Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Archive statt Böhmermann
Kolumne gegen das krawallige Meinungen-Raushauen

Soll er sich dieses Mal über Jan Böhmermann ärgern? Und dabei vielleicht noch von "Cancel Culture" sprechen? Mattias Dell hat sich dagegen entschieden. Und für eine Kolumne über ein Thema, das randständig scheine - aber für Ansehen und Berechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von Bedeutung sei.

Von Matthias Dell | 08.09.2021
Filmrollen, die in Regalen lagern
Die Archive von ARD, ZDF und Deutschlandradio - "eine Art kulturelles Gedächtnis von 1945 bis heute", so Matthias Dell (picture-alliance / ZB | Nestor Bachmann)
Der Vorteil an Meinungen ist, dass sie schnell zu fabrizieren sind und im besten Falle Aufmerksamkeit erzeugen. Hilfreich sind dabei die richtigen Reizwörter, also Begriffe wie "Cancel Culture" oder "politisch korrekt", die schon Ärger versprechen, wenn sie nur erwähnt werden. So könnte ich mich etwa über Jan Böhmermann aufregen, der am Wochenende in einem Talk mit Markus Lanz und Giovanni di Lorenzo darüber reden wollte, nach welchen Maßstäben die Gäste für solche Talks ausgewählt werden.
Und dann könnte ich der Meinung sein, dass Jan Böhmermann nur seine Maßstäbe gelten lässt, dass Jan Böhmermann Meinungen verbieten, ja canceln will, auch wenn er das gar nicht gesagt hat, und die Wahrscheinlichkeit wäre ziemlich groß, dass sich meine Kolumne großer Beliebtheit erfreuen würde.
Matthias Dell
Matthias Dell, Jahrgang 1976, studierte Komparatistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Paris. Er schrieb von 2004 bis 2014 für das Medien-Watchblog "Altpapier" und veröffentlicht jeden Sonntag nach der Ausstrahlung eine Kritik zum aktuellen "Tatort" beziehungsweise "Polizeiruf" auf Zeit Online. 2012 erschien sein Buch "'Herrlich inkorrekt'. Die Thiel-Boerne-Tatorte" bei Bertz+Fischer.
Dass sie einen Triumphzug der Klicks durch die sozialen Netzwerke antreten würde, auch wenn auf Twitter oder Facebook schon seit Tagen das gleiche geschimpft wird. Die Leute, die auf Twitter meiner Meinung sind, würden die Kolumne in die Arme nehmen wie den verlorenen Sohn - als Beleg dafür, dass sie richtig schimpfen. Guckt mal, der Deutschlandfunk sagt's doch auch.

Aber was wäre das für ein Journalismus?

Dass diese Kolumne häufiger als andere geklickt würde, fiele auch den Menschen beim Deutschlandfunk auf. Und egal, wie diese Menschen meine Kolumne inhaltlich fänden – dass sie sich so großer Beliebtheit erfreute, das fänden sie nicht schlecht. Weil Aufmerksamkeit nun mal die die erbarmungslos messbare Währung im Digitalzeitalter ist.
Aber was wäre das für ein Journalismus? Am Montag hat Lutz Hachmeister in dieser Sendung darauf hingewiesen, dass es da ein Problem gibt: "Und der Journalismus, der ja so ein bisschen Beruf des vergangenen Jahrhunderts ist, das muss man einfach technologisch, soziologisch so sagen, muss sich auch die Frage stellen, wofür er noch gut sein will. Was eigentlich seine Kernaufgabe ist. So kann man einfach nicht weitermachen."
"Phantom einer gespaltenen Gesellschaft"
Lügenpresse-Rufe von außen und Verteilungskämpfe im Inneren. In der Medienbranche zeigen sich etliche Kontroversen. Aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers Lutz Hachmeister ist das jedoch kein neues Phänomen.
Ich würde dem zustimmen. Das krawallige Meinungen-Raushauen in den Echokammern des Internets mag aktuell und kurzfristig Aufmerksamkeit, Reichweite und Bekanntheit versprechen. Auf längere Zeit macht sich der Journalismus damit überflüssig, insbesondere der öffentlich-rechtliche.

Debatte um Archive muss geführt werden

Und deshalb möchte ich die Aufmerksamkeit dieser Kolumne auf ein Thema lenken, dass kompliziert wirkt und randständig scheint. Von dem ich aber glaube, dass es für Ansehen und Berechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von großer Bedeutung ist: den Umgang mit den Archiven von ARD, ZDF und Deutschlandradio.
Denn dort lagert eine Art kulturelles Gedächtnis von 1945 bis heute. Produziert und finanziert von öffentlich-rechtlichem Geld. Weshalb es Leute gibt, die sich mit dem Thema beschäftigen und die verführerische Forderung stellen, alles sollte frei und kostenlos zugänglich sein. Dem gegenüber stehen die Sorgfalten von Urheberrechten, fehlenden Ressourcen und institutioneller Grundskepsis. Aber: Diese Debatte muss geführt werden. Und sie wird geführt.
Wie Deutschlandradio seine Sendungen digitalisiert
Meterlange Tonbänder, auf denen Jahrzehnte von Aufnahmen gespeichert sind – im Deutschlandradio ist das längst Geschichte. Heute ist das Archiv des Hörfunksenders weitgehend digitalisiert.
Dass sich etwas bewegt zwischen diesen Positionen, zeigt die Internetseite www.die-fuenfte-wand.de. Dort findet sich seit Sonntag das Archiv von Navina Sundaram, der ersten migrantischen Reporterin der ARD, die von 1964 bis 2003 für den NDR gearbeitet hat. Und dort kann man in einem Meer an Dokumenten, Filmen und Fotos schwimmen und viel über Journalismus, Politik und Gesellschaft verstehen.
Auch wenn das Sundaram-Archiv nicht so viral gehen wird wie die Böhmermann-Beschimpfung – wenn ich die mal gemacht hätte.