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Artenschutz versus Wirtschaft
Europas Streit um Bienen und Pflanzenschutzmittel

Einige Pflanzenschutzmittel können tödlich sein für Bienen. Deswegen arbeitet die EU an strengeren Zulassungskriterien. Wirtschaftsverbände laufen dagegen Sturm und der Prozess ist intransparent - und steht stellvertretend für Demokratiedefizite in der EU.

Von Mirjam Stöckel | 15.07.2019
Eine Biene im Anflug auf eine geöffnete Finger-Küchenschelle
Das Ringen um den Bienenschutz zeigt beispielhaft, wie Konflikte zwischen ökologischen und wirtschaftlichen Interessen in der Europäischen Union ausgetragen werden. (picture alliance / Winfried Rothermel)
Es war der 5. Mai 2008, als ein Imker aus der badischen Provinz eine Mail mit brisanten Beobachtungen an das Stuttgarter Ministerium für ländlichen Raum schickte. Was niemand ahnte: Diese Mail stieß eine Entwicklung mit an, die bis Brüssel wirken würde – und nun, gut elf Jahre später, Mitte Juli 2019, nach langem Streit hinter verschlossenen Türen auf eine Entscheidung zusteuert.
Es geht dabei um Bienen, um Honigbienen, Wildbienen und ihren Schutz vor gefährlichen Pflanzenschutzmitteln. Und es ist ein Streit, der ein Demokratiedefizit der Europäischen Union offenbart: die völlige Intransparenz mancher Entscheidungsverfahren nämlich. Man kann sagen: Das Ringen um den Bienenschutz zeigt beispielhaft, wie Konflikte zwischen ökologischen und wirtschaftlichen Interessen in der Europäischen Union ausgetragen werden. Dazu muss man zunächst zurück zu der Mail vom Mai 2008.
"Die Schadensmeldungen gingen ein wie verrückt. Für mich war klar, da läuft eine Katastrophe." Ekkehard Hülsmann, Absender der Nachricht, heute 74 und damals Präsident des Landesverbands badischer Imker, erinnert sich: Ende April 2008 berichteten ihm Anrufer von massenhaft sterbenden Bienen überall am Oberrhein, auf 170 Kilometer Luftlinie zwischen Lörrach und Rastatt. Fast 11.500 geschädigte Völker bei 700 Imkern wird das Landwirtschaftsministerium später bilanzieren.
Der Bienenzüchter Ekkehard Hülsmann zeigt ein Wabenrähmchen mit einem Bienenvolk.
Bienenzüchter Ekkehard Hülsmann: Ende April 2008 berichteten ihm Anrufer von massenhaft sterbenden Bienen überall am Oberrhein. (Deutschlandradio / Mirjam Stöckel)
"Ich saß vor meinen Bienenständen vor dem Flugloch und habe gesehen: Im Gras braune Teppiche, so anderthalb Meter lang, von toten Bienen, die da lagen im Gras. Aus allen Bienenstöcken wurden ständig tote Bienen rausgetragen. Mich hat's gefroren", erinnert sich Hülsmann.
Die Bienen starben an Clothianidin. Einem Pflanzenschutzmittel-Wirkstoff von Bayer zur Bekämpfung von Mais-Schädlingen. Aus der Gruppe der so genannten Neonicotinoide, kurz Neonics. Es wurde bei der Aussaat von fehlerhaft behandelten Maiskörnern unabsichtlich freigesetzt und auf Felder und Blüten geweht. Clothianidin wirkt auf Insekten wie ein Nervengift – in hohen Dosen tödlich.
Ekkehard Hülsmann informierte 2008 nicht nur das Stuttgarter Ministerium, er ging auch an die Presse. Das Bienensterben und die Neonics gelangten auf die politische Agenda. Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien meldeten ebenfalls Bienen-Verluste.
Heute weiß man: Es sind verschiedene Belastungen, unter denen Bienen und andere Insekten leiden. Monotone Agrarlandschaften mit wenig Futterangebot, Verlust von Lebensraum durch Bebauung, teils Parasiten und der Klimawandel etwa – aber eben auch Agrarchemikalien.
Die neuen Bienenleitlinien
Unter anderem zum Stichwort Pestizide listete die EU-Kommission 2010 in einem ersten Bericht zur Bienengesundheit mögliche Schutzmaßnahmen auf. 2013 beschloss sie dann gemeinsam mit den 28 EU-Staaten ein Teilverbot von drei Neonics, darunter Clothianidin.
Außerdem gab die Kommission einen Auftrag an die EFSA raus, die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit: Ein neuer wissenschaftlicher Leitfaden zur Bewertung der Risiken von Pflanzenschutzmitteln für Bienen müsse her. Der bisherige stammte aus 2002.
Kommissionssprecherin Anca Paduraru: "Die Kommission hat die neuen Bienenleitlinien als Teil ihrer Strategie zum Schutz der Bienen angefordert. Den Fall in Deutschland hat sie dabei nicht explizit genannt. Aber in der Tat: Hintergrund des Auftrags an die EFSA war die allgemein sinkende Bienenzahl."
2013 lagen die Bienenleitlinien vor, und sie wurden ein überaus kontroverses Dokument. Auf 268 Seiten beschreiben die Leitlinien im Detail, welche Studien mit welchen Methoden ein Hersteller machen muss, um nachzuweisen, dass eine Substanz für Bienen ungefährlich ist.
Beispielsweise: Im Zweifel aufwändige Freilandversuche statt nur Laboruntersuchungen. Tests auf chronische Wirkungen eines Stoffes – und: Tests an bestimmten Wildbienen und Larven von Honigbienen, nicht nur an erwachsenen Honigbienen.
Bernhard Url, Geschäftsführender Direktor der Lebensmittelbehörde EFSA, nennt die Leitlinien eine Hilfestellung:
"Dass die Antragsteller es wissen: Okay, diese Daten muss ich produzieren unter diesen Bedingungen, das muss ich einreichen – damit die Risikobewerter in den Mitgliedsstaaten und auf EU-Ebene bewerten können, ob mein Produkt die Bienenschutzziele einhält."
Tote Bienen, getötet durch Clothianidin, ein Pflanzenschutzmittel-Wirkstoff von Bayer, eingesetzt zur Bekämpfung von Mais-Schädlingen
Tote Bienen, getötet durch Clothianidin, ein Pflanzenschutzmittel-Wirkstoff von Bayer, eingesetzt zur Bekämpfung von Mais-Schädlingen. (picture alliance / Antonio Pisacreta)
Die neuen Bienenleitlinien wurden gelobt: Umweltschutzorganisationen halten sie für das derzeit beste Verfahren zur Sicherheitsbewertung von Pflanzenschutzmitteln. Auch die EU-Kommission war überzeugt. Sie wollte die strengen Leitlinien zur Grundlage jeder Risikobewertung von Pflanzenschutzwirkstoffen machen. Dafür brauchte sie allerdings grünes Licht der EU-Staaten.
Doch zu viele haben bis heute Vorbehalte – und verlangen Änderungen. Kommissionssprecherin Anca Paduraru:
"Die Kommission ist nicht befugt, die Leitlinien den Mitgliedsstaaten aufzuzwingen. Wir können und dürfen sie nicht einfach annehmen, wann und wie wir wollen. Obwohl wir glauben, dass es für die Bienen und für die Bevölkerung gut wäre. Aber die Mitgliedsstaaten müssen unsere Vorschläge billigen mit qualifizierter Mehrheit. Darum dauert das so lange."
Um zu verstehen, warum die Bienenleitlinien so umstritten sind, muss man den Genehmigungsprozess für Pflanzenschutzwirkstoffe in Europa verstehen. Ob ein Wirkstoff genehmigt wird oder nicht – das entscheiden EU-Kommission und Mitgliedsstaaten gemeinsam.
Sie stützen sich immer auf ein wissenschaftliches Gutachten zur Sicherheit des Stoffes etwa für Menschen, Vögel, Säugetiere – und eben Bienen. Für das Gutachten evaluieren zuerst eine nationale Behörde und danach die EFSA alle Studien, die ein Hersteller eingereicht hat.
Großer Erfolg für Umweltschutzverbände
Prüf-Maßstab sind – und das ist der entscheidende Punkt – wissenschaftliche Leitlinien. Wer die nicht einhält, kann kein positives Sicherheitsgutachten bekommen. Damit ist klar, wie wichtig die Bienenleitlinien sind: Sie definieren, wie hoch die Hürde ist, die ein Wirkstoff nehmen muss, um genehmigungsfähig zu sein.
Was es bedeuten kann, wenn die Bienenleitlinien zum Einsatz kommen – das zeigte ein Sonderfall 2018: Da erstellte die EFSA auf Grundlage der Bienenleitlinien ein außerordentliches Sicherheitsgutachten zu Clothianidin, dem Auslöser des badischen Bienensterbens, und den beiden anderen Neonics, die 2013 teilweise verboten worden waren.
Das Gutachten urteilte: Die drei Neonics seien in der Mehrzahl ihrer Anwendungen ein Risiko für Honig- und Wildbienen. Nur wenige Wochen später verboten EU-Kommission und Mitgliedsstaaten die Substanzen im Freiland komplett.
Ein großer Erfolg für Umweltschutzverbände – und Imker wie Ekkehard Hülsmann: "Ich habe angestoßen mit meiner Frau, die hat ja das ganze Ding 2008 ja hautnah miterlebt – und habe ich gesagt: Es ist wirklich toll."
Der Deutsche Bauernverband dagegen mahnte, die Landwirte brauchten schnell Alternativen zu den verbotenen Neonics, um ihre Erträge gegen Schädlinge abzusichern.
Und Clothianidin-Produzent Bayer bezeichnete das Verbot als schlechte Übereinkunft für Europa. Landwirte müssten nun auf ältere, weniger effektive Chemikalien zurückgreifen, mehr Sprüheinsätze fahren und so mehr CO2 ausstoßen.
Imker verstreuen tote Bienen bei der Hauptversammlung der Bayer AG in Bonn
Bei der Hauptversammlung der Bayer AG in Bonn demonstrierten Aktivisten auch gegen das Bienensterben und den Anteil, den die Pharmafirma Bayer daran haben soll. (imago images / Sven Simon)
Bayer wie auch der Schweizer Hersteller Syngenta hatten schon 2013 gegen das Teilverbot der Neonics geklagt. Allein Syngenta verlangte damals fast 368 Millionen Euro Schadensersatz. Die Klagen wurden abgewiesen. Das Verfahren von Bayer läuft in zweiter Instanz bis heute.
Die Reaktionen der Landwirte und der Hersteller auf die Neonic-Verbote offenbaren, worum es beim Streit um die Bienenleitlinien tatsächlich geht: um eine Abwägung zwischen Bedingungen der Lebensmittelproduktion und Wirtschaftsinteressen einerseits und Schutzstandards für Honigbienen und andere Insekten andererseits.
Bis heute will die Branche verhindern, dass die Bienenleitlinien zum allgemeinen Prüfstandard für Pflanzenschutzmittel werden. Ihr Ansatz sei zu restriktiv, heißt es beim Industrieverband Agrar IVA, dem Interessenverband der agrochemischen Industrie in Deutschland.
IVA-Sprecher Martin May kritisiert, dass "dieses Dokument sehr komplex ist. Es ist nicht praktisch und die Beschreibung der Studien und die Studienanforderungen sind so, dass letzten Endes kaum noch Pflanzenschutzmittel genehmigungsfähig wären".
Der IVA und der europäische Branchen-Dachverband ECPA bemängeln etwa die anspruchsvollen Vorgaben für Feldstudien als nicht umsetzbar. Auch gebe es für bestimmte Untersuchungen gar keine anerkannten Testverfahren. Und schließlich, so die Auffassung der Verbände, seien Sicherheitstests allein an Honigbienen ausreichend.
Umweltschutzorganisationen und viele Wissenschaftler dagegen beharren auf der Notwendigkeit von Studien an Wildbienen: Die Honigbiene sei eben nicht mit jeder der über 500 Wildbienen-Arten vergleichbar – und schon gar nicht mit anderen Insekten.
Wenn Wissenschaft auf Politik und gesellschaftliche Werte trifft
Anfang 2019 erhöhten mehr als 100 Europaabgeordnete – vor allem Grüne und Sozialdemokraten, aber auch Konservative und Linke – den politischen Druck. In einem Brief, der dem Deutschlandfunk vorliegt, forderten sie die EU-Kommission auf "…ihr Äußerstes dafür zu tun, dass die Bienenleitlinien der EFSA in ihrer Gesamtheit gebilligt und in keinerlei Weise abgeschwächt werden".
Der Streit um die Bienenleitlinien sei ein gutes Beispiel dafür, sagt EFSA-Direktor Bernhard Url, was passieren könne, wenn Wissenschaft auf Politik und gesellschaftliche Werte treffe:
"Dann kann es hin und wieder zu Spannungen kommen, weil eben auf Komitologie-Ebene auch andere Faktoren außerhalb der wissenschaftlichen Evidenz ins Spiel kommen. Wie ökonomische Überlegungen, ethische Überlegungen, wie Landwirtschaft betrieben werden soll, wie ist eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen.
Und da haben eben die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Ansichten gehabt, und ich denke, das ist noch immer so der Fall im ständigen Ausschuss. Und deswegen hat die Kommission keine Mehrheit gefunden, diese Bienenrichtlinien im Ständigen Ausschuss zu einer positiven Abstimmung zu bringen."
Der Direktor der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa), Bernhard Url, sitzt an einem Schreibtisch.
EFSA-Direktor Bernhard Url sieht in dem Fall Spannungen zwischen Wissenschaft und Politik. (dpa / picture alliance / Alvise Armellini)
Die Komitologie mit den Ständigen Ausschüssen, die Url anspricht, das ist ein ganz besonderes Brüsseler Entscheidungsverfahren, das auch bei den Bienenleitlinien greift.
Im Komitologieverfahren stimmt die Europäische Kommission ihre Vorschläge für konkrete Maßnahmen mit den EU-Staaten ab – vertreten durch unzählige Fachbeamte in über 250 Ausschüssen. So werden allgemein gehaltene EU-Vorschriften umgesetzt oder – Stichwort Bienenleitlinien – an den wissenschaftlichen Fortschritt angepasst.
"Im Komitologieverfahren werden jedes Jahr um die 1.500, 2.000 Rechtsakte angenommen", sagt Urs Pötzsch, Jurist beim Freiburger Centrum für Europäische Politik: "Die meisten von denen sind technisch und unstreitig und ohne Interesse für die weitere Öffentlichkeit."
Das Komitologieverfahren
Mal geht es um Zucker in Babynahrung, mal um Energielabels für Kühlschränke, mal um Überschreitungen von Stickoxid-Grenzwerten. Ganz selten aber – zehn, 15 Mal im Jahr – eben doch um politische, kontroverse Fragen. Meist um Pflanzenschutz – Stichworte Glyphosat und Bienenleitlinien – und um gentechnisch veränderte Pflanzen.
Genau dann wird es heikel: Das Komitologieverfahren ist nämlich nicht-öffentlich. So gilt es als das Beispiel schlechthin für undurchsichtige Entscheidungsfindung in Brüssel. Womit der Konflikt um die Bienen und die Pflanzenschutzmittel zu einem Beispiel dafür wird, wie sich die vielfach beklagte Intransparenz und das entsprechende Demokratiedefizit der Europäischen Union im Einzelfall darstellen.
Welcher EU-Staat im Lauf der Jahre welche Position zu den Bienenleitlinien eingenommen hat – das bleibt hinter den verschlossenen Türen der Komitologie-Verhandlungen. Auch das Bundeslandwirtschaftsministerium teilt auf Anfrage bloß allgemein mit:
"Die Position der Bundesregierung besteht darin, den Fortschritt für die Risikobewertung der Pflanzenschutzmittel für Bienen und andere Bestäuber zu fördern und die Kommission in den Bemühungen eines tragfähigen Kompromisses zu unterstützen."
Emily O'Reilly kritisiert die Geheimniskrämerei. Die Irin ist Bürgerbeauftragte der Europäischen Union – qua Amt Kämpferin für mehr Transparenz:
"Wir wissen nicht, was da bei den Mitgliedsstaaten passiert. Natürlich hat jeder Mitgliedsstaat eine Position zu den Bienenleitlinien – aber diese Positionen wurden nicht öffentlich gemacht. Deshalb werden sie keiner demokratischen Überprüfung unterzogen. Und das ist vor allem ein Problem bei Themen, die so wichtig sind wie dieses hier."
Emily O'Reilly, Bürgerbeauftragte der Europäischen Union, spricht in Brüssel
Die irische Journalistin Emily O'Reilly ist Bürgerbeauftragte der Europäischen Union. (dpa / picture alliance / Laurent Dubrule)
Immerhin gehe um den Schutz der Artenvielfalt, an dem großes öffentliches Interesse bestehe, sagt O'Reilly. Und sie geht noch weiter. Die Intransparenz der Komitologie-Entscheidungen beschneide das Recht der Bürger, am demokratischen Leben in der EU teilzuhaben:
"Wir stehen hier im Dunkeln. Da ist es sehr schwierig für uns, das zu tun, was man normalerweise in einem demokratischen Prozess tut: Nämlich in den Austausch zu gehen mit den politischen Entscheidungsträgern. Ich denke, das macht die EU als Ganzes angreifbar – selbst wenn es nur ein paar Mitgliedsstaaten sind, die sich da nicht einigen können."
Glücklich ist die EU-Kommission mit der Intransparenz selbst nicht – im Gegenteil. Denn das undurchsichtige Komitologieverfahren macht es den EU-Staaten leicht, gerade heikle Entscheidungen der Kommission zuzuschieben. Denn wenn die EU-Staaten sich nicht mehrheitlich auf eine Position einigen können, muss automatisch die EU-Kommission allein entscheiden.
Dabei sind politisch sensible Fragen nach Einschätzung von Rechtsexperten – Stichwort Gewaltenteilung – Aufgabe von EU-Ministerrat und Europaparlament. Und die hoch strittigen Genehmigungen von Pflanzenschutzmitteln und gentechnisch veränderten Pflanzen der Vergangenheit haben gezeigt: Die Entscheidungsverantwortung kann der Kommission auf die Füße fallen.
Urs Pötzsch vom Centrum für Europäische Politik: "Dann können die Mitgliedsstaaten mit dem Finger auf die Kommission zeigen und sagen: Wir haben das nicht entschieden – das hat die Kommission entschieden."
Die Reform liegt dauerhaft auf Eis
Darum will sie die Komitologieregeln reformieren und das Abstimmungsverhalten aller Mitgliedsstaaten bei strittigen Fragen veröffentlichen. Der EU-Kommissar Vytenis Andriukaitis sagte im Sommer 2018:
"Wir haben Vorschläge unterbreitet, damit im Ausschuss auf offenere und transparentere Weise abgestimmt wird. Sonst wird es weitergehen wie bisher mit dem Versteckspiel hinter der Kommission. Die Vorschläge liegen nun schon seit zwei Jahren in den Händen von EU-Ministerrat und Europaparlament. Aber es scheint kein Interesse daran zu geben, voranzukommen."
Denn die EU-Staaten haben offenkundig nicht die Absicht, sich von der Kommission stärker in die Verantwortung nehmen zu lassen. 15 von ihnen hätten erklärt, den Reformvorschlag nicht zu unterstützen, so Pötzsch: "Und damit ist klar, dass keine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat für den Vorschlag zustande kommt."
Ohne diese Mehrheit liegt die Reform wohl dauerhaft auf Eis. Und das Komitologieverfahren bleibt der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen.
Zurück zum Streit um die Prüfkriterien für Pflanzenschutzmittel: Die 28 EU-Staaten werden am 16. und 17. Juli im Komitologie-Ausschuss wohl eine schrittweise Einführen der Bienenleitlinien beschließen – ein Mininalkompromiss. Alle besonders strittigen, weil hohen Hürden für Pflanzenschutz-Wirkstoffe blieben dabei für mindestens zwei Jahre ausgesetzt.
Im Klartext: Vorerst keine Tests auf chronische Wirkungen, keine Tests an Wildbienen und keine an Larven von Honigbienen.
Bis März 2021 wird die EFSA die Bienenleitlinien aus 2013 auf den neuesten wissenschaftlichen Stand bringen. Dann, so die Hoffnung, könnten sie unter den EU-Staaten mehrheitsfähig sein. So lange müssen Hersteller weiter nur akute Risiken eines Wirkstoffes an erwachsenen Honigbienen testen – das aber mit umfassenderen Studien als bisher.
Ein kleinster gemeinsamer Nenner, der auf Kritik stößt: Den Herstellern sind die umfassenden Studienanforderungen nach wie vor zu anspruchsvoll. Und Umweltschützer sehen die ursprünglichen Vorgaben verwässert. Ob Deutschland dem Vorschlag zustimmt? Unklar.
Das Ringen um die Bienenleitlinien – es fügt sich ein in die große Debatte über die laufende Reform der milliardenschweren EU-Agrarpolitik: Welche Art der Landwirtschaft will Europa nach 2020?
Auch hier ist eine der Haupt-Konfliktlinien die zwischen Wirtschaftsinteressen auf der einen - und Klima- und Artenschutz auf der anderen Seite. Mit dem neuen EU-Parlament – und einer erstarkten Grünen-Fraktion – gehen die Verhandlungen jetzt in die heiße Phase.