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Vor 100 Jahren geboren
Otl Aicher und sein Design in gesellschaftlicher Verantwortung

Der Grafikdesigner Otl Aicher wurde als Gestalter des farbenfrohen Erscheinungsbildes der Olympischen Spiele von München 1972 berühmt. Seinen nachhaltigsten Einfluss aber hatte er als Vordenker einer gesellschaftlich verantwortlichen, sozialen Produktgestaltung. Vor 100 Jahren wurde er in Ulm geboren.

Von Jochen Stöckmann | 13.05.2022
Der Grafiker, Designer, Architekt, Otl Aicher (1922-1991) sitzt 1970 an seinem Schreibtisch, im Hintergrund eine Tafel mit Piktogrammen, Symbolen, Zeichen, die er für die Sportarten der Olympischen Sommerspiele 1972 in München entworfen hat
Otl Aicher (1922-1991) hier 1970 vor einer Tafel mit Piktogrammen, die er für die Sportarten der Olympischen Sommerspiele 1972 entworfen hat (picture-alliance / Sven Simon)
"Otl Aicher, der Gestaltungsbeauftragte der Olympischen Spiele, derzeit Deutschlands Superdesigner: Er wird ein ästhetisches Bild schaffen, das Briefpapier, die Bulletins und Kataloge erfasst, das ganze ästhetische Klima." – "Die Sportler werden blau, Presse- und Fernsehleute grün, die Technik orange, fürs Protokoll wird Silber reserviert.“
So beschreibt ein Radiokommentator, was die Besucher 1972 in München erwartet: Olympische Spiele in allen Farben des Regenbogens. Selbst für Polizei und Feuerwehr sind leichte Overalls anstelle der Uniformen vorgesehen. Damit entwirft Otl Aicher ein Gegenbild zur bombastischen Propagandaschau der Nazis 1936 in Berlin.
"Waldi" Maskottchen der Olympischen Spiele München 1972 von Otl Aicher
"Waldi" Maskottchen der Olympischen Spiele München 1972 von Otl Aicher - hier 2017 auf der Deutschen Designausstellung in Doha, Katar (Gerhardt Kellermann)
Nicht als übermächtiger „Superdesigner“, das würde seiner Lebens- und Arbeitsweise widersprechen: In Ulm am 13. Mai 1922 geboren, war der engagierte Katholik und Nazigegner mit den Kindern der Familie Scholl befreundet, den Gründern der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“.

Handwerk statt Kunstmarkt

Zum Kriegsdienst gezwungen, desertiert Aicher 1945 und heiratet nach einem Bildhauerstudium Inge Scholl. Sie leitet die von beiden gegründete Volkshochschule in Ulm, Otl Aicher gestaltet das grafische Erscheinungsbild. Ein Plakat von 1948 findet sich im New Yorker Museum of Modern Art. Der Autodidakt hat es nicht signiert. Er schert sich nicht um den Kunstmarkt, sondern versteht sich als Handwerker im Dienst einer gemeinsamen Sache:
„Wir waren immer sehr allergisch gegen jede kommerzielle Ausnutzung des Designs. Das hat immer zu tun gehabt mit unserer Absicht, Designtätigkeit zu projizieren auf nicht nur täglichen Bedarf, sondern auch auf gesellschaftlichen Bedarf.“

Von Aicher mitgegründet: die Ulmer Hochschule für Gestaltung - das Bauhaus der Bundesrepublik

Zweckmäßige, zugleich ästhetisch angemessene und langlebige Produkte entwerfen, das macht sich die Hochschule für Gestaltung zur Aufgabe. 1953 von Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher und dem Bauhaus-Architekten Max Bill in Ulm gegründet, soll die später legendäre „HfG“ auch zur „demokratischen Erziehung“ beitragen. Denn nur durch gleichberechtigte Kooperation ist das hochgesteckte Ziel einer umfassenden Humanisierung des Alltags zu erreichen – auch Betriebswirte und Ingenieure werden einbezogen, so Otl Aicher:
Die Industrie hat uns sehr vitalisiert und hat uns sehr viel Anregungen verschafft. Wir waren auch alle immer gern in Betrieben und haben technische Verfahren gelernt und uns drum gekümmert, so gut zu sein wie die Ingenieure – was viele Auftraggeber frappiert hat, wenn wir zum Teil selbst in technische Bereiche hinein neue Lösungen gemacht haben.“

Die Kücheninsel als soziale Plastik

Den alltäglichen Gebrauch eines Produkts und dessen soziale Auswirkungen untersucht Aicher zusammen mit den Studenten. Er selbst gelangt auf diesem Wege zu einem neuen Küchenkonzept: keine genormten und auf schnellen Durchlauf getrimmten Einbauzeilen, sondern die Kücheninsel als Treffpunkt einer Familie oder Wohngemeinschaft. Der leidenschaftliche Koch nennt das seine „Werkbank“. Auf eigene Erfahrungen im „Steineklopfen, Schmieden, Meißeln und Modellieren“ greift Aicher für die Bilderschrift der Olympischen Spiele zurück. Die „Piktogramme“ beruhen auf anschaulichen, analogen Alltagsgesten – damit begegnet der Grafikdesigner der ansteigenden Flut der Digitalisierung.
"Eine Gesellschaft, die nicht mehr ein Verhältnis zur realen Umwelt hat, zur Arbeit hat, wird natürlich mehr und mehr zu füttern sein – und sie lässt sich füttern – durch Information, durch Illusion, durch Imagination.“
Der eigensinnige Designer gründet mit seiner Frau Inge ein „Institut für analoge Studien“. 1991 stirbt Otl Aicher nach einem Verkehrsunfall. Zwei Jahre zuvor hat er im Gespräch mit Christa Wolf ein Resümee seiner Bemühungen um eine human gestaltete Gesellschaft gezogen. Die DDR-Schriftstellerin notiert im Tagebuch:
"Der Staat Bundesrepublik, sagte Otl, sei – anders als sie es sich 1945 erhofft hätten – keine Demokratie der Menschenrechte, sondern eine Demokratie, die den Besitz und den Konsum schütze, um das Räderwerk der Ökonomie am Laufen zu halten.“