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Wirtschaftsstandort Israel
Kaufverzicht von Siedlungsprodukten würde auch Palästinensern schaden

Eine Kennzeichnungspflicht für Produkte aus den Siedlungsgebieten würde die israelische Wirtschaft nur am Rande treffen, sagte Grisha Alroi-Arloser von der Deutsch-Israelischen Handelskammer in Tel Aviv, im DLF. Dennoch käme die Maßnahme einem Boykott gleich. Angesichts der Friedensverhandlungen hält er es für politisch unvernünftig, diesen Druck aufzubauen.

Grisha Alroi-Arloser im Gespräch mit Christine Heuer |
    Ein palästinensischer Bauer erntet am 14.2.2004 Blumenkohl auf seinem Feld, das direkt an der israelischen Grenzmauer nahe der Stadt Kalkiljah liegt.
    Aus Israel exportierte Waren stammen auch aus den Siedlungsgebieten (dpa / Alaa Badarneh)
    Christine Heuer: Israelis reagieren zunehmend gereizt auf Kritik aus der Europäischen Union oder aus Deutschland. Die Bemerkung vom europäischen Parlamentspräsidenten Martin Schulz zum Beispiel über den ungleichen Wasserverbrauch von Palästinensern und Israelis hat vor anderthalb Wochen in der Knesset einen heftigen Eklat ausgelöst, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass der Westen Israel stärker als früher unter Druck setzt, endlich Ernst zu machen mit dem Frieden im Nahen Osten. Wasser ist da nur ein Reizwort, ein anderes ist Boykott. Immer mehr Staaten kennzeichnen Waren aus Siedlungs-, also aus besetzten Gebieten. Das bringt Zollnachteile mit sich und auch einen möglichen Boykott durch Konsumenten. Die Europäische Union bereitet eine einheitliche Kennzeichnungspflicht vor. Was bedeutet das für die israelische Wirtschaft? Darüber möchte ich jetzt mit Grisha Alroi-Arloser sprechen, dem israelischen Geschäftsführer der Deutsch-Israelischen Handelskammer in Tel Aviv. Guten Morgen, Herr Alroi-Arloser.
    Grisha Alroi-Arloser: Schönen guten Morgen!
    Heuer: Worüber genau sprechen wir? Wie viel Geld verdient Israel im Handel mit Deutschland und wie viel davon mit Produkten aus den Siedlungsgebieten?
    Alroi-Arloser: Die Angabe über den Anteil der Produkte aus Siedlungsgebieten kann, glaube ich, niemand machen. Mir liegt diese Zahl nicht vor. Es ist aber ein relativ kleiner Teil, das ist ziemlich sicher. Insgesamt ist das Handelsvolumen zwischen unseren beiden Ländern relativ groß und stattlich. Es liegt bei knapp sechseinhalb Milliarden US-Dollar. Wobei wichtig ist auch aus deutscher Sicht, dass zwei Drittel davon deutsche Exporte nach Israel sind und nur ein Drittel israelische Exporte nach Deutschland.
    Israel ist für die Bundesrepublik und die bundesrepublikanische Wirtschaft der drittwichtigste Einzelmarkt in der gesamten Region zwischen Marokko und dem Iran mit 22 Ländern, und das ist schon stattlich und sichert sicherlich auch deutsche Arbeitsplätze.
    Heuer: Es mag sein, dass das wenige Waren sind, die aus den Siedlungsgebieten kommen. Sie sind heiß umstritten. Welche Waren werden denn überhaupt dort hergestellt und nach Deutschland verkauft?
    Alroi-Arloser: Es gibt landwirtschaftliche Produkte, wobei die landwirtschaftlichen Produkte insgesamt am israelischen Export nach Deutschland knapp drei Prozent ausmachen, und wie viel davon nun aus Anbaugebieten jenseits der grünen Linie kommen, kann ich momentan so nicht sagen.
    Es gibt einige Technologieprodukte. Ein sehr bekanntes Produkt, Sodastream, ist immer wieder in den Nachrichten genannt worden. Das wird teilweise in einem Stadtteil Jerusalems, der jenseits der grünen Linie liegt, zusammengebaut. Es ist im Grunde nicht viel.
    Wichtig ist, glaube ich, zu betonen, dass in den Unternehmen jenseits der grünen Linie vor allen Dingen Palästinenser beschäftigt sind und es auch palästinensische Unternehmen sind, die als Zulieferer gelten, und die Palästinenser werden auf jeden Fall durch diese Maßnahmen durchaus in Mitleidenschaft gezogen.
    "Alle sind für die Zwei-Staaten-Lösung"
    Heuer: Aber sie haben dadurch auch wenig Chancen, eine eigene Wirtschaft autark aufzubauen?
    Alroi-Arloser: Das mag sein. Aber ich möchte wirklich als Israelisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer in die politische Diskussion so nicht eingreifen. Ich glaube, dass die Friedensbereitschaft auf israelischer Seite in den vergangenen Jahrzehnten und auch jetzt bei den jetzigen Verhandlungen durchaus deutlich wird. Wenn wir uns die Stimme auf der Straße anhören, wenn wir mit den Leuten sprechen, mit unseren Kollegen sprechen hier am Arbeitsplatz und mit unseren Freunden, dann sind alle für die Zwei-Staaten-Lösung. Alle wissen, dass es einen territorialen Kompromiss geben muss, und der muss ausgehandelt werden. Und was den Verbleib der Siedlungen angeht, eines größeren Teils dieser Siedlungen, das ist auch relativ klar, dass die unter palästinensische Herrschaft gelangen, lieber früher als später. Das ist im ureigenen israelischen Interesse, da geht es den Israelis nicht so sehr um das palästinensische Interesse.
    "Empfindlicher Schlag für die israelischen Siedlungen"
    Heuer: Bislang macht die israelische Regierung aber keine Anstalten, die Siedlungen aufzulösen, und es gibt Kennzeichnungen, es gibt Zollnachteile, es gibt auch deutsche Privatunternehmen, die Waren aus den Siedlungen schlicht nicht verkaufen. Wie sehr schadet das der israelischen Wirtschaft, oder ist ihnen das eigentlich egal, weil, wie Sie sagen, sowieso nur wenige Waren aus den Gebieten exportiert werden?
    Alroi-Arloser: Ich glaube nicht, dass es egal ist. Ich glaube, dass es die Siedlungen sicherlich empfindlich trifft, dass es die israelische Wirtschaft insgesamt aber nur am Rande trifft, zumal Europa ein schwieriger Markt für Israel schon seit vielen Jahren ist und sich die israelische Wirtschaft zunehmend nach Südostasien und Lateinamerika orientiert, und da sind wesentlich größere Wachstumsraten erzielt worden in den letzten Jahren. Nach wie vor ist die Europäische Union bedeutendste Handelspartner-Region Israels, aber eben für die Importe von dort, für die Exporte nicht. Für die Exporte sind zum Beispiel die Exporte nach Nordamerika mindestens genauso wichtig und nach Südostasien werden sie immer wichtiger. Ich glaube, dass Boykott-Diskussionen nicht hilfreich sind.
    Heuer: Das ist ja auch kein Boykott; es geht ja nur um Kennzeichnungen.
    Alroi-Arloser: Ja die Frage ist, glaube ich, nicht die Kennzeichnung. Ich weiß auch, dass die Bundesregierung das ein wenig anders sieht, als das die europäischen Kollegen tun. Aber unabhängig davon wird das im Endeffekt dazu führen, wenn es da irgendein Problem zu geben scheint, der Konsument, der sich nicht unbedingt mit den Gegebenheit hier auseinandersetzen will, einfach sagt, Finger weg von israelischen Produkten, und deswegen kommt das einem Boykott schon gleich.
    Ich glaube nicht, dass das gut ist, weder für das deutsch-israelische Verhältnis, noch für das israelisch-europäische. Ich glaube, wenn die Europäische Union und die Politiker der Europäischen Union eine maßgebliche Rolle in diesem Prozess spielen wollen, dann sollte man auf die Fortsetzung dieses Verhandlungsprozesses mit Druck auf beide Seiten, denn auf der palästinensischen Seite wird gerade wieder sehr gebockt, Einfluss nehmen und dann muss im Endeffekt am Verhandlungstisch mit wirklich beteiligten Kräften aus den USA, aus Europa, des Quartetts, müssen die Bedingungen geschaffen werden, die den Palästinensern eine unabhängige Wirtschaft ermöglichen, die ihnen eine territoriale Kontinuität ermöglichen und die den Israelis die Sicherheitsbedürfnisse anerkennen, die die Israelis als jüdischer Staat brauchen.
    Vorgehensweise "politisch unvernünftig"
    Heuer: Herr Alroi-Arloser, ich möchte noch mal auf den Anfang von Ihrer letzten Antwort eingehen, wo es um die Konsumenten ging. Sie sagen doch mit anderen Worten, die Käufer von Waren aus den Siedlungsgebieten müssen nicht unbedingt wissen, woher die kommen, weil die Käufer sowieso die Hintergründe nicht oder zu wenig durchschauen.
    Alroi-Arloser: Nein, ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich glaube, dass die Kennzeichnungspflicht, wenn sie dann tatsächlich käme oder kommen soll, im Endeffekt die israelische Wirtschaft per se, die israelische Wirtschaft, die ja auch eine arabische Wirtschaft ist – ich meine, wir haben 20 Prozent arabische Bevölkerung in diesem Land, die alle beteiligt sind an den Exporten nach Deutschland oder nach Europa, die werden da in Mitleidenschaft gezogen, ohne dass sie sich irgendetwas hätten zu Schulden kommen lassen. Das ist, was ich meine. Ich glaube, dass die Diskussionen den Fortschritt bei den Verhandlungen, die jetzt stattfinden, unter großem Druck, und das finde ich ganz in Ordnung, irgendwie vorausnehmen wollen im Ausgang, und das ist meines Erachtens nach politisch unvernünftig.
    Bundeskanzlerin Merkel traf sich mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
    Bundeskanzlerin Merkel traf sich mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu (picture-alliance/dpa / Sebastian Scheiner)
    "Außergewöhnlich gute und verlässliche Beziehungen"
    Heuer: Was genau erwarten Sie denn jetzt von der deutschen Bundeskanzlerin?
    Alroi-Arloser: Zunächst einmal ist die Bundeskanzlerin eine hoch angesehene Freundin Israels in diesem Land. Das sagen nicht die Politiker, sondern wenn Sie sich in ein Taxi setzen und zufälligerweise am Telefon Deutsch sprechen, dann wird der Taxifahrer sagen, "Ah, Deutschland, Merkel, tolle Frau!" Das ist hoch interessant, das ist seit Jahren so und das ist interessant und deswegen hat sie auch, glaube ich, gute Einflussmöglichkeiten, sogar auch auf Premierminister Netanjahu. Da bin ich sicher.
    Die Tatsache, dass das die ersten Regierungskonsultationen sind, wo fast das gesamte Bundeskabinett mit dabei ist, will auch zeigen, wie außergewöhnlich gut und verlässlich und belastbar diese Beziehungen sind, auch wenn es tagespolitische Meinungsverschiedenheiten geben mag.
    Heuer: Heißt das, Angela Merkel darf auch offen die israelische Regierung auch mit Blick auf die Siedlungen kritisieren?
    Alroi-Arloser: Erstens hat sie das schon getan. Zweitens darf sie das selbstverständlich. Sie ist die deutsche Bundeskanzlerin. Sie ist aber eine sehr nachdenkliche Person. Sie kennt die Situation in diesem Land, kennt auch die innenpolitische Situation im Land und weiß, dass eine öffentliche Kritisierung oft weniger weit führt als das stille Gespräch, in dem man Einfluss nehmen kann, und das tut sie, glaube ich, nicht nur sie, sondern auch die Menschen in ihrem Kreis.
    Heuer: Und was erwarten Sie von der israelischen Regierung?
    Alroi-Arloser: Ich erwarte von der israelischen Regierung, dass sie alles tut, dass dieser Friedensprozess zumindest von der israelischen Seite endlich beendet wird und mit einem Abkommen beendet wird, das wir alle dringend brauchen. Das braucht die israelische Wirtschaft, das braucht die israelische Öffentlichkeit, das brauchen israelische Eltern für ihre Kinder und das brauchen die Palästinenser genauso. Wir haben auf beiden Seiten viel zu verlieren, wenn es wieder krachen und knallen sollte.
    Auf der anderen Seite muss man aus dem Gott sei Dank sicheren Europa immer berücksichtigen, dass wir hier in einer Ausnahmeregion und in einer Ausnahmesituation leben, in der es weder strategische Tiefen gibt noch irgendeine Verlässlichkeit in die Rechtssicherheit unserer Nachbarn. Wir haben eine schwierige Nachbarschaft, das hat sich in den letzten drei, vier Jahren sehr, sehr deutlich nachzeichnen lassen, und einen strategischen Fehler können wir uns nicht leisten. Wir können uns hin und wieder taktische Fehler leisten, das haben wir zur Genüge getan. Strategische Fehler können wir uns nicht leisten, weil es uns dann nicht mehr geben würde.
    Heuer: Und eine Zwei-Staaten-Lösung unter Preisgabe der Siedlungen, das wäre ein strategischer Fehler, oder ginge das für Sie in Ordnung?
    Alroi-Arloser: Eine Zwei-Staaten-Lösung muss sein. Das wäre das strategisch einzig richtige. Aufgabe der Siedlungen ist ein Thema, über das man dann sprechen muss. Man darf nie vergessen, dass ein Teil dieser Siedlungen sicherlich sich so entfernt mitten im palästinensischen Gebiet befindet, dass diese zu halten die territoriale Kontinuität der Palästinenser unmöglich machen würde. Deswegen werden diese Siedlungen aufgegeben werden müssen.
    Auf der anderen Seite gibt es große Siedlungsblöcke, in denen viele völlig unideologische Israelis leben, weil man dort billiger an Wohnraum geraten konnte und das ist relativ nah an der Grenze. Deswegen glaube ich, dass es Gebietstausche geben werden muss. Und was man auch ganz laut sagen muss ist, dass es in Israel ja eine große arabische Bevölkerung gibt und deswegen es keinen Grund auf der Welt geben darf, dass in einem unabhängigen palästinensischen Staat nicht auch Juden leben dürfen.
    Heuer: Grisha Alroi-Arloser, Geschäftsführer bei der Deutsch-Israelischen Handelskammer in Tel Aviv. Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Alroi-Arloser, und ich wünsche Ihnen einen guten Tag.
    Alroi-Arloser: Ihnen auch alles Gute!
    Heuer: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.