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Vor 50 Jahren im Bundestag
Das gequälte Ja zu den Ostverträgen

Nach erbittertem Ringen ratifizierte der Bundestag am 17. Mai 1972 die "Ostverträge" mit Warschau und Moskau. Die Abkommen garantierten die Grenzen in Europa und sollten so der Ost-West-Entspannung dienen – innenpolitisch waren sie äußerst umstritten.

Von Otto Langels | 17.05.2022
Am 29. April 1972 forderten mehrere tausend Demonstranten in Bonn die Ratifizierung der Ostverträge
Vor der Abstimmung im Bundestag - Demonstration in Bonn für die Ratifizierung der Ostverträge (picture alliance / Klaus Rose)
"Auf den Trümmern einer blutigen Geschichte haben sich Berge von Misstrauen, Unkenntnis, Angst, Vorurteilen aufgetürmt. Es wird viel Zeit brauchen, dies abzubauen, aber es muss damit endlich begonnen werden“, erklärte Bundeskanzler Willy Brandt am 17. Mai 1972 im Deutschen Bundestag vor der Abstimmung über die Verträge mit der Sowjetunion und Polen.
Die sozialliberale Regierung unter Brandt hatte seit 1969 im Zuge einer neuen Entspannungspolitik die Annäherung an die osteuropäischen Staaten gesucht. Ergebnis waren der Moskauer und der Warschauer Vertrag vom August beziehungsweise Dezember 1970. Darin verpflichteten sich beide Seiten zu einem Gewaltverzicht und der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa. Dazu Willy Brandt mit Blick auf Polen: "Das Jahr 1772 markierte den Beginn einer Politik, die die Existenz des polnischen Staates in Frage stellte. Das Jahr 1972, so hoffen wir, markiert den Beginn einer Epoche, in der die Polen in gesicherten Grenzen leben können.“

Abweichler in der Koalition und konstruktives Misstrauensvotum

Die Verträge bedurften der Zustimmung durch das Parlament. Doch innenpolitisch war die neue Ostpolitik höchst umstritten. Die Opposition warf der Regierung den „Ausverkauf deutscher Interessen“, den Verzicht auf die ehemals deutschen Ostgebiete und die Zementierung der deutschen Teilung vor. Mehrere Abgeordnete wechselten ins Lager der Opposition, die Regierung verlor ihre Mehrheit. Trotzdem gelang es CDU und CSU im April 1972 nicht, den Kanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen.
Nun suchten Regierung und Opposition einen Kompromiss, was der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel: "Hier kann keiner mit dem Kopf durch die Wand. Der Kopf ist nicht so stark wie die Wand, es sei denn, es handle sich um eine Gummizelle."
Und tatsächlich einigte man sich auf eine „gemeinsame Entschließung“. Darin hieß es: "Die Verträge gehen von den heute tatsächlich bestehenden Grenzen aus, deren einseitige Änderung sie ausschließen. Sie nehmen eine friedensvertragliche Regelung nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen."
Der unterlegene CDU-Oppositionsführer Rainer Barzel (links im Bild) gratuliert am 27. April 1972 SPD-Bundeskanzler Willy Brandt nachdem das von der Opposition angestrengte Konstruktive Misstrauensvotum gegen Brandt im Bundestag gescheitert ist.
Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gratuliert der unterlegene CDU-Oppositionsführer Rainer Barzel Bundeskanzler Willy Brandt. Wie später bekannt wurde, beeinflusste die DDR-Staatssicherheit die Abstimmung - und Brandt blieb im Amt. (picture-alliance / dpa)

Der springende Punkt für CDU und CSU

Die Entschließung enthielt ein Bekenntnis zu Gewaltverzicht, Entspannung und friedlicher Nachbarschaft in Europa und betonte das Streben nach nationaler Einheit zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Damit war der Weg frei für die Ratifizierung der Ostverträge. Der CDU-Abgeordnete und frühere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger: "Die CDU/CSU-Fraktion hat in einer der längsten und intensivsten Beratungen in ihrer Geschichte beschlossen, sich in ihrer großen Mehrheit bei der Abstimmung über die Zustimmungsgesetze zum Deutsch-Sowjetischen- und zum Deutsch-Polnischen-Vertrag der Stimme zu enthalten."
Am 17. Mai kam der Bundestag zusammen, um zuerst über den Moskauer Vertrag abzustimmen. Parlamentspräsident Kai-Uwe von Hassel verkündete das Ergebnis:
"Es sind abgegeben worden uneingeschränkt stimmberechtigte Stimmen 496, davon mit ja 248, mit nein zehn. Enthaltungen 238."

Ab 3. Juni 1972 in Kraft

Bei der zweiten Abstimmung lehnten 17 Abgeordnete den Warschauer Vertrag ab. Nach dem Bundestag ratifizierte zwei Tage später auch der Bundesrat die Ostverträge. Danach meldete sich Bundespräsident Gustav Heinemann zu Wort:
"Um dieses Vertragswerk ist in allen Teilen unseres Volkes gerungen worden. Wir alle haben gespürt, dass es hier um die Bewältigung eines der schwierigsten nationalen und internationalen Probleme der Nachkriegszeit ging. Die Auseinandersetzungen waren hart. Der Streit der Vergangenheit darf aber nicht zu Lasten unserer gemeinsamen Zukunft fortgesetzt werden. Das Gegeneinander vergangener Jahre muss jetzt zu einem Miteinander in der Zukunft werden."
Am 3. Juni 1972 traten der Warschauer und der Moskauer Vertrag in Kraft, zwei Vereinbarungen, die im Kalten Krieg zwischen Ost und West für mehr Entspannung und Normalität sorgten.