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Nahrungsmittelkrise
Warum der Krieg in der Ukraine die Agrarwende ausbremst

Agrarminister Cem Özdemir von den Grünen hatte sich viel vorgenommen: mehr Bio-Landwirtschaft, mehr Naturschutz, mehr Tierwohl. Doch nun könnte wegen des russischen Angriffskrieges die Ukraine als wichtiger Getreidelieferant ausfallen – und damit auch die grüne Agrarwende.

Von Jantje Hannover | 28.03.2022
Ein Weizenfeld in der Nähe von Luhansk
Vor allem in den Regionen Luhansk und Donezk ist der Getreideanbau normalerweise in vollem Gange. (picture alliance/dpa/TASS | Alexander Reka)
Trebbin, eine kleine Stadt in Brandenburg, rund 35 Kilometer südlich von Berlin. Ein großer Kuhstall, die Tiere recken ihre Köpfe durch die Gitterstäbe.
„Wir sind jetzt in einem Stall, wo vier Gruppen mit je 200 Tieren drinstehen. Wir stehen in einem Offenstall, das heißt, wir haben hier klimatisch gesehen wirklich Außenbedingungen.“
Thomas Gäbert ist Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Trebbin. 55 aktive Mitglieder bewirtschaften zusammen mehr als 4.000 Hektar Land. Die Genossenschaft beschäftigt insgesamt 120 Menschen, unter anderem in der Milchviehhaltung. Thomas Gäbert deutet auf die Außenwände des großen Kuhstalls: „Aktuell sind die Windschutznetze hochgefahren, weil wir in den letzten Tagen sehr starken Wind hatten – damit Zugluft gemieden wird.“

Aufwändige Umrüstung auf Bio-Haltung

Es ist kühl. Die Kühe mögen das, sagt Gäbert. Ein Pluspunkt für das Tierwohl, man habe schon vieles für eine artgerechte Haltung umgesetzt: „Jede Kuh hat nicht nur einen eigenen Fressplatz, sondern auch einen eigenen Liegeplatz. Wir haben da diese ganz weichen Gummimatten, bestimmt über 18 Zentimeter Federweg, damit sich die Kühe da gelenkschonend ablegen können. Und einmal am Tag wird die Liegefläche abgebürstet und mit einem Kalk-Stroh-Gemisch frisch eingestreut.“

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Seit 2014 stehen die Trebbiner Kühe in diesem neuen Stall. Viele Arbeitsabläufe – wie Gülle entsorgen und einstreuen – sind voll automatisiert, nur beim Melken setzen die Stallarbeiter das Geschirr noch selbst an die Euter. Und machen sich dabei auch ein Bild vom Gesundheitszustand der Tiere. Ziemlich genau zehn Quadratmeter Platz hat hier jede Kuh, das ist fast Bio-Standard. Nur der in der Biohaltung vorgeschriebene Weidegang fehlt. Thomas Gäbert zählt weitere Vorzüge auf.
„Dass wir nahezu alles Futter ausschließlich auf den eigenen Flächen produzieren. Auch den Großteil der Eiweißfuttermittel produzieren wir über Luzerne selbst im Betrieb. Sojabohne wird bei uns überhaupt nicht eingesetzt.“
Thomas Gäbert, Vorsitzende der Agragenossenschaft Trebbin e.G., hockt auf einem Feld mit jungen Kichererbsenpflanzen
„Wir sind nicht der Spielball der Politik, sondern wir sind erst mal grundsätzlich für die Lebensmittelversorgung verantwortlich - und dafür muss entsprechend mit dem Berufsstand umgegangen werden“, fordert Landwirt Thomas Gäbert aus Trebbin. (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul)
Damit hat die Agrargenossenschaft wohl schon ein Stück von dem umgesetzt, was sich der Grüne Cem Özdemir auf die Fahnen geschrieben hatte, als er vor etwas mehr als 100 Tagen das Landwirtschafts- und Ernährungsministerium übernahm: mehr Tierwohl, unterstützt durch eine Haltungs- und Herkunftskennzeichnung für Fleisch, weniger Sojaimporte aus Übersee, mehr biologisch bewirtschaftete Fläche, weniger Pestizide, bessere Erzeugerpreise für Bauern und Bäuerinnen.

Umbau der Tierhaltung als "Herzstück" von Özdemirs Agenda

„Es ist das Herzstück unter der Regierung von Cem Özdemir, dass der Umbau der Tierhaltung jetzt wirklich startet! Dass es den Tieren besser geht, dass es den Betreibern besser geht und dass es der Umwelt darum besser geht. Denn allen dreien, muss man an dieser Stelle sagen, geht es nicht gut!“, so die Bilanz von Agrar-Staatssekretärin Ophelia Nick.
Ein erster Schritt ist bereits getan: Der Haushaltsentwurf des Bundeskabinetts vom 16. März sieht für den Umbau der Tierhaltung erstmals eine Milliarde Euro bis 2026 vor. Auch wenn das für die Größe der Aufgabe lange nicht reichen wird.
Allerdings wurde die grüne Agenda durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine erschüttert – auch im Agrarbereich. Die Ukraine ist ein wichtiger Getreide- und Ölfruchtlieferant: Allein bei Weizen zum Beispiel beträgt der Anteil am Weltmarkt mehr als elf Prozent. Agrarminister Özdemir hat Anfang März eine Sondersitzung der G7-Staaten einberufen, um Exportverbote im Agrarbereich zu vermeiden – es geht vor allem darum, Hungerkrisen in armen Ländern zu verhindern und das UN-Welternährungsprogramm zu unterstützen.
„Die dramatischen Ereignisse, die wirklich nah bei uns sind, die haben uns vor Augen geführt, wo auch wir kriseninstabil sind. Und das muss eben auch Auftrag für uns sein zu gucken: Wo hakt es, wo müssen wir besser werden?“

Staatssekretärin Nick: "Kein Grund zu hamstern"

Zum Beispiel bei der Energieeffizienz in der Landwirtschaft, für die jetzt ein eigenes Programm aufgelegt wurde. Denn mit Düngerproduktion und Maschinenparks verbrauchen auch Landwirte viel Öl und Gas. Ein Problem sind außerdem die Ausfälle bei der ukrainischen Getreide- und Eiweißpflanzenernte für den Ökolandbau: Von dort stammt normalerweise ein großer Anteil des gentechnikfreien Biofutters. Für die Bevölkerung bestehe aber kein Grund, Lebensmittel zu hamstern, betont Staatssekretärin Ophelia Nick: „Ich kann aber an dieser Stelle trotzdem ganz klar sagen, dass Ernährungsunsicherheiten in Deutschland und Europa nicht Thema der Diskussion sind. Wir haben einen sehr hohen Selbstversorgungsgrad von den meisten Produkten, also das ist gesichert.“
Ophelia Nick, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister fuer Ernährung und Landwirtschaft, posiert für ein Foto. Berlin, 15.02.2022, Berlin, Deutschland
"Sehr hoher Selbstversorgungsgrad": Staatssekretärin Ophelia Nick sagt, Ernährungsunsicherheiten würden aktuell nicht diskutiert. (imago images/photothek I Thomas Trutschel)
Trotz dieser Zusicherung hat das Ministerium ein grünes Projekt bereits ausgesetzt: Die sogenannten ökologischen Vorrangflächen, fünf Prozent der Gesamtfläche eines Betriebs, die mit untergepflügten Zwischenfrüchten eigentlich zur Bodenverbesserung dienen sollten. Diese werden jetzt freigegeben, um die Futterproduktion anzukurbeln: „Wir machen da keine Politik der Scheuklappen, aber wir gucken auch mit Augenmaß auf die Themen. Dass jetzt Artensterben und Klimawandel nicht wichtig wären in diesen Tagen und es nur noch um eine extreme Steigerung geht der Nahrungsmittelerzeugung, das lehnen wir aber entschieden aus unserem Haus ab.“

Vehemente Plädoyers für weniger Umweltschutz

Schließlich wolle man die Nahrungskrise nicht gegen Klimakrise und Artensterben ausspielen. Doch mit dieser Haltung steht das Ministerium schon eine Weile in der Kritik. Der Deutsche Bauernverband und unionsgeführte Agrarlandesminister plädierten bereits für weniger Umweltschutz, um die Produktion zu steigern und ausbleibende Weizenlieferungen aus der Ukraine auszugleichen. Konkret entzündete sich der Streit an den Ökoregeln der neuen Förderperiode der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik: Danach sollte jeder Landwirt im nächsten Jahr vier Prozent seiner Flächen aus der Produktion nehmen, also brachliegen lassen. Die Agrarreform ist Teil des Green Deal der EU. Erst in der vergangenen Woche hat die EU-Kommission nun vorgeschlagen, die Reform wegen des Kriegs in der Ukraine auszusetzen.
Eine Fehlentscheidung, findet die Staatssekretärin Ophelia Nick aus dem deutschen Agrarministerium: „Sicherlich muss Deutschland einen Beitrag dazu leisten, wir haben eine hochleistungsfähige Landwirtschaft. Aber wenn man über die Flächenstilllegungen redet, die nächstes Jahr angedacht sind – übrigens aus den Plänen der Vorgängerregierung, das gehört zur Wahrheit dazu, dass das viele Flächenstilllegungen betrifft, die sowieso Landschaftselemente sind, die gar nicht bewirtschaftet werden können.“
Bewässerung trocker Ackerflächen
Man dürfe die Nahrungskrise nicht gegen Klimakrise und Artensterben ausspielen, heißt es von Seiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums - doch angesichts der akuten Krise sind einige Akteuere nicht von dieser Sichtweise überzeugt. (picture alliance / Robin Utrecht)
In Deutschland produziertes Getreide wandert derzeit zu 60 Prozent in die Futtertröge, nur 20 Prozent landen auf dem Teller. Unterstützt von Wissenschaftlern und Hilfsorganisationen hat der grüne Landwirtschaftsminister Özdemir die Menschen in Deutschland dazu aufgerufen, weniger Fleisch zu essen. Denn die Menge an Getreide, die in Deutschland an Tiere verfüttert wird, entspricht laut dem Magazin „Der Spiegel“ etwa der Menge der gesamten Weizenexporte der Ukraine. Weiteres Getreide wird für Bioethanol genutzt.

Warnung vor Folgen der Klimakrise

Vor diesem Hintergrund hält es Ophelia Nick nicht für sinnvoll, die Agrarwende zurückzudrehen: „Es kommen da katastrophale Krisen auf uns zu: Wir hatten vor drei, vier, fünf Jahren trockene Sommer, die werden wir in Zukunft haben. Da muss sich die Landwirtschaft auch gut aufstellen!“
Der Krieg in der Ukraine hat alte Konflikte neu angefacht: die zwischen Agrarwirtschaft und Umweltschützern. Erst im vergangenen Jahr war es gelungen, die ewigen Kontrahenten auf einen gemeinsamen Fahrplan einzustimmen, mit dem Abschlussbericht der sogenannten Zukunftskommission Landwirtschaft. Gegensätzliche Interessensgruppen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz BUND, der Deutsche Bauernverband, der Industrieverband Agrar und die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft haben sich hier auf gemeinsame Empfehlungen geeinigt. Und die klingen insgesamt ziemlich grün.
Entscheidend war dabei auch die Expertise aus der Wissenschaft. Sogar die weitgehend bedingungslosen Direktzahlungen pro Hektar – Herzstück konservativer Agrarpolitik – sollen demnach in den kommenden Jahren endgültig fallen.

Zweifel an EU-Subventionsgeldern für Investoren

„Letztendlich bezahlen wir mit unseren Subventionsgeldern Menschen, die ohnehin schon sehr viel Fläche besitzen.“ Zum Beispiel Investoren, sagt Elisabeth Fresen, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die mit in der Zukunftskommission saß: „Viel besser wäre ja mit diesen Steuergeldern auch die Landwirtschaft im Sinne der Gesellschaft und im Sinne von Bäuerinnen und Bauern zu steuern. Also das Geld auszugeben für Klimaschutz, für Artenschutz, für Wasserschutz.“
Die Biobäuerin betreibt Mutterkuhhaltung in Verden an der Aller: „Ganz konkret kann das heißen, dass ich in Zukunft nur noch Geld bekomme, wenn ich eine ganz konkrete Leistung erbringe im Sinne der Gesellschaft: also zum Beispiel eine vielfältige Fruchtfolge habe, viele verschiedene Kulturen auf meinen Feldern anbaue. Dadurch zum Beispiel auch weniger Pestizide einsetze oder wenn ich mein Grünland ganz extensiv bewirtschafte und dort sehr viele verschiedene Arten, also Pflanzenarten leben, dadurch aber auch viele verschiedene Insekten Futter finden.“

Landwirte unter hohem Druck

2019 war das Jahr der großen Bauernproteste – in Berlin legten Traktoren den Verkehr lahm. Das war für die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel der Anlass, die Zukunftskommission Landwirtschaft einzuberufen, erklärt Fresen: „Das Problem war und ist, dass die Anforderungen steigen, steigen und steigen – aber die Erzeugerpreise bleiben einfach gleich oder werden teilweise sogar schlechter. Das heißt, ich als Bäuerin kriege immer höhere Auflagen, kriege aber das nicht bezahlt, dass ich immer mehr leisten muss.“
„Wir sind nicht der Spielball der Politik, sondern wir sind erst mal grundsätzlich für die Lebensmittelversorgung verantwortlich und dafür muss entsprechend mit dem Berufsstand umgegangen werden“, ergänzt Landwirt Thomas Gäbert aus Trebbin, der damals auch in Berlin war.
Protest der Landwirte am 09.02.2021 vor dem Bundeskanzleramt in Berlin
"Die Anforderungen steigen, steigen und steigen": Viele Landwirte stehen angesichts des hohen Drucks vor dem Aus - im Bild: Proteste vor dem Bundeskanzleramt am 9. Februar 2021. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Michael Sohn)
Er zählt auf, wie man die Landwirte mit immer neuen Auflagen verrückt mache. So sei der Agrarantrag ein Bürokratiemonster, dazu kämen neue Anforderungen wie zum Beispiel die Düngeverordnung, die Gräbert zufolge ohne Notwendigkeit nach kurzer Zeit schon wieder überarbeitet wurde: „Wenn ich mir viele Sachen angucke, gerade auch im Zusammenhang mit Beantragung von Blühstreifen, was wir sehr gerne machen, Blühstreifen anlegen, aber da sind so viele Fallstricke, wenn wir darüber erzählen, das glaubt mir immer keiner von außerhalb, mit welchen, Entschuldigung, Dümmlichkeiten wir uns da teilweise auseinandersetzen müssen.“

Kampf um die nackte Existenz

Doch es geht nicht nur um zu viel Bürokratie, sondern für viele um die nackte Existenz, besonders bei den Tierhaltern, sagt Bernhard Krüsken, Generalsekretär beim Deutschen Bauernverband: „Wir haben jetzt in den letzten Jahren, wenn Sie mal über den breiten Daumen rechnen, jeden Tag so zehn, zwölf Betriebe verloren. Und das ist natürlich deutlich mehr als normaler Strukturwandel. Und deshalb ist natürlich das Wichtigste, dass wir hier möglichst vielen Betrieben auch eine wirtschaftlich tragfähige Perspektive geben.“
Besonders schlecht gehe es den Schweinemästern. Der Grund: zu niedrige Preise, die afrikanische Schweinepest und Restriktionen wegen Corona. Gleichzeitig sind die Haltungsbedingungen gerade bei den Schweinen vielen Experten zufolge verbesserungswürdig: Zu viele Tiere drängen sich im Stall, es fehlt an Frischluft und Beschäftigung. Sauen harren in Kastenständen aus, in denen sie sich noch nicht einmal umdrehen können, der Antibiotika-Einsatz ist hoch.

Mehr Klasse statt Masse als Lösung?

Mehr Qualität statt Masse, lautet daher die Strategie des grünen Agrarministeriums, denn nur höhere Erzeugerpreise könnten die Betriebe retten. Dafür setzt der Minister einerseits auf mehr ökologische Landwirtschaft. Denn Biobauern werden besser bezahlt und sind daher ökonomisch oft in einer stabileren Situation als ihre Kollegen in der konventionellen Landwirtschaft, wenn sie auf kleiner Fläche wirtschaften. Zusätzlich plant das Ministerium die Haltungs- und Herkunftskennzeichnung einzuführen. Sie soll genauere Auskunft darüber geben, wie das Tier aufgewachsen ist. Dann kann der Kunde entscheiden, was er fürs Tierwohl bezahlen will.
Genaueres stehe allerdings noch nicht fest, sagt Ophelia Nick: „Wir setzen uns sehr dafür ein, aber es gibt da noch Gesprächsbedarf in der Koalition. Ich kann an dieser Stelle nur an meinem Mitkoalitionäre appellieren.“
„Wir halten das für einen guten Vorschlag, und wir halten das für wichtig, dass das so in der Form umgesetzt wird", sagt Bernhard Krüsken vom Deutschen Bauernverband. „Das ist ja auch Bestandteil der Empfehlungen vom Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung und der Zukunftskommission: Dass man erstens Tierwohlprämien einführt und dafür natürlich ein Finanzierungskonzept bereitstellt. Dann zweitens, dass man das Thema Kennzeichnung adressiert, weil wir uns in offenen Märkten bewegen. Und dann die dritte Komponente – das Bau- und das Genehmigungsrecht. Weil viele Betriebe den Weg zu höheren Standards mitgehen wollen, wenn sie ihn denn realisieren könnten.“

Streit um die (Kosten der) Tierhaltung der Zukunft

„Wir werden Dinge fürs Baugesetzbuch vorlegen, weil die großen Ställe umgebaut werden sollen, mehr strukturiert, mehr Außenauslauf. Und es sollen weniger Tiere in den Ställen stehen“, ergänzt Ophelia Nick aus dem Agrarministerium. Aber die eine Milliarde, die das Bundeskabinett zunächst für den Stallumbau genehmigt hat, reiche dafür bei weitem nicht aus, kritisiert der Deutsche Bauernverband. Diese Einschätzung teilt er mit Experten aus der Wissenschaft.
„Im Gutachten des wissenschaftlichen Beirats ist ja so abgeschätzt worden, dass durch diese verschiedenen Änderungen, die da notwendig sind, so sicherlich drei bis fünf Milliarden Euro jährlich zusätzlich benötigt werden, um die Mehrkosten ausgleichen zu können“, sagt zum Beispiel Ute Knierim, Professorin für Tierschutz und Nutztierhaltung, die in der Zukunftskommission mitgearbeitet hat. „Wir müssen uns gemeinsam darauf verständigen, wie die Tierhaltung der Zukunft aussehen soll. Das beinhaltet die Art und Weise, wie die Ställe gebaut sind, aber auch die Art und Weise, wie die Tiere betreut werden. In der Fachwissenschaft ist da absolute Einigkeit, dass das wichtig ist, eben auch das Tier selbst anzugucken.“

Mehr Tierwohl nur durch höhere Preise?

Ein Tierarzt müsse kranke Tiere identifizieren können, anstatt zum Beispiel im Hühnerstall Antibiotika dem Futter für alle beizumengen. Auch Schnäbel kürzen oder Ringelschwänze kupieren, damit sich zu eng beieinander stehende Tiere nicht verletzen, diese Methoden sollten der Vergangenheit angehören, sagt die Wissenschaftlerin. „Aber wie das in eine entsprechende Kennzeichnung umzusetzen ist, das hat auch noch einige Herausforderungen.“
Letztlich kann der Wunsch nach mehr Tierwohl nur verwirklicht werden, wenn die Preise für Fleisch und Milch an der Ladentheke steigen. Und wenn dieses Plus auch tatsächlich bei den Landwirten ankommt. Eine schwierige Forderung in Zeiten, in denen die Lebensmittelpreise unter anderem wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine ohnehin schon steigen.

Supermarkt- und Discounterketten diktieren Landwirten die Preise

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die Preispolitik des Lebensmitteleinzelhandels, die von vielen Landwirten als ruinös bezeichnet wird. Elisabeth Fresen von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft adressiert das extreme Machtgefälle, das zwischen Handel und Produzenten existiere: „Dass die am schlechtesten Gestellten die Bäuerinnen und Bauern sind. Und dass das dann zu sehr niedrigen und nicht kostendeckenden Erzeugerpreisen führt.“
85 Prozent des Lebensmitteleinzelhandels laufen über insgesamt nur vier Supermarkt- und Discounterketten: das sind Aldi Nord und Aldi Süd, Lidl mit der Schwarz-Gruppe, Rewe und Edeka mit Netto. Sie haben also eine starke Machtposition, aus der heraus sie Bedingungen und Preise diktieren können.

Verkauf unter Produktionskosten - "normal"

„Um dem entgegenzuwirken, müsste es ein Verbot des Verkaufs unter den Produktionskosten geben“, findet Elisabeth Fresen. Der Verkauf unter dem Niveau der Produktionskosten ist tatsächlich gängige Praxis, zum Beispiel bei Milch und Fleisch. Gemeinsam mit der Zukunftskommission empfiehlt Fresen, das Instrument der Marktordnung der europäischen Agrarpolitik zu nutzen, um Überproduktion zu vermeiden: „Denn nur wenn es keine Überproduktion auf dem Markt gibt, dann kann ich als Bäuerin verhandeln und angemessene Preise für mein Produkt erzielen.“
Ein rotes Tuch für alle Marktliberalen. Und auch das Agrarministerium ist beim Thema Preise derzeit zurückhaltend. Anders als noch vor ein paar Monaten, als Cem Özdemir Ramschpreisen und Billigfleisch den Kampf angesagt hatte. Doch nun hat der Krieg das Blatt gewendet. Zunächst wird es wohl darum gehen, eine Nahrungsmittelkrise abzuwenden.