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Vor 100 Jahren
Abschaffung des Sultanats in der Türkei beschlossen

Am 1. November 1922 beschloss das Parlament in Ankara, alle seit 1920 von der ehemaligen Regierung in Istanbul unterzeichneten Verträge für ungültig zu erklären. Das bedeutete auch das Ende der jahrhundertelangen Regierungsform im Osmanischen Reich.

Von René Wildangel | 01.11.2022
Sultan Mehmed VI. und sein Sohn Prinz Mohammed Ertogroul kommen am 29. November in Malta an, wo ihnen nach der Aufhebung des Sultanats Exil gewährt wird
Der letzte Sultan: Mehmed VI. kommt am 29. November in Malta an, wo ihm nach der Aufhebung des Sultanats Exil gewährt wird (imago / Topfoto / United Archives International / Central News)

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Als Mustafa Kemal seine Rede zum zehnjährigen Jahrestag der Republikgründung hielt, sparte er die jahrhundertelange Geschichte des Osmanischen Reiches bewusst aus. Der Erste Weltkrieg hatte im Desaster geendet. Der militärischen Niederlage folgte die Besetzung weiter Teile des Reiches durch die Alliierten. Erst durch Mustafa Kemals militärische Gegenoffensive im türkisch-griechischen Krieg wendete sich das Blatt zugunsten der Türkei.
Am 1. November 1922 war mit der Abschaffung des Sultanats das über Jahrhunderte bestehende Großreich endgültig Geschichte. Ein Jahr später wurde die türkische Republik ausgerufen. Der letzte amtierende Sultan, Mehmet VI., verlor seinen Herrschertitel und wurde des Landes verwiesen.

Die Herrschaft des Hauses Osman

Der Historiker Harun Yeni: „Die Abschaffung des Sultanats war an sich kein zentrales Ereignis; es war ein Teil des türkischen Modernisierungsprozesses, der schon früher begann und mit dem Unabhängigkeitskrieg und der Republikgründung fortgesetzt wurde. Die osmanischen Sultane haben heute wieder eine Bedeutung, weil sie viele Türken an die große Zeit ihrer Geschichte erinnern.“
Über mindestens sechs Jahrhunderte hatte an der Spitze des Osmanischen Reiches ein Alleinherrscher gestanden: der Sultan, arabisch „Sulta“ – Autorität. Orhan I., Sohn des Dynastiegründers Osman und 1323 sein Nachfolger, gab sich als erster diesen Titel. Der Aufstieg setzte sich im 14. und 15. Jahrhundert fort.

Weltmacht im 16. Jahrhundert

Unter Mehmed II. erfolgte 1453 die epochale Eroberung Konstantinopels. Der Wohn- und Regierungssitz der osmanischen Sultane war fortan der Topkapı-Palast. Unter Süyleyman I. erreichte das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert seine größte Ausdehnung.
Der Turkologe Yavuz Köse: „Der Weltmachtsanspruch ist nicht nur artikuliert, sondern Sultan Süleyman ist in der Zeit Karls V., in der Zeit des französischen Königs Franz I. eben ein nicht nur gleichberechtigter, sondern ein wirklicher Machtfaktor innerhalb Europas. Ohne die Osmanen läuft im 16. Jahrhundert nichts.“
„Süleyman der Prächtige“ trägt auf Türkisch den Beinamen „Kanuni“, der Gesetzgeber. Der als Schöngeist und Reformer verehrte Sultan wurde bereits von zeitgenössischen Dichtern besungen und wird bis heute verehrt. Da es aber noch keine festgeschriebene Herrschaftsabfolge gab, kam es nach dem Tod der Sultane bis ins 17. Jahrhundert zu brutalen Erbfolgekriegen unter den Söhnen.

Feinbild und romatischer Sehnsuchtsort

Ebenso wie der unaufhaltsam scheinende Eroberungsdrang der Osmanen, trug dies in Westeuropa zur Ausbildung von Feindbildern bei, die sich zum Beispiel in den verbreiteten „Türkenliedern“ ausdrückten: „Diese Räuber schänden Weiber, schneiden ihnen auf die Leiber, Schlachten Greis und Kinder hin, mit boshaftem Teufelssinn.“ 
An die Stelle solcher Zerrbilder traten im 18. und 19. Jahrhundert romantisierende Darstellungen europäischer Künstler. Der Sultanshof und der Harem wurden zum Inbegriff orientalischer Klischees. Unter Murad III. war Ende des 16. Jahrhunderts der Einfluss der Haremsfrauen bzw. der Sultansmutter so stark gewachsen, dass diese Epoche heute als „Herrschaft der Frauen“ bezeichnet wird.
Die Machtfülle der Sultane veränderte sich über die Jahrhunderte stark: „Seit Mehmed II. hatten die Sultane eine praktisch uneingeschränkte Macht inne, den Höhepunkt erreichte das unter Süleyman I. Im 17. und 18. Jahrhundert verloren die Sultane dann an Macht zugunsten des Hofstaates und der Eliten", so Harun Yeni.

Niedergang des Sultanats im 19. Jahrhundert

Aber erst im 19. Jahrhundert kam es zu nachhaltigen Veränderungen. Ähnlich den konstitutionellen Monarchien in Europa sollte mit den sogenannten Tanzimat-Reformen eine Modernisierung nach westlichem Vorbild erfolgen. Doch die neue Verfassung von 1876 war nur kurzlebig.
Die 1908 entstandene jungtürkische Bewegung verlangte radikalere demokratische Reformen und jagte den unwilligen Sultan davon. Der Einfluss seiner Nachfolger schwand deutlich. Der Topkapı-Palast wurde 1922 zum Museum. Und Mustafa Kemal nach der Gründung der Republik zu „Atatürk“, dem „Vater der Türken.