Freitag, 26. April 2024

Nukleare Aufrüstung
Braucht Europa eigene Atomwaffen?

Sollte die nukleare Abschreckung durch die USA als größte NATO-Atommacht wegfallen, müsste Europa sich selbst schützen. Wie könnte eine europäische Aufrüstung aussehen? Sollte Deutschland Atomwaffen besitzen? Ein Überblick.

20.02.2024
    Frankreichs Atom-U-Boot "Le Terrible" beim Stapellauf im März 2008
    Frankreichs Atom-U-Boot "Le Terrible" ist eines von vier atomwaffenbestückten Unterseebooten. (picture-alliance / dpa / epa / Jean Yves Desfoux)
    Eine Aussage von Donald Trump sorgt derzeit für Aufregung. Während eines Wahlkampfauftritts drohte der republikanische Präsidentschaftsbewerber der USA damit, die Nato-Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs nicht zu verteidigen. Die Äußerungen lösten eine Debatte über europäische Atomwaffen aus, wobei vorrangig zwei Varianten diskutiert werden: EU-eigene Atomwaffen sowie eine Europäisierung des französischen Nuklearschirms. Eine dritte Überlegung ist, dass Deutschland selbst Atomwaffen in Betracht zieht.

    Inhalt

    Welche Rolle spielen die USA bei der nuklearen Abschreckung?

    Donald Trump hatte bei einem Wahlkampfauftritt am 10. Februar 2024 den Schutz von Nato-Staaten, die ihre finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen, infrage gestellt. Eigentlich soll jedes Nato-Land zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für das Militär ausgeben. Doch nur 18 der 31 Mitgliedstaaten erreichen derzeit dieses Ziel. Trump hat in seiner Rede zudem betont, er wolle Russland sogar zur Aggression ermutigen. Seine Aussagen haben eine erneute Debatte um europäische Atomwaffen entfacht.
    Derzeit basiert die nukleare Abschreckung der Nato fast ausschließlich auf den Atomwaffen der USA. Die US-amerikanischen Atomwaffen lagern dafür in Belgien, Italien, den Niederlanden, der Türkei und auch in Deutschland, etwa im Ruhrgebiet.
    „Die Europäer müssen sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Amerikas Schutzschirm verschwinden könnte und sie allein für ihre Sicherheit sorgen müssen“, sagt Jan Techau von der Politikberatungsfirma Eurasia Group. „In einer nuklearen Welt heißt das eben, dass sie selbst nuklear abschrecken können müssen.“ Dabei stehen vor allem zwei Optionen im Fokus: die Integration in den französischen Nuklearschutz und die Entwicklung eigener Atombomben auf EU-Ebene.

    Welche anderen Nato-Länder besitzen Atomwaffen?

    Großbritannien und Frankreich sind die einzigen beiden anderen Nato-Mitglieder, die Atomwaffen besitzen. Die beiden Länder gehören neben den USA, Russland und China zu den fünf offiziellen Atomwaffenstaaten. Laut der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) verfügt Frankreich über 280 einsetzbare Sprengköpfen. Außerdem besitzt Frankreich vier Atom-U-Boote: Le Triomphant, Le Téméraire, Le Vigilant und Le Terrible. Großbritannien verfügt über 120 Sprengköpfe.
    Diese Zahlen sind deutlich geringer als die von Russland, das 1674 einsetzbare Sprengköpfe hat, und den USA mit 1770 (Stand 2023).
    Eine Grafik der Atommächte und in deren Besitz befindliche Nuklearwaffen 2023
    Atommächte und in deren Besitz befindliche Nuklearwaffen, Stand 2023. (dpa / dpa-infografik GmbH)
    Russland und die Vereinigten Staaten verfügen damit gemeinsam über 90 Prozent aller Atomwaffen weltweit. Auch China hat sein Arsenal in den vergangenen Jahren erheblich ausgebaut und besitzt laut ICAN etwa 410 Atomsprengköpfe. 

    Wie könnte eine europäische Aufrüstung aussehen?

    Markus Kaim, Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, bezeichnet die Idee von EU-eigenen Atomwaffen, die auch von SPD-Politikerin Katarina Barley ins Spiel gebracht wurde, als unrealistisch. Im Deutschlandfunk erklärt er: „Es wäre dann die zentrale Frage, wer die Verfügungsgewalt über diese Waffen hätte. Solange die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nicht vergemeinschaftet ist und die einzelnen Staaten Herren des Geschehens bleiben, wird es auf diese Frage keine Antwort geben.“
    Eine Möglichkeit wäre, die Einführung eines Kommissars für Sicherheit und Verteidigung zu erwägen. „Wir könnten darüber nachdenken, den parlamentarischen Vorbehalt vom Bundestag auf das Europäische Parlament zu übertragen", sagt Kaim. Das wäre allerdings ein solch großer Vergemeinschaftungsschritt, der nur mit den „Vereinigten Staaten von Europa“ vorstellbar wäre – das wäre aber eine sehr langfristige Perspektive. In der kurzfristigen Variante helfe das nicht.
    EU-Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Mitte Februar 2024 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, angekündigt, im Falle einer zweiten Amtszeit einen neuen festen Posten in der EU-Kommission zu schaffen und einen Verteidigungskommissar einzusetzen.
    Politikwissenschaftler Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg blickt besorgt auf eine mögliche zweite Amtszeit von Donald Trump. Dieser werde seinen Worten Taten folgen lassen und versuchen, die Nato zu entwerten.
    Eine eigene europäische Abschreckung mit Atomwaffen sei aber unrealistisch, betont Kühn im Deutschlandfunk-Gespräch. Er könne sich nicht vorstellen, dass Frankreich seine Nuklearwaffen abgebe und einem Befehlskommando der EU unterstelle. Eine europäische Atombombe und eine europäische Armee seien derzeit Luftschlösser, so der Hamburger Friedensforscher.

    Was bringen Atomwaffen aus Frankreich und Großbritannien als Schutzschirm für Europa?

    Der französische Präsident Emmanuel Macron hat Deutschland und anderen EU-Partnern mehrfach eine Zusammenarbeit bei der nuklearen Abschreckung angeboten.
    Sicherheitsexperte Markus Kaim meint, dass eben diese Erweiterung der bereits bestehenden nuklearen Abschreckung Frankreichs oder Großbritanniens auf das gesamte europäische Gebiet derzeit die wahrscheinlichere Variante sei. Dies wäre kurzfristig machbar. Dabei müssten allerdings Details geklärt werden, wie etwa die Finanzierung und die Entscheidungsbefugnis.
    Politikwissenschaftler Ulrich Kühn rief die Bundesregierung in diesem Zusammenhang dazu auf, das Angebot von Frankreichs Präsident Macron über Gespräche zur atomaren Abschreckung in der EU so schnell wie möglich anzunehmen. Nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2027 und einem möglichen Wahlsieg der rechtsnationalen Partei Rassemblement National könne es dafür zu spät sein, betonte er. Spitzenkandidatin Marine Le Pen habe eine nukleare Teilhabe anderer EU-Partner, insbesondere Deutschlands, wiederholt abgelehnt.
    Bei Großbritannien, das kein EU-Mitglied mehr ist, sei unklar, in welche Richtung sich das Land entwickeln werde und ob die britische Regierung bereit sei, ihre Atomwaffen für die Sicherheit der Nato-Partner vorzuhalten.
    Die Nuklearwaffen Frankreichs und Großbritanniens würden sich grundlegend von den amerikanischen unterscheiden, so Jan Techau von der Politikberatungsfirma EURASIA. Amerikanische Nuklearwaffen seien deutlich differenzierter. Die Ausweitung dieser begrenzten und einseitig ausgerichteten Waffen Frankreichs und Großbritanniens auf den gesamten europäischen Kontinent wäre technisch schwierig und finanziell fast unmöglich in dieser Größenordnung. Techau betont: "Es bleibt die Tatsache im Raum stehen: Ohne den amerikanischen Schutzschirm bleiben die Europäer auf lange Zeit nuklear verwundbar."

    Sollte Deutschland über eigene Atomwaffen nachdenken?

    „Die Deutsche Variante wäre ein totaler Bruch mit deutscher außenpolitischer Tradition“, betont Sicherheitsexperte Markus Kaim. „Aber wir leben in einer Zeitenwende und wir sind an dem Punkt, bestimmte Annahmen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 30 Jahre über Bord werfen zu müssen“. So liefere man mittlerweile auch Waffen in Krisengebiete, obgleich Deutschland seit 30 Jahren das Gegenteil behauptet habe.
    Das zentrale Problem an der deutschen Variante: Wenn Deutschland eigenständig deutsche Atomwaffen entwickeln sollte, wäre das aktuell rechtlich gar nicht möglich. Man müsste aus dem Nicht-Verbreitungsvertrag austreten und letztlich den Vertrag zur deutschen Einheit, den sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag, in dem der Atomwaffenverzicht Deutschlands bekräftigt worden ist, kündigen, so Kaim.
    Auch Jan Techau von der Politikberatungsfirma Eurasia Group betrachtet diese Möglichkeit als unrealistisch. „Deutschland mit eigener Atomwaffe ist politisch nicht vorstellbar“, sagt er. Deutschland habe mehrfach immer wieder von sich aus auf eigene Atomwaffen verzichtet. Es müsste hier nicht nur vertraglich und politisch eine Kehrtwende hinlegen, sondern auch emotional.
    Seit 1955 sind Atomwaffen in Westdeutschland stationiert und Deutschland setzt seither auf nukleare Abschreckung. „Es wäre überraschend, wenn Deutschland einfach einen Schlussstrich zieht, sobald die Amerikaner sagen, dass sie sich nicht mehr an der nuklearen Abschreckung für Europa beteiligen“, sagte Friedensforscher Ulrich Kühn im Deutschlandfunk. In diesem Fall werde die Bundesregierung nach Alternativen suchen müssen. Das könnte zu einer unschönen und hysterischen Debatte über Atomwaffen führen.
    Kühn meint: „Es ist wichtig, Klarheit darüber zu schaffen, welche unterschiedlichen Interessen in Europa bestehen und wie Europa dabei unterstützt werden kann, sich im konventionellen Bereich gut und sicher aufzustellen.“
    ema / AFP