Dienstag, 23. April 2024

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Massaker vor 80 Jahren
Lidice - ein tschechisches Dorf als Synonym für NS-Terror

Reinhard Heydrich, Gestapo-Chef und sogenannter Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, wurde im Mai 1942 in Prag Opfer eines Mordanschlags. Als Vergeltung verübten die deutschen Besatzer am 10. Juni im nahen Dorf Lidice ein Massaker und machten den Ort dem Erdboden gleich.

Von Otto Langels | 10.06.2022
Die Leichen der vor einer Scheunenmauer erschossenen Männer des Dorfes Lidice in Mähren. Im Hintergrund deutsche Soldaten
Die Leichen der am Morgen des 10. Juni 1942 erschossenen Männer von Lidice (picture-alliance / dpa)
„Achtung, Achtung. Amtlich wird bekanntgegeben: Im Zuge der Fahndungen nach den Mördern des SS-Obergruppenführers Heydrich wurden einwandfreie Hinweise dafür gefunden, dass die Bevölkerung der Ortschaft Lidice bei Kladno dem in Frage kommenden Täterkreis Unterstützung und Hilfe leistete.“
Verkündete der Deutsche Rundfunk am 10. Juni 1942. Tschechoslowakische Widerstandskämpfer hatten am 27. Mai in Prag einen Anschlag auf Reinhard Heydrich verübt. Der sogenannte Reichsprotektor von Böhmen und Mähren war wegen drakonischer Strafmaßnahmen gegen die einheimische Bevölkerung als „Henker von Prag“ verhasst. Er erlag wenige Tage später seinen Verletzungen.

173 Männer gleich vor einer Scheunenmauer erschossen

Eine vage und, wie sich schnell herausstellte, falsche Spur zu den Attentätern führte in das kleine Dorf Lidice rund 25 Kilometer westlich von Prag. Am Abend des 9. Juni umstellten Angehörige der Gestapo und Schutzpolizei den Ort.
Mila Kalibová lebte damals in Lidice: „Wir mussten die Häuser verlassen und wurde uns gesagt, ihr nehmt warmes Kleid und etwas zum Essen mit. An dem Dorfplatz wurden die Männer getrennt.“
195 Frauen und knapp 100 Kinder wurden in Kladno in einer Schule eingesperrt. 173 Männer im Alter ab 16 Jahren blieben in Lidice und wurden am Morgen des 10. Juni an der Scheunenmauer eines Bauernhofes erschossen. Noch am selben Tag meldete der deutsche Rundfunk: „Die Gebäude des Ortes sind dem Erdboden gleichgemacht und der Name der Gemeinde ist ausgelöscht worden.“

Die meisten Kinder in Vernichtungslager verschleppt

Lidice mit seinen einhundert Häusern, einem Dutzend Bauernhöfen, einer Kirche sowie mehreren Wirtshäusern und Läden existierte nicht mehr. Währenddessen warteten die Frauen und Kinder von Lidice in Kladno auf ihr weiteres Schicksal. Auch Mila Kalibová:
„Und den dritten Tag sind mehrere Gestapo-Männer gekommen und sagten: Ihr geht für eine Zeit in ein Lager, und ihr geht mit dem Zug, und die Kinder gehen mit Bus, damit die Reise für sie bequemer wäre. Gewaltsam wurden die Kinder von den Müttern getrennt.“

Ins KZ, ins Vernichtungslager oder in regimetreue deutsche Familien

Die Frauen verschleppte man ins KZ Ravensbrück, wo fast jede dritte umkam. Die meisten Kinder wurden im Vernichtungslager Chelmno vergast. Einige wenige, als „eindeutschungsfähig“ eingestuft, vermittelte die SS in regimetreue deutsche Familien, darunter die damals zehnjährige Marie Šupiková.
Sie trug fortan den Namen Ingeborg Schiller. Nach dem Krieg kehrte sie in die Tschechoslowakei zurück. “Hier habe ich erstes Mal gehört, dass Lidice nicht mehr existiert, dass mein Vater war erschossen und meine Mutter war im KZ.“

Die verschleppte Anna Nesporova sah ihr Kind nie wieder

Später sagte sie in einem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse als Zeugin aus. Die 22-jährige Anna Nesporova war hochschwanger, als sie aus Lidice verschleppt wurde. Zwei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter wurde sie ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. Ihr Kind sah sie nie wieder. 1946 kehrte sie heim.
„Wir waren sehr glücklich, wieder nach Hause zu kommen. Aber wir wussten die ganze Zeit nicht, was mit Lidice geschehen war. Wir wussten gar nicht, dass unsere Männer erschossen worden waren in der Nacht. Wir wussten nicht, dass die Kinder in Polen vergast worden waren. Nach all dem, was wir erlebt hatten im Konzentrationslager, war das Schlimmste, als wir dann erfahren haben, was eigentlich passiert ist, dass das Dorf nicht mehr existiert.“

"Lidice wird weiterleben"

Kurz nachdem die deutschen Besatzer Lidice ausgelöscht hatten, meldete sich aus London Edvard Beneš, Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung, zu Wort: Zwar könnten die Nazis jedes Gebäude zerstören „und sie können sogar den Namen Lidice aus ihren Unterlagen löschen. Aber in unseren eigenen Aufzeichnungen und im Gedächtnis der Menschheit wird der Name Lidice von großer Bedeutung bleiben, Lidice wird weiterleben“.
So war es denn auch. Nach dem Krieg entstand ein neues Lidice unweit der alten Siedlung. Am Standort des früheren Dorfes erinnern heute eine Gedenkstätte und ein Museum an eines der berüchtigtsten Massaker des NS-Regimes.