, Zuwanderung als etwas problematisch zu erleben. Dadurch finde eine Verallgemeinerung statt.

Thomas Kliche im Gespräch mit Christiane Kaess | 21.10.2016
    Sechs Polizisten in Zweierreihen von hinten, bekleidet mit Westen mit der Aufschrift "Polizei"
    Polizisten auf dem Oktoberfest 2016 in München (imago / Michael Eichhammer)
    Kliche ist Professor für Bildungsmanagement an der Universität Magdeburg/Stendal und hat jahrelang die Zeitschrift für Politische Psychologie herausgegeben. Er sagte im Deutschlandfunk, dass sich auch unter Polizisten Anhänger dieser Theorien fänden, sei nicht überraschend. So etwas sei seit 15 bis 20 Jahren bekannt. Bestimmte Erfahrungssituationen in ihrem Beruf brächten Polizisten dazu, zum Beispiel Zuwanderung für etwas Problematisches zu halten, wenn sie ständig mit kriminellen Ausländern zu tun hätten. Dadurch finde eine Verallgemeinerung statt.
    Die sogenannten Reichsbürger hingen einer Verschwörungstheorie an, derzufolge sie immer das Opfer seien. Es sei im Einzelfall schwierig zu unterscheiden, ob es sich um eine echte Psychose handle oder ob die Theorie als Vorwand genommen werden, um machen zu können, was man wolle.
    Der emotionale Gewinn durch eine Verschwörungstheorie sei für deren Anhänger enorm, so Kliche. Erstens lade er sich selbst mit Bedeutsamkeit auf, denn wenn er verfolgt werde, müsse er ja wichtig sein. Zweitens schütze er sich in Zeiten der Globalisierung vor der Unberechenbarkeit der Welt, indem er sich böse Menschen als Strippenzieher vorstelle. Drittens erkläre er sich damit sein Scheitern und seine Misserfolge, an denen er selbst ja nicht schuld sein könne.
    Politischer Kern, der anschlussfähig ist
    Die Polizei habe bei den sogenannten Reichsbürgern jahrelang weggeschaut, so Kliche. Dabei sei die Gewaltbereitschaft immer da gewesen. Jetzt sehe man, dass in unserer vergleichsweise zivilisierten Gesellschaft ein höflicher Umgang miteinander und ein Vertrauensvorschuss Grundlage dafür seien, dass sie funktioniere. Wenn es die nicht gebe, könnten wir unseren Wohlstand "von der Backe kleben", sagte Kliche.
    Die Politik könne darauf nur reagieren, indem sie langfristig dranbleibe. Sie habe das Bildungssystem in Richtung von Verstand gebracht, aber nicht unbedingt in die Richtung von Vernunft. Wir seien alle berufsfähig und marktfähig, hätten viel technisches Wissen, seien aber nicht unbedingt vernunftfähig, das heißt nicht in der Lage, sich ein Bild von der Welt zu machen, sich auseinanderzusetzen. Das müsse im Bildungswesen langfristig gestärkt werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Da will der republikanische Präsidentschaftskandidat in der gefestigten Demokratie der USA sich erst einmal überlegen, ob er das Wahlergebnis anerkennen wird. Es könnte ja gefälscht sein. Oder es wird die Glaubwürdigkeit der Presse in Deutschland von Pegida-Anhängern schlichtweg mit dem Wort "Lügenpresse" vom Tisch gewischt. In den letzten Monaten sind Aussagen wie diese fast schon selbstverständlich geworden, so oft hat man sie gehört. Die Gemeinsamkeit: Eine Abneigung gegenüber dem etablierten System, die bis hin zum Hass reicht.
    Wenn dies dann auf eine gewaltbereite Szene trifft, wird dann auch schon mal die Grenze zur Tat überschritten, zum Beispiel zur Waffe gegriffen. Das hat der Fall des sogenannten Reichsbürgers in der Nähe von Nürnberg auf schreckliche Weise belegt. Der Anhänger dieser rechten Bewegung, die glaubt, das deutsche Reich bestehe fort, und die die Bundesrepublik nicht anerkennt, er wollte mit dem deutschen Staat gar nichts mehr zu tun haben. Er hat einen Polizisten erschossen und drei weitere zum Teil schwer verletzt.
    Über all dies möchte ich sprechen mit dem Politikpsychologen Thomas Kliche. Er ist Professor für Bildungsmanagement an der Universität Magdeburg-Stendal* und er war mehrere Jahre lang Herausgeber der Zeitschrift für politische Psychologie. Guten Morgen, Herr Kliche.
    Thomas Kliche: Guten Morgen allerseits!
    Kaess: Herr Kliche, was geht in einem Menschen vor, der so sehr an seine eingebildete Welt glaubt wie der besagte Reichsbürger, dass er einen Polizisten erschießt?
    Kliche: Er fühlt sich angegriffen. Das ist ja das Schöne bei Verschwörungstheorien: Wir sind immer das Opfer. Da kommen böse Leute und wollen uns unser kleines Reich wegnehmen. Es ist dann im Einzelfall sehr schwer zu unterscheiden, ob das wirklich ein Fall von echter Psychose, einer richtigen ausgeprägten Erkrankung ist, oder ob der Mensch diese rechtsextreme Theorie - und das machen ja viele Neonazis - eigentlich als Vorwand herangezogen hat, um machen zu können, was er will. Und da die Polizei bei diesen Fällen jahrelang weggesehen hat, weil sie sie für Einzelspinner gehalten hat, die sich jetzt aber sehr erfolgreich zusammenschließen, ist er bisher damit ja auch ganz gut durchgekommen.
    "Wir haben eine vergleichsweise zivilisierte Gesellschaft"
    Kaess: Das ist jetzt ein Einzelfall, wie Sie gerade schon gesagt haben. Wie weit ist es denn allgemein von der Verschwörungstheorie zur Gewalt?
    Kliche: Im Grunde ist die ganze Geschichte, unsere im christlichen Abendland, mit Verschwörungstheorien getränkt, die dann auch zu Gewalt ausgeartet sind. Denken Sie an die Hexenverfolgung, denken Sie an die Judenpogrome, die ja dann auch mit der Vorstellung verbunden waren, die fressen kleine Kinder auf und die vergiften Brunnen. Auch diese Mischung aus die schließen sich heimlich zusammen, wollen mir was Böses, deshalb bin ich das Opfer und muss die aus der Welt schaffen und deshalb werde ich gewalttätig, diese Rechtfertigung für Gewalt, die ist da oft dabei.
    Nun gibt es Verschwörungstheorien wie etwa, wir werden aus dem All bestrahlt und deshalb muss ich irgendwelche Alu-Hütchen tragen, wo man nicht unbedingt gleich zu Gewalt neigt. Aber natürlich sind Menschen, die so denken, auch immer der Meinung, dass diejenigen, die das Offenkundige nicht sehen, also wir alle, wir Normalos, irgendwie Komplizen der bösen Kräfte sind, die sie angreifen. Das sehen wir auch sehr deutlich bei Trump. Der macht ja dann jeden, der irgendwie nicht für ihn ist, zum Komplizen des sogenannten Establishments, und das ist ein so schön unklarer Begriff, dass sich da auch jeder alles Böse reindenken kann, was ihm je im Leben widerfahren ist.
    Kaess: Wir hatten in Deutschland die Diskussion um den Galgen für Angela Merkel, der auf Pegida-Demonstrationen gezeigt wurde. Dort wurden auch Journalisten angegriffen. Ich wollte Sie jetzt eigentlich fragen, ob wir eine Verrohung der Gesellschaft haben, aber jetzt haben Sie gerade diese Beispiele aus der Vergangenheit angeführt. Also kann man sagen, diese Gewaltbereitschaft war schon immer da?
    Kliche: Die war immer da. Wir haben eine vergleichsweise zivilisierte Gesellschaft. Aber wir sehen daran - und das ist vielleicht für uns alle eine wichtige Einsicht -, dass so was wie ziviler Umgang, Freundlichkeit im Alltag, Höflichkeit, Respekt und ein Vertrauensvorschuss die Grundlage des Funktionierens unserer Gesellschaft sind. Wenn wir das aufgeben, dann können wir uns unseren ganzen Wohlstand und unsere gute Lebensweise an die Backe kleben.
    "Da gibt es böse Kräfte, die gegen mich sind"
    Kaess: Und ist das im Moment in Gefahr? Sehen Sie das so?
    Kliche: Es ist immer und in jeder Generation ein neuer Kampf und eine neue Herausforderung. Was wir jetzt haben, ist mit dieser AfD eine parteiliche Gruppierung, die jeder Art von Befeindung eine offizielle Stimme bietet, und dadurch werden solche Denkweisen, aber auch Verschwörungstheorien, oh, die haben sich zusammengeschlossen, um hier die Flüchtlinge reinzulassen, also diese Identitäre Bewegung, die deutsche Bevölkerung soll ausgetauscht werden, die werden dadurch natürlich massiv bestärkt. Denn bisher saßen, ich sage mal brutal, die Spinner allein zuhause. Nun haben sie Internet und Fernsehen und sehen, oh, andere denken ja genauso wie ich, also so spinnig ist das gar nicht. Und sie sehen, da gibt es Politiker, die sagen so was Ähnliches offiziell laut. Das ist natürlich eine enorme Bestätigung. In der Psychologie sprechen wir von Historien. Das sind große Geschichten, die in den Medien kreisen und die dadurch Aufmerksamkeit und das Gefühl ziehen, so was, was ich empfinde, darf ich haben, und die sammeln gewissermaßen Symptome und die Menschen entwickeln diese Symptome dann auch.
    Kaess: Wobei sich - das muss ich jetzt an der Stelle kurz einschieben - die AfD von der Identitären Bewegung distanzieren würde. Zumindest würde das wahrscheinlich für die Parteispitze gelten, auch wenn es da gewisse Verbindungen gibt. - Aber, Herr Kliche, woher kommt dieses Gefühl, alle sind gegen mich?
    Kliche: Na ja, es muss nicht heißen, alle sind gegen mich, aber da gibt es böse Kräfte, die gegen mich sind, und ich sehe die und andere sehen die nicht, ich durchschaue die. Das ist ja der Kern von Verschwörungstheorien, nicht unbedingt alle gegen mich. Die anderen Mitglieder meiner Verschwörungstheorie sind ja auch auf meiner Seite. Aber der emotionale Gewinn aus psychologischer Sicht ist ja enorm. Erstens lade ich mich selber mit Bedeutsamkeit auf. Ich bin auf einmal so wichtig, dass ich verfolgt werde. Als verfolgte Gruppe habe ich eine Bedeutung in der Welt, deshalb will man mich ja wegschaffen, oder auch als Person, und ich habe eine persönliche Mission. Ich muss dem nämlich entgegentreten, ich habe was kapiert, die anderen haben es nicht kapiert, also ich bin ein wichtiger Mensch.
    Der zweite Gewinn ist: Es schützt mich vor der Unberechenbarkeit der Welt. Wir haben ja letztes Jahr in unserer Gesellschaft so was wie einen Globalisierungsschock erlebt. Wir haben erlebt, dass unsere Möglichkeiten der Steuerung gegenüber den weltweiten Kräften relativ begrenzt sind. Das wird im Moment diskutiert unter dem Thema "Kontrollverlust". Und dann hofft man auf europäische Lösungen, die es aber im Moment noch nicht gibt. Wir müssen lernen, da neue Lösungen zu entwickeln. Das ist die Aufgabe der nächsten Generation. Aber jetzt sind wir erst mal gegen die Unberechenbarkeit der Welt, gegen das, was da draußen Böses passiert, Flüchtlingsströme, Umweltzerstörung, relativ wehrlos. Das ist ein scheiß Gefühl. Und das heißt: Wenn ich mir ausdenke, da sitzen böse Menschen, die machen das, dann kriege ich das relativ rasch in den Griff, es ist nicht die Welt schlechthin, sondern es sind einzelne Leute, die ich austauschen kann.
    Und der dritte Grund, weshalb ich Verschwörungstheorien attraktiv finden kann: Sie erklären mir mein Scheitern und meine Misserfolge. Denn wir erleben ja in unserer Gesellschaft eigentlich dauernd eine kleine Reihe von Verunsicherheiten, von Vereinzelungen, von Kleinheit, von Demütigung in den Ämtern, in Verhandlungen, gegenüber Bildungseinrichtungen. Wo auch immer wir sind, wir müssen uns anpassen. Da geht oft viel schief und das, was schief geht, kann ich dann plötzlich einer bösen Gruppe zuweisen und einer heimlichen Kraft. Das heißt, ich bin nicht mehr selber derjenige, der versagt hat und sich Mühe gibt.
    "Das Problem mit den Reichsbürgern ist, dass sie wirklich eine ausgeprägt rechtsextreme Theorie haben"
    Kaess: Herr Kliche, heute Morgen gibt es Meldungen, auch in der Polizei gebe es Anhänger dieser sogenannten Reichsbürger. Das würde man jetzt nicht unbedingt da vermuten, dass es dort diese "Anti-System-Haltung" gibt. Wie ist das zu erklären?
    Kliche: Doch, das würde man vermuten, wenn man vor ungefähr 15 oder 20 Jahren die Studien aus der Politikpsychologie über Einstellung in der Polizei gelesen hätte. Entschuldigung, wenn ich da so deutlich bin. Unsere Gesellschaft besteht ja inzwischen auch aus Wissensvernichtung. Es gibt einfach bestimmte Erfahrungssituationen in der Polizei, die die dazu bringen, Zuwanderung und Immigration als was Problematisches zu erleben. Die haben oft mit Kontrollsituationen zu tun, wo sie Leute erwischen, die irgendwie keinen deutschen Pass haben. Dadurch findet eine Verallgemeinerung statt und deshalb sind rechte Neigungen in der Polizei nicht total selten. Das sehen wir auch an den Reaktionen der sächsischen Polizei und das sehen wir auch übrigens an den NSU-Verstrickungen, soweit die überhaupt aufgedeckt sind. Da haben ja Teile des Verfassungsschutzes ganz schlicht die rechte Szene finanziert.
    Das Problem mit den Reichsbürgern ist, dass sie wirklich eine ausgeprägt rechtsextreme Theorie haben. Das heißt, sie unterscheiden sich von etwas seltsamen Verschwörungstheorien über Aliens und so was dadurch, dass sie einen politischen Kern haben, der anschlussfähig ist und der organisationsfähig ist. Ich habe schon verstanden, dass Sie jetzt nicht unbedingt AfD und Identitäre Bewegung gleichsetzen möchten, aber wir sehen, dass diese Verschwörungstheorien einfach im Kern von rechtsextremem oder rechtspopulistischem Denken wieder auftauchen. Die Diskussion im Stuttgarter Landtag war letztlich eine Diskussion um die Weisen von Zion, eine der größten Verschwörungstheorien und Fälschungen des frühen 20. Jahrhunderts. Der ausgeschlossene Abgeordnete fand die zitierfähig.
    Kaess: Herr Kliche, wir haben nicht mehr so viel Zeit und ich möchte Ihnen eine Frage noch stellen. Was kann die Politik dagegen tun?
    Kliche: Langfristig dran bleiben. Politik hat ja unser Bildungssystem in Richtung von Verstand gebracht, nicht Vernunft. Wir sind alle kleine technische Zwerge, die ganz toll berufsfähig sind und marktfähig sind und uns selber vermarkten können und viele Rechnungen können, die also sehr viel technisches Wissen haben, sich auf eine technische Art von Verstand vorbereiten. Das ist nicht Vernunftfähigkeit. Vernunftfähigkeit ist die Fähigkeit, sich auseinanderzusetzen, sich ein Bild von der Welt zu machen, sich mit anderen zu verständigen, sich zusammenzuschließen, Entwürfe zu wägen und zu beurteilen, und das ist eine Fähigkeit, die wir im Bildungswesen langfristig wieder stärken müssen.
    Kaess: … sagt der Politikpsychologe Thomas Kliche. Er ist Professor für Bildungsmanagement an der Universität Magdeburg-Stendal*. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
    Kliche: Schönen Tag allerseits!
    Kaess: Danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    * Versehentlich haben wir die Hochschule Magdeburg-Stendal als Universität bezeichnet.