Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

30 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz
Einblicke in das Gedächtnis einer Diktatur

In letzter Minute rettete die DDR-Bürgerbewegung die Akten der Staatssicherheit vor dem Reißwolf. Am 29. Dezember 1991 trat das "Stasi-Unterlagen-Gesetz“ in Kraft, das den Aktenzugang regelt. Mehr als zwei Millionen Menschen haben seither vom Recht auf Einsicht Gebrauch gemacht.

Von Doris Liebermann | 29.12.2021
Eine Mitarbeiterin im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin Lichtenberg
111 Kilometer Akten: Eine Mitarbeiterin im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin Lichtenberg. (picture alliance / photothek)
Herbst 1989. Die Mauer stand noch, als Stasi-Minister Erich Mielke bereits einen Befehl zur Vernichtung der hochbrisanten DDR-Geheimdienstakten erließ. Seit der Gründung 1950 hatte die Stasi, so die landläufige Abkürzung, Millionen DDR-Bürger überwacht und eingeschüchtert, drangsaliert und gequält: Ohne das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, ein gefürchteter Unterdrückungsapparat, hätte die SED ihre Herrschaft nicht stabilisieren können.
Von Rauchwolken alarmiert, eilten in mehreren Städten Demonstranten zu den Stasi-Arealen, um die Vernichtung zu verhindern und eine Aufklärung der Stasi-Verfolgungen zu fordern. Unter ihnen Tom Sello: " vor allen Dingen wollten wir unser Leben in die eigenen Hände bekommen. Also, wir wollten wissen: Was haben die gemacht, was steht da drin?“

Wie es zur Öffnung der Akten kam

Tom Sello war zu DDR-Zeiten in der Friedens- und Umweltbewegung engagiert und geriet deshalb in das Visier des MfS. Heute ist er Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. Seine Behörde organisiert politisch-historische Bildungsveranstaltungen und berät Verfolgte der DDR-Zeit: Menschen, die durch Haftstrafen gesundheitliche Schäden erlitten, deren Schul- und Berufswege zwangsweise unterbrochen wurden, oder die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt waren:
„Letztendlich haben diese Proteste im Verbund mit dem, was von einem Großteil der Abgeordneten in der Volkskammer gewünscht war und viele landesweite Aktionen, auch Streiks und andere Demonstrationen dazu geführt, dass es zu der Öffnung der Akten kam.“

111 Kilometer Akten

Im November 1991 verabschiedete der Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz, am
29. Dezember 1991 trat es in Kraft: Es regelt die Erfassung, Erschließung, Verwaltung und Verwendung der Stasi-Akten, wie die Rechte Betroffener und die Nutzung in Medien und Wissenschaft. Mehr als zwei Millionen Menschen haben seither vom Recht auf persönliche Akteneinsicht Gebrauch gemacht.
Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR, kurz BStU, bewahrte das Stasi-Erbe auf:
111 Kilometer Akten, mehr als 1,7 Millionen Fotos, Karteikarten, Filme, Tondokumente
und Mikrofiches. Die Behörde machte das Material nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Privatpersonen und der Öffentlichkeit zugänglich. Erster Bundesbeauftragter war Joachim Gauck, nach zwei Amtszeiten folgte ihm Marianne Birthler:
 "Es hat übrigens bei der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes im Deutschen Bundestag genau eine Rolle gespielt, dass man sagte: wir wollen nicht wieder Jahrzehnte warten, bis wir mit der Aufarbeitung beginnen. Wenn Sie in dieses große Archiv gehen, da stecken natürlich Schicksale von Tätern, von Opfern drin, aber noch viel mehr, auch die Frage, wie funktioniert eine Diktatur?

Die Akten als Instrument der Rehabilitierung

 „Und auch die nächste Generation frage noch, "Wie war das mit der Stasi?, sagt der Journalist Roland Jahn - von 2011 bis 2021 Nachfolger von Marianne Birthler. Die Fragen blieben: Haben meine Eltern mitgemacht oder sind sie den Schikanen der Stasi ausgesetzt gewesen?. Auch sie wollen in die Akten schauen.“. Und der Betroffene Tom Sello unterstreicht:
„Man darf ja nicht vergessen, dass diese Akteneinsicht ein ganz wichtiges Instrument ist, was die Rehabilitierung von Opfern betrifft. Wenn Rehabilitierungs-Anträge gestellt werden, da kann die Verfolgung oftmals nur durch diese Stasiakten belegt werden.“ – "es gibt über 500.000 Recherchen in Rehabilitierungsfragen inzwischen, und es ist eben ganz wichtig, dass dann auch Menschen die Rehabilitierung erhalten, ihre Verfolgung nachweisen können und damit dann auch einen Leistungsanspruch haben, wo ihnen heute geholfen werden kann.“
Im Juni 2021 wurden die Stasi-Akten in die Zuständigkeit des Bundesarchivs überführt. Einen „Schlussstrich“ wird es dennoch nicht geben, so Roland Jahn:
„Die Aufklärung über die Struktur und Methoden und Wirkungsweise der Staatssicherheit, das ist eine Aufgabe, die weitergeht, gerade im Dialog mit der nächsten Generation.“