Sie ist die Grande Dame der deutschen Orientalistik. Persisch, Türkisch, Arabisch, Urdu, Paschtu – die Sprachen des Orients beherrscht Annemarie Schimmel wie kaum jemand sonst. Und ihre Studien zur islamischen Mystik und Poesie sind bis heute legendär.
„Sollte mein Auge je Dich erschauen – Antlitz um Antlitz – dort und dort – künd’ ich den Kummer, den ich erlitt – Zeile um Zeile – Wort um Wort.“
Ein Märchen als Trigger
„Sie ist nach wie vor meines Erachtens die größte einfühlende Begabung, die wir gehabt haben in unserem Fach“, sagt der Islamwissenschaftler Stefan Wild von der Universität Bonn; über Jahrzehnte ist er Kollege und Freund von Annemarie Schimmel: „Sie hat einfach eine primäre Affinität zu solchen Texten gehabt. Den Sprachduktus, das Niveau des Stils, das hat sie einmalig fast nachempfinden und ausdrücken können.“
Annemarie Schimmel wird am 7. April 1922 im thüringischen Erfurt geboren. Sie habe als Kind einmal ein Märchen gelesen: „Da war ich sieben Jahre alt, und das spielte in dem Grenzgebiet zwischen Islam und Hinduismus. Da habe ich gewusst, das ist meine Welt!“ - Als 15-Jährige eröffnet sie ihren verblüfften Eltern: „Ich will Arabisch lernen!“
"Die erste Habilitation eines weiblichen Wesens“
Der hochbegabten jungen Frau gelingt eine beispiellose akademische Karriere. Mit
16 Jahren macht sie Abitur. Mit 19, mitten im Zweiten Weltkrieg, wird sie in Berlin promoviert.
16 Jahren macht sie Abitur. Mit 19, mitten im Zweiten Weltkrieg, wird sie in Berlin promoviert.
„Und am 12. Januar 46 habe ich mich dann in Marburg habilitiert, zum großen Erstaunen der Marburger, die natürlich die erste Habilitation nach dem Krieg erlebten – und – die erste Habilitation eines weiblichen Wesens.“
"Wenn Sie ein Mann wären, könnte aus Ihnen was werden"
Doch jetzt wird die gerade 23-Jährige mit dem damals rein männlich dominierten deutschen Wissenschaftsbetrieb konfrontiert, so Stefan Wild:
„Es gibt diese Geschichte, die gut verbürgt ist, dass mein Vor-Vorgänger im Amt hier an der Bonner Universität zu der damals noch ganz jungen Annemarie Schimmel gesagt hat: 'Wenn Sie ein Mann wären, dann könnte aus Ihnen was werden in der Wissenschaft.‘"
Annemarie Schimmel erinnert sich an diese Episode so:
„'Ja, Schimmelin. Wenn Sie ein Mann wären, dann kriegten Sie einen Lehrstuhl.' Das ist die berühmte Aussage von Otto Spieß. Und ich war eine Zeit lang sehr verärgert mit der ganzen Bonner Geschichte.“
„'Ja, Schimmelin. Wenn Sie ein Mann wären, dann kriegten Sie einen Lehrstuhl.' Das ist die berühmte Aussage von Otto Spieß. Und ich war eine Zeit lang sehr verärgert mit der ganzen Bonner Geschichte.“
Statt Bonn dann Ankara - und Harvard
Als erste Nicht-Muslimin nimmt Annemarie Schimmel 1954 daher einen Ruf an die Universität von Ankara an. Aber, wie sie sagt, sei ihr Triumph wenig später die Berufung nach Harvard gewesen: „Die zweite Frau in einer Fakultät von 450 Männern, die überhaupt ein Ordinariat bekam.“
Im Nachhinein eine Ohrfeige für die Bonner Universität, sagt Stefan Wild lachend: "Da war eine Frau, die hätte man sozusagen haben können. Und dann ging sie nun an eine der größten, vielleicht die beste orientalistische Universität in den Vereinigten Staaten. Das war eine Ohrfeige für Bonn. Und das hat sie befriedigt.“
Riesen-Eklat um Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
25 Jahre lehrt Annemarie Schimmel in Harvard. Anders als damals unter Islamwissenschaftlern üblich, forscht sie direkt vor Ort, in Pakistan, Indien, Iran, Türkei. Ihre Welt ist der gelebte Islam der Menschen, die Mystik, die Poesie – aber nie der politische Islam. Als sie 1995 für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nominiert wird, läuft sie ins offene Messer. Danach gefragt, verurteilt sie nicht einfach die Todesfatwa des Iran gegen den Schriftsteller Salman Rushdie. Sie versucht, wie es ihre Art ist, die Ursache für das Todesurteil zu erklären. Ein Sturm medialer Empörung bricht über sie herein, so Stefan Wild:
„Das hatte es ja im Bereich dieses Preises noch nie gegeben, auch später nicht mehr gegeben – also, da war doch von Alice Schwarzer bis Günter Grass, vom Suhrkamp Verlag bis zur ‚Emma‘, gab es plötzlich eine geschlossene Front von Leuten, die sagten: Dieser Friedenspreis darf nicht an Annemarie Schimmel gehen.“
„Das hatte es ja im Bereich dieses Preises noch nie gegeben, auch später nicht mehr gegeben – also, da war doch von Alice Schwarzer bis Günter Grass, vom Suhrkamp Verlag bis zur ‚Emma‘, gab es plötzlich eine geschlossene Front von Leuten, die sagten: Dieser Friedenspreis darf nicht an Annemarie Schimmel gehen.“
Vergeblich beteuert die jetzt 73-jährige Wissenschaftlerin, sie habe erklären, nicht verteidigen wollen. Die Presse gibt ihr keine Chance, so Stefan Wild: „Sie glaubte, dass sie vor den Scherben ihres Lebenswerkes stünde – ich glaube, es war die tiefste Lebenskrise, die sie je erlebt hat.“
Am 26. Januar 2003 stirbt Annemarie Schimmel im Alter von 80 Jahren. Auf ihrem Grabstein in Bonn steht ihr Lieblingszitat von Ali Abi Talib - „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie.“