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Costa Concordia-Havarie vor zehn Jahren
 "Gehen Sie, verdammt noch mal, an Bord, Kapitän!"

Mehr als 3.000 Menschen sind an Bord des Kreuzfahrtschiffs "Costa Concordia", als es am 13. Januar 2012 im Tyrrhenischen Meer einen Felsen rammt und leck schlägt. Noch während die Evakuierung der Passagiere läuft, verlässt Kapitän Francesco Schettino das Schiff.

13.01.2022
Das Kreuzfahrtschiff "Costa Concordia" im Juni 2012, mit einer Schlagseite von fas 90 Prozent , fünf Monate nachdem es vor der italienischen Insel Giglio auf Grund gelaufen war
Das Kreuzfahrtschiff "Costa Concordia" im Juni 2012, fünf Monate, nachdem es vor der italienischen Insel Giglio auf Grund gelaufen war (picture alliance / ROPI)
Bald nach dem Auslaufen begeben sich die meisten der gut 3.200 Passagiere zum Dinner in die Restaurants unter Deck. Es ist der Abend des 13. Januar 2012. Die "Costa Concordia" steuert von Civitavecchia, der kleinen Hafenstadt bei Rom, hinaus ins Tyrrhenische Meer. Das Schiff ist der ganze Stolz seiner Reederei Costa Crociere: Von einem amerikanischen Designer gestaltet, sind die Decks in den Farben der europäischen Länder gehalten, nach denen sie benannt sind. In seinem Bauch befindet sich der größte Wellnessbereich, den es bis dahin je auf einem Kreuzfahrtschiff gegeben hat. Gegen 21.45 Uhr spüren die Reisenden plötzlich einen starken Stoß. Die Speisesäle werden dunkel, es bricht Chaos aus. In fünf Sprachen beruhigen Lautsprecher-Durchsagen die Menschen an Bord:
"Wegen technischer Probleme haben wir gerade ein Blackout. Es besteht kein Grund zur Panik. Bitte bleiben Sie ruhig. Unsere Techniker arbeiten daran, um das Problem zu lösen."

Der Kapitän will ein schönes Bild vor Insel-Kulisse bieten

Gerade hat die "Costa Concordia" die kleine Insel Giglio passiert – in, wie Augenzeugen später aussagen werden, beängstigender Nähe zur Küste. Vor Gericht werden Gutachter vermuten, dass dies mit voller Absicht und aus Werbezwecken geschehen ist, um ein besonders schönes Bild des Schiffes vor der Insel-Kulisse zu erzeugen. Diese Praxis hat in Italien einen eigenen Namen, die „Verneigung“. Für den Kapitän, den 51-jährigen Francesco Schettino, ist sie eigentlich Routine. Heute aber rammt er einen Felsen, der das Schiff auf einer Länge von 70 Metern aufreißt. Anstatt die Passagiere, die teilweise bereits Rettungswesten tragen, sofort in die Rettungsboote steigen zu lassen, beschwichtigt er – und schickt sie zurück in ihre Kabinen. Einer von ihnen ist Gerd Hammer aus Königswinter:
„Also, was ich wirklich katastrophal fand, dass der Kapitän lange Zeit hat durchgeben lassen, in fünf Sprachen: Wir haben ein technisches Problem. Aber wir haben alles im Griff.“

Motorengeräusche und Schreie

Die "Costa Concordia" bewegt sich nun auf die Insel zu. Schettinos Version zufolge absichtlich, um besser evakuieren zu können. Gutachter halten dagegen: Der Wind und die Strömung hätten es, navigationsunfähig, auf die Insel zugetrieben. Dort beobachtet Fabio Bernardini, Bewohner der Insel Giglio, die Katastrophe. Wie er später berichtet, hörte er die Motorengeräusche - "und die Schreie, und da war auch ein Stromausfall. Es funktionierte nur noch die Notbeleuchtung"

Schiff bekommt immer mehr Schlagseite

In dieser Nacht nimmt Bernardini 30 Schiffbrüchige auf und bewirtet sie in seiner Küche. Kurz nach 22 Uhr erfährt der Hafenkapitän in Livorno von der Havarie und will sich per Funk ein Bild machen: Die Costa Concordia meldet lediglich einen Stromausfall. In Wirklichkeit liegt das Schiff kurz darauf auf dem Küstensockel der Insel und bekommt immer mehr Schlagseite. Erst gegen 22.30 Uhr erklingt das Hornsignal: Endlich wird evakuiert, unter schwierigsten Bedingungen, erzählt Gerd Hammer:
"Man musste auf der Seitenwand laufen. Hatte rechts den Fußboden als Wand. Links das Dach von dem Deck als Wand. Und oben drüber das Gitter."
Es dauerte zwei Stunden, bis genügend Hubschrauber und helfende Boote vor Ort waren. Etwa 200 Passagiere waren, als das Schiff noch trieb, von Bord gesprungen und Richtung Insel geschwommen. Etwa 150 weitere wurden später von Helfern aus dem Meer gerettet. Die Leitung der Aktion hatte Gregorio de Falco übernommen, Marineoffizier im Hafen von Livorno. Mit Schrecken erfuhr er nun, dass es bereits Tote gegeben hatte, der Kapitän aber längst von Bord gegangen war. Via Funk appelliert er an Schettino. Der behauptete, er wolle die Rettungsaktion von der Insel aus koordinieren.
De Falco: "Hören Sie, Schettino, steigen Sie jetzt ins Rettungsboot und gehen Sie zurück an Bord! Da sind Kinder, gehen Sie an Bord, verdammte Scheiße.“
Schettino: „Comandante, ich bitte Sie.“
De Falco: „Sie weigern sich? Gehen Sie zurück, das ist eine Order, Sie haben das Boot verlassen.“
Der vormalige Kapitän des verunglückten Kreuzfahrtschiffs "Costa Concordia" spricht in Giglio vor Journalisten.
Der vormalige Kapitän des verunglückten Kreuzfahrtschiffs "Costa Concordia" spricht in Giglio vor Journalisten. (EPA/MAURIZIO DEGL'INNOCENTI)
"Vada a bordo, cazzo!": "Gehen Sie, verdammt noch mal, an Bord!“ – wurde in Italien zum geflügelten Wort. Schettino hatte ein jahrhundertealtes Tabu verletzt: Der Kapitän bleibt an Bord, bis alle anderen gerettet sind. In der Nacht vom 13. auf den 14. Januar 2012 starben vor der Insel Giglio 32 Menschen. Schettino wurde 2015 zu 16 Jahren Haft verurteilt, die er, nach mehreren Revisionsversuchen, 2017 antreten musste. Bis heute sieht er sich nur als teilschuldig und kämpft gegen das Urteil, mittlerweile vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.