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Skandal auf dem Chirurgenkongress
Als Carl Ludwig Schleich 1892 die Lokalanästhesie vorstellte

Mitte des 19. Jahrhunderts war die Vollnarkose entdeckt worden. Ein Durchbruch für die Chirurgie - aber lebensgefährlich für die Patienten. Der Frauenarzt Carl Ludwig Schleich entwickelte deshalb eine örtliche Betäubung. Seine Ärztekollegen wollten davon anfangs nichts wissen.

Von Monika Dittrich |
Das Lokalanästhetikum Xyloneural wird aus Injektionsflasche in Spritze aufgezogen
Für eine örtliche Betäubung wird das Lokalanästhetikum Xyloneural in eine Spritze aufgezogen (picture-alliance / OKAPIA KG - Frankfurt/Main, Germ)
"So trat ich (…) vollgerüstet auf dem Chirurgenkongreß an. Mein Manuskript in der Hand. Vorher bat ich noch stolz meine junge Frau, mir meinen besten Rock zu reichen. »Wenn man eine so große Entdeckung verkündet«, sagte ich selbstbewußt, »so muß man ein bißchen anständig aussehen!« (…) Die Reise ging los. Der Saal überfüllt, als ich auf das Podium trat.“
So erinnerte sich Carl Ludwig Schleich später an seinen Auftritt beim Chirurgenkongress in Berlin am 11. Juni 1892. Da saßen die schwarz befrackten Mediziner und ließen sich von ihm erklären, was er in seiner Praxis in der Friedrichstraße hundertfach erfolgreich ausprobiert hatte: eine Lösung aus Morphium und Kokain, in kleiner Menge unter die Haut gespritzt, verursachte eine örtliche Betäubung – sodass er seine Patienten schmerzfrei, aber bei vollem Bewusstsein operieren konnte. Von seinen Zuhörern erwartete er nun anerkennenden Applaus, Jubel, Ruhm und Ehre. Doch – es kam anders: „Da erhob sich ein Sturm – der Entrüstung, der mich beinahe umgeworfen hätte, so verblüfft war ich.“

Ein Lebemann vor versammelter Ärzteschaft

Sein Vortrag wurde zum Skandal – man schmiss ihn raus. „Das liegt natürlich auch ein bisschen am Auftreten“, glaubt Volker Hess. Er leitet das Institut für Geschichte der Medizin an der Charité in Berlin.
„Schleich war nicht der Ordinarius, der mit dem Amtsbonus ans Katheder tritt und dann mit der Würde des Amtes eine neue wissenschaftliche Erkenntnis verkündete, sondern er war Bohemien, durchaus ein Lebemann.“
Und dieser Lebemann hatte sich zu einem frechen Schlusswort hinreißen lassen, das folgendermaßen protokolliert wurde:
„Operationen in Narkose auszuführen, welche auch mit der lokalen Anästhesie durchführbar gewesen wären, das muß ich vom Standpunkte der Humanität und dem der moralischen sowie strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Chirurgen für unberechtigt erklären.“

Die Vollnarkose war eine oft tödliche Angelegenheit

Und das, so Volker Hess, „ist ein Affront vor den Herren der chirurgischen Zunft“ - denn die praktizierten die Äther- und Chloroformnarkose, die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt worden war. Ein Wendepunkt für die Chirurgie: Endlich konnten Ärzte operieren, ohne dass die Patienten sich vor Schmerzen wanden. Diesen medizinischen Durchbruch in Abrede zu stellen, wollten sich die Teilnehmer des Chirurgenkongresses nicht gefallen lassen. Worauf Schleich allerdings anspielte: Die Vollnarkose war zu jener Zeit eine gefährliche Angelegenheit, viele Patienten überlebten sie nicht. Deshalb suchte Schleich, ein Chirurg und Frauenarzt, eine Methode zur örtlichen Betäubung und entwickelte so die Infiltrationsanästhesie:
"Von daher ist das eine revolutionäre Methode, die Lokalanästhesie, weil sie erlaubt, bei Bewusstsein des Patienten schmerzfrei zu operieren. Das heißt, die ganze kleine Chirurgie lässt sich damit wunderbar machen.“

Schleich - Mediziner, Musiker, Schriftsteller

Carl Ludwig Schleich war der Sohn einer Ärztefamilie, geboren 1859 in Stettin, der Vater ein angesehener Augenarzt. Es gab wohl eine gewisse Erwartung in der Familie, dass auch Carl Ludwig Mediziner wird. Dabei hatte er noch viele andere Talente: Musik, Kunst, Schriftstellerei. Seine Autobiografie, die er später veröffentliche, verkaufte sich millionenfach – es war der erste Bestseller des jungen Rowohlt-Verlages.
„In seinem Privathaus treffen sich ganz viele Künstler, Literaten, er ist mit August Strindberg befreundet, er ist ein steter Gast im Schwarzen Ferkel, das ist der geheime Treffpunkt der polnischen, skandinavischen, deutschen Intellektuellen. Also, er ist jemand, der in der Künstler-Literaten-Szene unglaublich bekannt ist.“
Die Medizinerkarriere gelang ihm ebenfalls, obwohl ihm schon im Studium manches zuwider war. So beklagte er die Vivisektionen, also die Versuche an lebenden Tieren.
„Also, er ist jemand, der sehr auf das Fühlen und Erleben des Einzelnen Wert legt, ob das nun der Frosch ist, der im Labor dekapitiert wird oder ob das der Patient ist oder die Patientin, die mit der Spritze traktiert wird.“
Weshalb Schleich sogar die Einstichstelle oberflächlich betäubte, bevor er die Spritze ansetzte. Nicht nur seine Patienten dankten es ihm. Auch in der Ärzteschaft war er bald rehabilitiert und sein Verfahren der Lokalanästhesie setzte sich zusätzlich zur Vollnarkose durch - trotz des Skandals beim Chirurgenkongress.