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70 Jahre Internationaler Gerichtshof in Den Haag
"Die Bilanz ist besser als der Ruf"

Für ein Gericht ohne Durchsetzungsmöglichkeiten habe der Internationale Gerichtshof in Den Haag eine gute Bilanz bei der Umsetzung seiner Urteile, sagte der Völkerrechtler Stefan Talmon im DLF anlässlich des 70. Jubiläums der Institution. In 95 Prozent aller Fälle setzten Staaten die Entscheidungen des IGH um, so Talmon. Überwiegend handele es sich dabei um Territorialstreitigkeiten.

Stefan Talmon im Gespräch mit Michael Köhler | 17.04.2016
    Internationaler Gerichtshof in Den Haag: Urteil zum Kroatienkrieg am 3. Februar 2015; weder Serbien noch Kroatien sind demnach schuldig, in den Jahren 1991-95 Völkermord begangen zu haben.
    Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen eingerichtet. Stefan Talmon vom Institut für Völkerrecht der Universität Bonn zieht im DLF-Interview eine positive Bilanz. (picture alliance / dpa)
    Michael Köhler: In der kommenden Woche finden im Den Haager Friedenspalast Feierlichkeiten statt. Der Internationale Gerichtshof wird siebzig Jahre alt. Das Staatengericht ist zur Klärung völkerrechtlicher Streitfälle da. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen eingerichtet.
    Ich habe Stefan Talmon, Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Bonn zuerst gefragt, als Privatperson kann ich also nicht gegen die Atomindustrie klagen oder Menschenrechtsverletzungen verurteilen lassen, wer kann den Internationalen Gerichtshof anrufen?
    Stefan Talmon: Genau. Der Gerichtshof steht nur Staaten offen. Das ist ein Unterscheidungsmerkmal zu den anderen Gerichtshöfen, die ja auch in Den Haag beheimatet sind wie der Internationale Strafgerichtshof, wo es um Einzelpersonen geht und deren strafrechtliche Verantwortlichkeit. So geht es beim Internationalen Gerichtshof um das Verhalten von Staaten und deren Rechtmäßigkeit.
    "Haupt-Rechtsprechungs-Organ der Vereinten Nationen"
    Köhler: Liegt in diesem Verfahren nicht zugleich sein Vorteil, aber auch sein Defizit? Anrufen kann es nur, wer den Ordnungsprinzipien zustimmt. Damit ist doch auch gewissermaßen die Reichweite beschränkt, oder?
    Talmon: Nein! Grundsätzlich sind alle Staaten, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, automatisch Vertragsparteien des Statuts des Internationalen Gerichtshofs. Das ist in der UN-Charta so vorgesehen. Das heißt: Alle Staaten, die UN-Mitglied sind, sind gleichzeitig berechtigt und können vor dem Gerichtshof verklagt werden.
    Köhler: Es gab etwa fünf Dutzend Urteile, zahlreiche Gutachten. Gelegentlich liest man, der Wert des Internationalen Gerichtshofes liege insbesondere in der Fortentwicklung des Völkerrechts. Also ein Instrument zur Weiterentwicklung der Weltfriedensordnung? Würden Sie zustimmen?
    Talmon: Nein. Ich denke, das ist eine sehr akademische Sichtweise, dass der Internationale Gerichtshof ein Instrument zur Weiterentwicklung des Völkerrechts ist. Der Internationale Gerichtshof sieht sich in erster Linie als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, das aufgerufen ist, zur Lösung konkreter Streitfälle beizutragen.
    Es gibt nur eine Ausnahme: Das sind die berühmten Rechtsgutachten, die auf Anforderung des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung der Vereinten Nationen oder anderer Institutionen erstattet werden können. Aber Sie sehen das daran, dass der Internationale Gerichtshof sich in seinen Urteilen immer versucht, auf die wesentliche Rechtsfrage in dem anstehenden Fall zu beschränken.
    Das ist für Wissenschaftler oftmals sehr unbefriedigend, denn wir würden uns mehr erhoffen vom Internationalen Gerichtshof. Wir würden uns klare Aussagen erhoffen zum Beispiel, was "jus cogens" ist, dieses Recht, das durch kein anderes Recht übertreten werden kann. Der Internationale Gerichtshof tut sich hier schwer, oder er vermeidet es in seinen Urteilen, hier klar Stellung zu beziehen.
    "Problem der Nichtanerkennung der Urteile"
    Köhler: Sie sagten gerade, es sei das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Gut, das habe ich verstanden. Aber was ist denn jetzt, wenn man sich dieser Rechtsprechung dennoch nicht beugt? Das Problem der Nichtanerkennung, das hat es ja auch häufig gegeben.
    Talmon: Das Problem der Nichtanerkennung drückt sich vielleicht in zwei Formen aus. Es kann sein, dass ein Staat überhaupt nicht auftaucht zu einer Verhandlung, aber trotzdem an das Urteil gebunden ist. In dem Moment stellt sich dann die Frage der Durchsetzung, und da haben Sie natürlich auch das Problem, dass es Staaten gibt, die jetzt nicht unbedingt das Urteil umsetzen, wobei ich auch hier wieder sagen möchte, hier ist wahrscheinlich die Bilanz besser als der Ruf des Gerichtshofes. Für ein Gericht, das keine Durchsetzungsmöglichkeiten hat, keine Weltpolizei, um seine Urteile …
    Köhler: Keine Exekutivgewalt!
    Talmon: … keine Exekutivgewalt, keinen Gerichtsvollzieher, keine Polizei, die diese Urteile vollstreckt, ist man erstaunt, dass doch wahrscheinlich, ich würde mal sagen, 95 Prozent aller Fälle oder Entscheidungen dann von den Parteien auch umgesetzt werden.
    Köhler: Kann es denn dann überhaupt mehr sein als eine Schlichtungsstelle?
    Talmon: Muss es denn mehr sein? Die Frage ist, was ist die Aufgabe des Gerichtes. Ich hatte ja schon angedeutet: Das Gericht soll Streitigkeiten schlichten, soll Streitigkeiten beilegen, und ich denke, das ist die Hauptfunktion und die erfüllt es in den meisten Fällen auch.
    "Die Gerichtsbarkeit ist beschränkt"
    Köhler: Wird dieses Gericht, dessen 70. Geburtstag in der kommenden Woche gefeiert wird - und Sie werden an den Feierlichkeiten teilnehmen -, eigentlich den modernen Herausforderungen gerecht? Ein bisschen konkreter gesagt: Moderne Konflikte, haben wir gelernt in Zeiten auch von Terrorismus, sind nicht nur zwischenstaatlich; sie sind asymmetrisch. Wir erinnern uns beispielsweise daran, dass private Warlords teilweise von fremdem Territorium aus angreifen. Dann fängt es an, schwierig zu werden?
    Talmon: Ja, aber es fängt noch aus einem anderen Grund an, schwierig zu werden, denn ich hatte zwar gesagt, dass alle Staaten, alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen automatisch Partei des Statuts des Gerichtshofes sind, aber es braucht noch eine zweite Voraussetzung, dass sie ein Verfahren vor dem IGH eröffnen können. Und das ist die Zustimmung der Streitparteien.
    Das heißt, Sie können einen Staat vor dem Internationalen Gerichtshof überhaupt nur dann verklagen, wenn er dem Streit zugestimmt hat, und das kann passieren einmal durch eine allgemeine Unterwerfungserklärung unter die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes, oder in speziellen Verträgen, dass Streitigkeiten über diese Verträge dem Gerichtshof zugewiesen werden. Oder als letzte Möglichkeit, wenn ein Streit aufgetreten ist, dass die Staaten ad hoc vereinbaren, die Streitigkeit dem IGH zu unterbreiten.
    Jetzt muss man sagen, dass nur ungefähr 60 oder 66, um genau zu sein, der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen solch eine Erklärung, eine Unterwerfungserklärung abgegeben haben. Das heißt, die Gerichtsbarkeit des Gerichtes ist beschränkt. Obwohl zwar theoretisch alle Staaten vor dem Gerichtshof verklagt werden können, wird das wieder eingeschränkt durch das Zustimmungserfordernis. Das ist das erste große Problem. Das zweite große Problem ist, das haben Sie ja angesprochen: Warlords sind keine Staaten.
    Köhler: Das war ein ganz konkreter Fall 2005: Demokratische Republik Kongo gegen Uganda.
    Talmon: Ja. Da müssen Sie den Staat verklagen, dass er nicht verhindert hat, dass der Warlord von seinem Gebiet aus einen anderen Staat angegriffen hat.
    "Grenzstreitigkeiten vor dem IGH sind Krieg mit anderen Mitteln"
    Köhler: Ein ähnlicher Fall - Entschuldigung, wenn ich genau da reingehe - ist der viel beachtete des Massenmordes von Srebrenica, wo Bosnien-Herzegowina gegen Serbien-Montenegro standen und der IGH auch angerufen wurde.
    Talmon: Genau! Auch da geht es mehr oder weniger darum, dass Serbien-Montenegro hier unterlassen hat einzuschreiten. Man kann ja nicht nur für aktives Tätigwerden zur Verantwortung gezogen werden oder das Völkerrecht brechen, sondern man kann, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht, auch fürs Unterlassen verantwortlich gemacht werden. Und gerade im Bereich der Völkermordkonvention haben sich alle Staaten verpflichtet, eben auch Völkermord zu verhindern, und das war genau die Frage im Fall Bosnien-Herzegowina gegen Serbien.
    Köhler: Könnte es sein, Professor Talmon, dass ein wesentlicher Teil der Arbeit des Internationalen Gerichtshofes auf territoriale Fragestellungen entfällt, also Grenzstreitigkeiten, wem gehört eine Insel, wem gehört ein Felsblock, wer hat Schürfrechte, wer hat Fischereirechte und Ähnliches?
    Talmon: Ja, das muss man sagen. Die Mehrheit, die große Mehrheit der Fälle betrifft Territorialstreitigkeiten, und das ist natürlich auch ein Teil oder eine Art der Streitigkeit, die für die Staaten von essenzieller Bedeutung sind. Das sind Fragen, an denen sich früher Krieg und Frieden entschieden hat, und diese Fragen werden heute Gott sei Dank dem IGH vorgelegt.
    Ich sage immer, Grenzstreitigkeiten vor dem IGH ist Krieg mit anderen Mitteln. Das sehen Sie daran, welch exorbitante Summen solche Streitigkeiten vor dem IGH kosten. Wir sprechen hier für ein Normalverfahren zwischen 20 und 30 Millionen Euro. Aber ich sage immer, das ist gut angelegtes Geld. Überlegen Sie sich, was ein Panzer kostet, was ein Kampfflugzeug kostet. Und heute werden diese Streitigkeiten zivilisiert ausgetragen und, was ich am Anfang gesagt hatte, in 90, 95 Prozent der Fälle halten sich die Staaten an die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes. Sie ziehen sich von umstrittenen Gebieten zurück, sie demarkieren Grenzlinien entsprechend der Entscheidung des IGH. Von dem her trägt der IGH hier zur Befriedung der internationalen Beziehungen bei.
    "Internationales Gericht als Alternative zu kriegerischen Auseinandersetzungen"
    Köhler: In der Schlusskurve gefragt, Professor Talmon: Sie sind Völkerrechtler, an der Universität Bonn tätig. Sehen Sie den IGH gut gerüstet für die Zukunft und die von uns schon so ein bisschen skizzierten auch neuen Herausforderungen? Oder ich erneuere meine Frage vom Anfang noch mal: Ist diese sympathische Einrichtung nicht auch irgendwo limitiert? Hat sie nicht irgendwo ihre Grenzen?
    Talmon: Ja, diese Grenzen hat sie, aber die liegen natürlich bei den Staaten selbst. Die Staaten sind nicht bereit, sich der Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Das Instrumentarium wäre da, dass der Gerichtshof noch sehr viel aktiver in der internationalen Streitbeilegung tätig wird. Ich denke nicht, dass wir das Instrumentarium, die rechtlichen Grundlagen des IGH ändern müssen. Es kommt vielmehr auf die Staaten an, dass sie dieses Instrumentarium, das ihnen die Vereinten Nationen auch zur Verfügung stellen, aktiv nutzen.
    Köhler: Also ein Beitrag dann doch zur Verrechtlichung und zur Zivilisierung?
    Talmon: Ja, auf jeden Fall! Die Idee: Sie hatten ja schon angedeutet, dass der IGH der Nachfolger ist des ständigen Internationalen Gerichtshofes, der wiederum seine Ursprünge hatte im permanenten Schiedshof 1899. Man hat immer das internationale Gericht gesehen als ein Mittel, als eine Alternative zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
    Köhler: Die Feierlichkeiten finden nächste Woche im Friedenspalast statt in Den Haag. Richtig?
    Talmon: Genau, ja.
    Köhler: Sie klingen ganz hoffnungsfroh, was die Zukunft der Arbeit des IGH angeht?
    Talmon: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, das ist eine Institution, die durch und durch positiv zu bewerten ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.