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50. Todestag
Asta Nielsen - Sie spielte nicht für die Kamera

Nicht nur ihre virtuose Mimik machte die dänische Schauspielerin Asta Nielsen zum Star und Mythos der Stummfilm-Ära. Sie prägte den Beginn der Kinogeschichte und verkörperte Frauenfiguren, die sich noch heute jenseits jeder Geschichtlichkeit über die Leinwand bewegen. Sie starb vor 50 Jahren.

Von Katja Nicodemus | 25.05.2022
Asta Nielsen in dem Stummfilm "Haus am Meer" von 1924. Die 1881 in Kopenhagen geborene Schauspielerin wurde Deutschlands beliebtester Stummfilmstar
Asta Nielsen im Stummfilm "Haus am Meer" von 1924 (picture-alliance / dpa)
Sie war der erste Star des deutschen Kinos, die von der Kritik gefeierte und vom Publikum geliebte Königin des frühen Stummfilms. In ihren Rollen spricht Asta Nielsen direkt zu uns: lebendig, mitreißend und vor allem ganz und gar gegenwärtig, so als sei sie ein Geschöpf unserer Zeit.
"Senkt die Fahnen vor ihr, denn sie ist unvergleichlich und unerreicht“- schwärmt der ungarische Filmkritiker Béla Balázs 1924 über Asta Nielsen in seinem Buch „Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films“.

Vielschichtiges Spiel mit dem Spiel

Unvergleichlich waren Asta Nielsens körperliche Präsenz zwischen Erotik und Komik, ihre mimische Unterwanderung von Geschlechtergrenzen und Rollenklischees und ihr vielschichtiges Spiel mit dem Spiel.

Asta Nielsen wird am 11. September 1881 in Kopenhagen als Kind einer proletarischen Familie geboren und wächst im schwedischen Malmö auf. Schon als Jugendliche nimmt sie Schauspielunterricht und bekommt mit 18 Jahren ein Engagement am Kopenhagener Theater. 1901 bringt Nielsen eine uneheliche Tochter zur Welt und unterbricht ihre Theaterlaufbahn. Sie lernt den Regisseur Urban Gad kennen und dreht mit ihm 1910 ihren ersten Film: „Abgründe“

Eine prägende Darstellerin der 1920er-Jahre

Durch eine erotische Tanzszene wurde Nielsen mit diesem Film schlagartig berühmt. Sie spielt eine Klavierlehrerin, die ihren Verlobten für einen Varietédarsteller verlässt. Gemeinsam mit dem Schausteller tritt die Heldin im Gaucho-Kostüm auf der Bühne des Varietés auf: Sie fängt den Geliebten mit einem Lasso ein und gibt ihm, fast wie in einem Akt der Bezwingung, einen leidenschaftlichen Kuss. Diese unverhohlen sexualisierte Verführung, Nielsens kreisende Hüften, ihre lasziven Bewegungen, ihre erotische Dominanz, fallen in manchen Ländern – etwa den USA – der Zensur zum Opfer. „Abgründe“ wird zur Geburt eines Kinoweltstars.
Der internationale Erfolg des Films bringt Asta Nielsen nach Deutschland, wo sie – mit einer dreijährigen Unterbrechung während des Ersten Weltkriegs – zu einer der prägenden Darstellerinnen der 1910er- und 20er-Jahre wird.

Eine legendäre Mimik

In „Die Suffragette“ von Urban Gad spielt Asta Nielsen eine junge Frau, die zur militanten Kämpferin für das Frauenwahlrecht wird und sogar im Gefängnis landet. In „Engelein“ ist sie eine aufmüpfige Siebzehnjährige, die im Mädchenpensionat raucht und tanzt. Man sieht Nielsen die Freude an komischen Verrenkungen an, und auch an derbem Humor. In „Das ABC der Liebe“ wiederum ist es karnevalistische Freude an der Travestie: Um ihrem schüchternen Verlobten viriles Auftreten beizubringen, verkleidet sich ihre Figur als Mann.
Mit hochgesteckten Haaren, herunterrutschenden Strumpfbändern und einer Sicherheitsnadel, die das weiße Herrenhemd über dem Busen zusammenhält. Zeitgenössische Kritiker übertreffen sich gegenseitig in den Schilderungen von Nielsens Mimik und Beweglichkeit, in den Beschreibungen ihrer Züge, die sie immer wieder bewusst entgleisen lässt. So schreibt Béla Balázs:
"Die Augen sind es hier vor allem, nicht das Fleisch. Sie hat gar kein Fleisch. Ihre abstrakte Magerkeit ist ein einziger zuckender Nerv mit einem verzerrten Mund und zwei zuckenden Augen.“
Asta Nielsen verleiht ihren Dramen Komik – und der Komik Dramatik. Sie spielt Leidende, Liebende, Prostituierte, Tänzerinnen, Arbeiterinnen, Mörderinnen sowie Hamlet als Hosenrolle. Sie scheut sich auf der Leinwand nicht, einem Verehrer hinter dessen Rücken die Zunge rauszustrecken, betrunken zu torkeln oder in dem Film „Vordertreppe- Hintertreppe“ als Proletarierin in einem feinen Kaffeehaus mit vollem Mund zu reden und zu rülpsen.
Asta Nielsens Karriere endet mit dem Beginn des Tonfilms. Sie drehte nur einen einzigen: „Unmögliche Liebe“ im Jahr 1932. In ihrer Autobiografie „Die schweigende Muse“ schreibt sie über ihr beredtes Spiel im Stummfilm:
"Mir war klar, dass man sich völlig von seiner Umgebung losreißen muss, um einen entscheidenden Abschnitt eines dramatischen Films wirklich echt darstellen zu können.“
Vielleicht liegt hier das Geheimnis von Asta Nielsen, die am 25. Mai 1972 im dänischen Frederiksberg starb: Sie spielte nicht für die Kamera, sie tauchte in sich selbst ein - und in die eigene Spielfreude. Sie prägte den Beginn der Kinogeschichte und verkörperte Frauenfiguren, die sich noch heute jenseits jeder Geschichtlichkeit über die Leinwand bewegen.