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Vor 100 Jahren gestorben
Alessandro Moreschi - der letzte päpstliche Kastrat

Als Alessandro Moreschi vermutlich 1868* mit neun Jahren kastriert wurde, war die Blütezeit der Kastratensänger längst vorbei. Über Jahrzehnte sang der "Engel von Rom" im Päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle - und hinterließ dabei einzigartige Tonaufnahmen.

Von Barbara Giese | 21.04.2022
Undatierte Porträt-Aufnahme von Alessandro Moreschi- Sänger der Sixtinischen Kapelle und einer der letzten Kastratensänger (Zuschnitt)
Alessandro Moreschi - Sänger der Sixtinischen Kapelle, einer der letzten Kastratensänger (imago/United Archives International (Zuschnitt))
1904 nahm die Londoner "Grammophone Company" die einzigartige Stimme von Alessandro Moreschi auf Schellackplatte auf. Er ist der einzige Kastratensänger, von dem solistische Tonaufnahmen überliefert sind. Der Wiener Gesangsprofessor Franz Haböck hat den "Engel von Rom" noch 1911 im Konzert gehört.
"Moreschis Stimme kann einzig mit der Klarheit und Reinheit eines Kristalls verglichen werden. Ihr ungewöhnlich kraftvoller, transparenter und süßer Ton, die Mühelosigkeit, an der man wegen ihrem offensichtlich unerschöpflichen Luftvorrat geradezu unmittelbar teilnimmt, all‘ dieses erweckte in mir die unwiderstehliche Vorstellung des schönsten Blasinstrumentes, dem der menschliche Atem je Leben eingehaucht hat."

Warum vor allem arme Familien die riskante Kastration ihrer Söhne wagten

Über 300 Jahre sangen Kastraten in der Oper und in der Kirchenmusik. Tausende italienische Jungen sollen alleine im 18. Jahrhundert kastriert worden sein, obwohl die sogenannte Verschneidung seit dem Jahre 1587 offiziell verboten war. Vor allem arme Familien wagten den riskanten Eingriff, um ihren musikalischen Söhnen eine berufliche Perspektive zu verschaffen. Sie erklärten die Versehrtheit mit einem Unfall. Nach der qualvollen Operation im Alter von acht bis zwölf Jahren wuchsen die Stimmbänder nur wenig, während Brustkorb und Zwerchfell normal heranreiften. Kastraten hatten daher die hohe Stimme eines Jungen, aber die Gesangskraft eines Mannes.
Als Alessandro Moreschi 1858 in Monte Compatri, nahe Rom, geboren wurde, war die Blütezeit der virtuosen Kastraten auf der Barockbühne schon vorbei. Für die Kirchenmusik suchten aber weiterhin Talentscouts nach vielversprechenden Stimmen. Wahrscheinlich wurde auch Moreschi auf diese Weise entdeckt und im Alter von neun Jahren kastriert. Mit 13 nahm er ein Musikstudium in Rom an der Gesangsschule von San Salvatore auf.

Moreschi glänzte als Solist mit dem dreigestrichenen "E"

Zwei Jahre später wurde Moreschi zum Ersten Sopran der bischöflichen Lateranbasilika ernannt. Die Kastratensänger waren beliebte Gäste in den damals üblichen literarischen Salons. Die Ehefrau des dänischen Botschafters beim Heiligen Stuhl berichtete:
"Der berühmte Moresca, der im Laterano singt, ist ein rundgesichtiger Sopran von etwa 40 Wintern. Er hat eine Träne in jeder Note und einen Seufzer in jedem Atemzug. Er sang das Juwelenlied im 'Faust', das schrecklich deplatziert wirkte. Besonders wenn er fragt, ob er wirklich Marguerita sei, fühlt man sich versucht, für ihn mit 'Ach was' zu antworten."

1903 bestätigte Papst Pius X. das Gesangsverbot für Frauen

Bei der italienischen Erstaufführung von Beethovens Oratorium "Christus am Ölberg" glänzte Moreschi 1883 als Solist mit dem dreigestrichenen "E". Im gleichen Jahr wurde er Sänger im Päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle. Als man in der Kirchenmusik die Rückbesinnung auf den gregorianischen Choral forderte, verloren auch hier die Kastraten an Ansehen. 1903 verfasste Papst Pius X. ein apostolisches Schreiben zur Reform der Kirchenmusik:
"Die Sänger bekleiden in der Kirche ein liturgisches Amt im eigentlichen Sinne. Daraus folgt, dass die Frauen zu einem solchen Amt nicht 'fähig' sind. Will man Sopran und Altstimmen verwenden, so haben nach uraltem Brauch der Kirche Knaben diese Aufgabe zu erfüllen."
In der Anordnung bestätigte der Papst das Gesangsverbot für Frauen. Die ausscheidenden Kastraten wurden jetzt einfach durch Knabenstimmen abgelöst.
Moreschi ging 1913 in den Ruhestand, agierte noch als Schauspieler und gab Gesangsstunden, auch einem Bruder von Federico Fellini. Einige Jahre später zog er sich aufgrund einer schweren Krankheit aus der Öffentlichkeit zurück. Als Alessandro Moreschi am 21. April 1922 starb, sollte ihm kein päpstlicher Kastrat mehr folgen.
* An dieser Stelle wurde eine Zeitangabe korrigiert.