Samstag, 20. April 2024

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Atomare Rüstungskontrolle
"Das Verständnis für die Materie fällt weg"

Nuklearwaffenexperten halten einen begrenzten Atomkrieg für unmöglich. Politiker ohne Weltkriegserfahrung spielten aber durchaus mit solchen Gedanken, so der Politologe Andrej Zagorski im Dlf. Rüstungskontrollverträge seien wichtig, um Missinterpretationen und fehlendes Vertrauen zu kompensieren.

Andrei Zagorski im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 06.08.2020
Ein Raketen- oder Geschosswerfer als schwarze Silhouette vor hellem Hintergrund.
Die Bedrohung der Welt durch militärische Waffen soll durch Abrüstung und Rüstungskontrolle eingegrenzt werden (imago / Shotshop)
In Hiroshima jährt sich zum 75. Mal der amerikanische Atombombenabwurf. Zehntausende Bewohner waren damals sofort tot, insgesamt starben bis Ende 1945 schätzungsweise 140.000 Menschen. Drei Tage später warfen die USA eine zweite Bombe auf Nagasaki ab, die weitere 70.000 Menschen tötete.
Unmittelbar nach den Explosionen begann das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion. Der vermeintliche militärische Vorteil der Amerikaner wurde schnell zum Patt - es kam zum sogenannten Gleichgewicht des Schreckens.
2010 unterzeichnen der US- und der russische Präsident Barack Obama und Dmitri Medwedjew den New-START-Abrüstungsvertrag
Rüstungskontrolle in der Krise
Der letzte große atomare Abrüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA läuft im kommenden Jahr aus. Er gilt als Erfolg, dennoch stehen die Chancen über eine neue Einigung schlecht, denn das Misstrauen zwischen Amerikanern und Russen ist zurück.
ABM, NVV, SALT 1, SALT 2, INF, START – all diese Kürzel stehen für zumeist ausgelaufene oder gekündigte Rüstungskontrollverträge. Die Verträge zielten nicht auf nur eine Begrenzung und Verringerung von Sprengköpfen und Trägersystemen, sie sollten auch zur Vertrauensbildung zwischen rivalisierenden Supermächten beitragen.
Anlässlich des Gedenkens an die nukleare Katastrophe forderte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, das nukleare Risiko vollständig zu beseitigen und Atomwaffen vollständig zu eliminieren. Auch Bundesaußenminister Heiko Maas forderte neue Impulse für die nukleare Abrüstung.
Dossier: Atomwaffen
Beim Politologen Andrej Zagorski vom Moskauer Institut für internationale Beziehungen haben wir nachgefragt, ob angesichts auslaufender Begrenzungsverträge eine "nukleare Anarchie" droht.
Andrej Zagorski: Jedenfalls nicht unbedingt, denn soweit bleiben alle Modernisierungsprogramme der USA und Russlands im Rahmen des Vereinbarten. Ich denke, sollte der Neustart-Vertrag weggehen, wäre der größte Verlust der Verlust der Transparenz auf beiden Seiten. Und das erhöht die Gefahr einer unberechenbaren Eskalation.
Skepsis auf russischer und amerikanischer Seite
Jörg Münchenberg: Nun sagen ja manche Experten, die Angst vor einem Atomkrieg, die ja im Kalten Krieg noch omnipräsent sei, die sei mittlerweile verlorengegangen auch bei den maßgeblichen politischen Akteuren. Teilen Sie diese Einschätzung?
Zagorski: Das stimmt weitgehend, denn Politiker in den meisten Staaten – inklusive USA und Russland – verstehen wenig davon. Es gibt keine Lust, zum Beispiel im amerikanischen Kongress, irgendwelche Verträge im Bereich der Rüstungskontrolle zu ratifizieren, es gibt Skepsis auch in Russland. Wir haben eine Generation der Politiker, die nicht mehr den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, die nicht mehr so bewusst den Kalten Krieg miterlebt haben. Das Verständnis für die Materie fällt weg, die Gruppe, der Kreis derjenigen, die an Rüstungskontrolle arbeiten, wird immer enger.
Andere Nuklearwaffenstaaten mit einbeziehen
Münchenberg: Gibt es überhaupt noch ein ernsthaftes Interesse an Rüstungskontrolle oder ist das faktisch auch gar nicht mehr richtig existent?
Zagorski: Es gibt bestimmtes Interesse, das stimmt, aber das greift nicht sehr tief in die Politik. Die Sache ist einfach, natürlich muss man China und Indien mit einbeziehen, muss man auch andere Nuklearwaffenstaaten mit einbeziehen. Aber um das machen zu können, muss man nicht unbedingt das Bestehende wegwerfen.
Münchenberg: Russland lässt ja derzeit die Muskeln spielen, ständig werden neue Superwaffen angekündigt. Es gibt jetzt Marschflugkörper mit fast unbegrenzter Reichweite, Atomtorpedos, Hyperschallraketen und anderes mehr. Die Botschaft dahinter kann man ja durchaus so interpretieren, Russland betreibt jetzt eine offensive Nuklearstrategie.
Zagorski: Nun die Marschflugkörper und vieles andere muss nicht nuklear bestückt sein, das ist von keinen Verträgen gedeckt, aber das ist genau der Punkt: Man muss über all diese Waffen reden, dafür braucht man Rüstungskontrollen. Ich denke, Moskau wäre schon dazu bereit.
Eskalation zum Zwecke der Deeskalation?
Münchenberg: Aber im Westen sagen manche Experten, dass auch die russische Militärdoktrin, ob sie nun offensiv oder defensiv ausgerichtet ist, da lasse man den Westen bewusst ein bisschen im Unklaren. Hat sich da etwas verschoben?
Zagorski: Das ist auch ein Punkt für die Rüstungskontrolle, denn im Westen geht man davon aus, dass Moskau eine Strategie von Eskalation zum Zwecke der Deeskalation betreibe. Das würde bedeuten, wenn Russland konventionell unterlegen angegriffen wird, macht man einen Warnschuss mit einer taktischen Atomwaffe, um die weitere Eskalation zu stoppen. Und in der Tat geht man in den USA davon aus, dass Russland diese Strategie betreibt. Auf russischer Seite verneint man das, ich kenne das aus den Gesprächen mit Atomrüstungsexperten. Sie haben große Probleme mit diesem Konzept. Genau darüber muss man reden, das muss man auch mit Rüstungskontrollverträgen abdecken, damit diese Interpretation oder Missinterpretationen nicht mehr da sind. Berechenbarkeit ist wichtig, und der eigentliche Sinn der Rüstungskontrollen geht um die Berechenbarkeit.
Der russische Präsident Wladimir Putin beobachtet den Start des Hyperschall-Raketensystems Avangard per Videoschaltung im Kommandozentrum des Verteidigungsministerium in Moskau. (26.12.2018) Neben Putin sitzen hochrangige Militärs sowie der Verteidigungsminister Sergeij Schoigu. 
Taugen Atomwaffen noch als Abschreckung?
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich möchte, dass in Deutschland keine Atomwaffen mehr stationiert werden. Doch viele halten das wegen der russischen Politik für dringend notwendig.
Münchenberg: Ein begrenzter nuklearer Erstschlag, das ja eine neue Qualität. Bisher hieß es ja immer, beide Seiten schlagen dann mit voller Wucht zurück. Hat sich auch mit den neuen Waffen da etwas deutlich verschoben in Richtung mehr Unsicherheit?
Zagorski: Viele in der USA und manche in Russland spielen mit dem Gedanken, das ist nicht neu, wir haben das Ende der 70er-Jahre und Anfang der 80er-Jahre erlebt. So weit geht der Kreis der Atomwaffenexperten davon aus, dass auch ein kleiner Nuklearaustausch sich nicht begrenzen lässt. Und das ist genau der Punkt bei den Experten gegen jegliche niedrige Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen. (Passage nicht deutlich zu verstehen) Das heißt, die nuklearen Waffenexperten gehen davon aus, dass es keinen begrenzten Atomkrieg geben kann, Politiker spielen schon mit diesen Gedanken.
Russische militärische Doktrin seit Jahren unverändert
Münchenberg: Aber noch mal zur Klarstellung: Hat sich an der russischen Strategie tatsächlich etwas verschoben?
Zagorski: Das scheint nicht der Fall zu sein, denn eigentlich das, was wir in der militärischen Doktrin haben, hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Das sehen wir schon in der Doktrin von 1993. Und auch die jüngst veröffentlichen Grundlagen für den Einsatz von Atomwaffen bleiben im Rahmen der nuklearen Doktrin. Was sie auf der russischen Seite im Rüstungskontrollexpertenkreis versucht haben, mehr davon zu veröffentlichen, was in den internen Papieren steht, dass es mehr Klarheit gibt, welche Optionen Moskau erwägt. Aber die Geheimhaltungsgrade steigen mit der steigenden Turbulenz.
Münchenberg: Aber warum dann immer wieder die Ankündigung auch von Putin mit diesen neuen modernen Waffen, eben Hyperschallwaffen und die anderen, die ich vorhin aufgezählt habe?
Zagorski: Die meisten Waffen mit großer Reichweite fallen noch unter den Neustart-Vertrag, wenn der nicht wegfällt im Februar. Über den Rest muss man reden.
Münchenberg: Ist denn das zentrale Problem zwischen Washington und Moskau nicht das fehlende Vertrauen, weil letztlich ja jede Seite der anderen unterstellt, Planspiele für eine militärische Überrumpelung anzustellen und eben mithilfe von Atomwaffen?
Zagorski: Es gibt kein Vertrauen, das ist auf dem Nullpunkt. Und es gibt zu viele Verschwörungstheorien auf beiden Seiten. Man kann das natürlich nicht allein mit Rüstungskontrollen nicht wegschaffen, aber Rüstungskontrolle gehört auch dazu.
Beiträge der Reihe "Das neue atomare Wettrüsten"

Teil 1: Zerstörer der Welten
Teil 2: Mini-Nukes
Teil 3: Simulieren und testen
Teil 4: Ultraschnell ins Ziel
Teil 5: Künstlich intelligentTeil 6: Kurz vor Mitternacht
Verlängerung des Neustart-Vertrags um fünf Jahre ist entscheidend
Münchenberg: Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht jetzt New Start. Darüber wird ja derzeit in Wien verhandelt, über eine Verlängerung. Und ein zentraler Punkt ist ja eben, das haben Sie vorhin auch schon mal gesagt, Vertrauen. Was passiert, wenn dieser Vertrag jetzt nicht verlängert wird?
Zagorski: Zum ersten würde ich sagen, es ist im Moment so 50 zu 50. Man spricht weiter. Die Entscheidung aus dem Neustart-Vertrag auszusteigen, ist in den USA noch nicht getroffen.
Zum Zweiten: Vorausgesetzt, der Neustart-Vertrag fällt weg, dann denkt man natürlich an Plan B und C. Das Wichtigste wäre, dass man die Transparenz nicht verliert. Im Vertrag geht es eigentlich nicht so um Quantitäten. Die USA und Russland haben beide abgerüstet, stark abgerüstet. Und in der Tat, die Quantität der Waffen bleibt bei beiden Seiten eben im Rahmen des Geplanten. Das heißt, Russland und die USA würden sowieso abrüsten – mit oder ohne Vertrag. Der Vertrag macht den Prozess transparent und berechenbar. Und das ist das Wichtigste.
Es gibt Arbeitsgruppen im Moment auf der amerikanisch-russischen Seite, die unter anderem auch über Transparenz reden, das heißt, Beibehaltung der Transparenz ist wichtig. Die Amerikaner spielen natürlich die Karte, die wollen, dass Russland mitmacht bei dem Pushen der Chinesen in die Richtung, dass sie auch mitmachen bei dem Vertrag. Das scheint mir ein Handel, eine Handelstaktik zu sein. Ich gehe davon aus, die Sache ist noch nicht völlig durchgegangen. Die Chinesen haben deutlich gesagt, sie hätten im Moment kein Interesse. Sollten aber die USA und Russland auf die Ebene von 1000 Sprengköpfen abrüsten, dann wären die Chinesen bereit, an Gesprächen teilzunehmen, vielleicht auch früher. Ich gehe davon aus, dass die USA und Russland durchaus den Raum haben, bilateral auf 1000 auf jeder Seite abzurüsten. Das wäre der nächste Schritt. Parallel dazu muss man natürlich mit anderen Atommächten reden. Das ist der Punkt.
Wenn wir jetzt den Neustart-Vertrag verlängern würden für fünf Jahre, wie das vorgesehen ist, das braucht keine Zusage durch den Kongress, das ist wichtig. So hätte man Zeit, fünf Jahre, um einen neuen Vertrag zu verhandeln und parallel mit Chinesen und anderen zu reden. Wenn wir die fünf Jahre nicht haben, dann wird das schwieriger sein, weil die Transparenz weg ist und dann ist das Vertrauen noch weniger da.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.