Mittwoch, 24. April 2024

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Vor 150 Jahren geboren
Alice Salomon - die Frau, die einen neuen Beruf erfand

Alice Salomon blieb in der Bundesrepublik lange vergessen: Dabei war sie eine herausragende Vordenkerin und Wortführerin der Frauenbewegung, eine Sozialreformerin und Schulgründerin. Sie entwickelte den Beruf der sozialen Arbeit und knüpfte Kontakte in alle Welt. Den Nazis aber missfiel das.

Von Monika Dittrich | 19.04.2022
Alice Salomon (1872-1948). Liberale Sozialreformerin in der deutschen Frauenbewegung und Wegbereiterin der Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Um 1930. Photographie.
Alice Salomon um 1930 (picture alliance / IMAGNO/Austrian Archives (S))
"Ich erinnere mich sehr deutlich daran, dass ich schon als kleines Kind auf eine berufliche Karriere gehofft hatte."
Eine Karriere hat Alice Salomon tatsächlich gemacht. Wobei man richtigerweise sagen sollte: Es waren mehrere Karrieren.
"Ja, ich würde auch den Fokus darauf lenken, dass sie wirklich so vieles war." Sabine Toppe ist wissenschaftliche Leiterin des Alice-Salomon-Archivs in Berlin. "Sie war eine bedeutsame Pionierin der modernen sozialen Arbeit. Sie war eine Akteurin der bürgerlichen Frauenbewegung, eine engagierte Frau, die sich mit den sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft beschäftigt hat." 

Das Elternhaus ist liberal und weltoffen

Alice Salomon fragte sich selbst in ihrer Autobiografie, was eigentlich ihre hauptsächliche Berufung gewesen sei.
"War ich vorwiegend eine Erzieherin und Lehrerin oder eine Bürgerin mit Gemeinsinn und feministischen und pazifistischen Tendenzen? Tatsächlich habe ich all‘ diese Tätigkeiten vereinigt, obwohl ich für keine davon ausgebildet war." 
Alice Salomon kommt am 19. April 1872 in Berlin zur Welt, als fünftes von sieben Kindern einer assimilierten jüdischen Familie. Das Elternhaus ist liberal und weltoffen, der Vater betreibt einen Lederhandel. Alice beschreibt sich als freiheitsliebend und rebellisch, schon als Jugendliche fühlt sie sich an ihrer Entfaltung gehindert: Mädchen dürfen nicht aufs Gymnasium und auch nicht zur Universität, es gibt für Frauen aus bürgerlichen Familien kaum Berufsperspektiven. Heiraten will sie nicht. Nach der Höheren Töchterschule besucht sie aus lauter Verlegenheit eine Kunstschule für Nadelarbeit.
"Fünf Jahre lang verbrachte ich viele Stunden täglich über meinem Stickrahmen, überzeugt davon, dass jede Betätigung besser sei als gar keine. Alle meine Träume stickte ich in das Leinen hinein."

Alice Salomon packt an, engagiert sich

1893 dann ein Wendepunkt: In Berlin werden die "Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit" gegründet - und Alice Salomon ist vom ersten Tag an dabei.
Sabine Toppe: "Dort ist sie dem Elend als Folge der Industrialisierung in Berlin begegnet, und zum Beispiel auch den besonderen Anforderungen von Arbeiterinnen und Arbeiterfamilien."
In den Gruppen und Arbeiterinnenklubs geht es um Hilfen für Fabrikarbeiterinnen, die nach ihren Elf-Stunden-Schichten in den überbelegten Berliner Wohnungen kaum Erholung finden, die an Krankheiten und Mangelernährung leiden und deren Kinder viel zu oft im Säuglingsalter sterben. Alice Salomon packt dort mit an, engagiert sich für junge Arbeiterinnen, hilft in einem Mädchenhort. Sie erkennt bald, dass es mit ehrenamtlicher Wohltätigkeit und Almosen nicht getan ist, sondern dass Fürsorge eine professionelle Grundlage braucht. So wird sie zur Mitbegründerin eines neuen, zunächst nur von Frauen ausgeübten Berufs: dem der sozialen Arbeit. 1908 gründet sie die Soziale Frauenschule, später eine entsprechende Akademie.
Sabine Toppe: "Sie war eine sehr zielstrebige Frau, eine engagierte Frau, auch eine sehr arbeitsame Frau."

Der entzogene Doktortitel wurde ihr erst 1997 wieder zuerkannt

Als sich die Universitäten für Frauen öffnen, studiert sie Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie. 1906 wird sie promoviert - mit einer Arbeit über die ungleiche Entlohnung von Frauen und Männern. Sie engagiert sich im Bund Deutscher Frauenvereine und auch im Internationalen Frauenrat, sie knüpft Kontakte in ganz Europa, in den USA und Kanada, wird zu einer Wortführerin der bürgerlichen Frauenbewegung. Eine Frau wie sie ist den Nationalsozialisten von Beginn an einen Dorn im Auge. Dass sie schon lange zum Protestantismus konvertiert war, hilft ihr nicht: Nach einem Gestapo-Verhör 1937 muss sie Deutschland innerhalb von drei Wochen verlassen. Sie emigriert in die USA, wo sie auch ihre Lebenserinnerungen verfasst.
"Wir alle, die wir an eine deutsche Demokratie glaubten, machten uns der Blindheit schuldig. Wir sahen nicht die Verräter in unserer Mitte."
1948 stirbt Alice Salomon in New York. Die von ihr gegründete Soziale Frauenschule in Berlin heißt seit 1991 Alice Salomon Hochschule. Der Doktortitel, den die Nazis ihr 1933 entzogen hatten, wurde ihr erst 1997 wieder zuerkannt.