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10. Todestag von Maurice Sendak
Von Brooklyn zu den Wilden Kerlen

Kinderbücher sollen zeigen, wie man König über alle Monster - auch im Inneren wird. Und so wurde Maurice Sendak mit seinem Opus magnum "Wo die Wilden Kerle wohnen" zu einem König dieses Genres. Heute vor zehn Jahren starb der US-Autor und Illustrator.

Von Carola Zinner | 08.05.2022
Der Kinderbuchautor Maurice Sendak  1985 in der Rosenbach Library, Philadelphia vorlesend aus seinem größten Erfolg -  "Wo die wilden Kerle wohnen"
Maurice Sendak vorlesend aus seinem größten Erfolg - "Wo die wilden Kerle wohnen" (picture alliance / dpa)
"An dem Abend, als Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte, schalt seine Mutter ihn ‚Wilder Kerl‘. ‚Ich fress dich auf‘, sagte Max, und da musste er ohne Essen ins Bett. Genau in der Nacht wuchs ein Wald in seinem Zimmer - der wuchs und wuchs, bis die Decke voll Laub hing und die Wände so weit wie die ganze Welt waren.“
Mehr als 100 Bücher hat der Illustrator und Kinderbuchautor Maurice Sendak bis zu seinem Tod am 8. Mai 2012 verfasst, aber keines wurde so berühmt wie die Geschichte vom wilden Max, der nach der Verbannung auf sein Zimmer in eine phantastische Welt gerät, wo schreckliche Gestalten ihr Unwesen treiben. Doch wie riesig die wilden Kerle auch sind, wie spitz ihre Hörner, wie scharf die Krallen: gegen den kleinen Max in seinem Wolfskostüm kommen sie nicht an.
„Er starrte in alle ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen. Und machten ihn zum König aller wilden Kerle. Und jetzt, rief Max, machen wir Krach! "

Zunächst harsche Kritik und Struwwelpeter-Vergleiche

Zur "Zähmung der Dämonen gehört, dass man erst einmal wie wild rumtobt",  weiß die Jugendbuch-Expertin Roswitha Budeus-Budde. Im Jahr 1963 allerdings, als „Where The Wild Things Are“ erschien, wie der Originaltitel der „Wilden Kerle“ lautet, habe die Fachwelt das noch anders gesehen. "Er hat für dieses Buch große Kritik bekommen. Es gab viele Leute, die das neben den Struwwelpeter stellten, und sagten: beides geht überhaupt nicht!“
Wild, phantastisch, grausam: Das, was an Sendaks Werken oft als „nicht kindgerecht“ bemängelt wurde, war für ihn selbst, geboren 1928 in Brooklyn als Sohn polnisch-jüdischer Emigranten, genau das, was dem „Kind-Sein“ entspricht.
"Vor kurzem habe ich über die Monster nachgedacht, die mich in meiner Kindheit so sehr erschreckt haben, dass sie mich dazu brachten, ein Künstler zu werden. Ich kann nur einige von ihnen benennen: natürlich meine Eltern. Der Staubsauger, der mich noch immer mit Schrecken erfüllt. Meine Schwester. Die Lindbergh-Entführung. Und schließlich die Schule, die ich mit einem verzweifelten Abscheu ertrug.“

Sendaks Credo: "Kinder wollen so gerne erschreckt werden"

Es sind Motive, die sich allesamt mehr oder weniger verschlüsselt in Sendaks Werken wiederfinden, ob es nun Higgelti Piggelti Pop!" ist, " oder das Pop-Up-Buch „Mummy“, das großteils in einer Gruft spielt, mit all dem zugehörigen Grauen, aber auch mit einem deutlichen Augenzwinkern. Und Sendaks Credo: "Kinder wollen so gerne erschreckt werden. Ich wüsste nicht, was sie lieber mögen!“
Mit Schrecken allein allerdings ist es nicht getan: Es sind die wunderbaren Illustrationen, die Sendaks Werke so faszinierend machen. Allein die drei Doppelseiten, auf denen die Wilden Kerle im Wald unter dem Diktat ihres Königs Krach machen: eine einzigartige bildliche Darstellung kindlichen Tobens, in großzügigen Formen, die durch unzählige feine Linien und Striche ihre Plastizität bekommen. Ganze fünf Jahre, erzählte Sendak, habe er an diesem Werk gearbeitet, in das seine frühe Prägung durch Disneys Film „Fantasia“ ebenso eingeflossen ist wie seine Bewunderung für die Meister der „Alten Welt“. Und genau so wenig wie sich in den Werken von Ludwig Richter oder Wilhelm Busch „Niedliches“ findet, gibt Sendak ihm in dem seinen einen Platz.
„Wir Kinderbuchautoren sollen Kinder schützen, während sie andererseits von niemandem sonst beschützt werden. Niemand schützt sie vor dem Leben, weil man vor dem Leben nicht beschützen kann.“
„Kindheit ist eine schwierige Zeit", unterstreicht Roswitha Budeus-Budde: "In der Kindheit lernt man, mit seinen Ängsten umzugehen, mit seinen Frustrationen umzugehen.“ Und den Erwachsenen bleibt da am Ende eigentlich nur eines: den Kindern zu zeigen, wie man spielerisch König wird über alle Monster - sogar über die im eigenen Inneren.
„Und er segelte zurück, fast ein ganzes Jahr und viele Wochen lang und noch einen Tag - bis in sein Zimmer, wo es Nacht war und das Essen auf ihn wartete. Und es war noch warm.“