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Auswanderungsland Rumänien
Eine ganze Generation ist weg

In einem liegt Rumänien ganz vorn: Aus keinem anderen EU-Land sind so viele Menschen weggegangen, um anderswo zu leben und zu arbeiten, schätzt die Weltbank. Bis zu fünf der insgesamt 19,6 Millionen Rumänen sollen es sein. Wer und was bleibt?

Von Leila Knüppel und Manfred Götzke | 14.05.2019
Baustelle einer kleinen Pension im Norden Rumäniens
Hoffnung auf Touristen: In Moisei wird eine Pension gebaut (Deutschlandradio / Leila Knüppel)
Die Wollmütze auf dem Kopf, eine Zigarette zwischen den Zähnen, schraubt Gita Coman an einem Traktor.
Ein rumänisches Fabrikat, das seit 50 Jahren läuft, erzählt er. Nur hinten an der Kupplung für den Pflug muss etwas repariert werden. Gita bohrt einige Löcher in ein Metallstück, in seiner Garagenwerkstatt direkt am Haus.
"Hier schweiße ich Autos, das ist meine normale Arbeit hier in Rumänien, von der ich lebe."
Ab und zu geht der 55-Jährige auch als Erntehelfer ins Ausland, so wie jeder hier. Die meisten anderen aus dem rumänischen Karpaten-Dorf sind aber das ganze Jahr im Ausland, kommen höchstens noch an Weihnachten und in der Urlaubssaison im Sommer vorbei.
"Ich verdiene hier nur sehr wenig mit dieser Arbeit hier, im Vergleich zu dem, was man in Italien oder Deutschland verdient - maximal sind es 400, 500 Euro, manchmal aber auch nur 200."
Wer arbeitet wo und verdient wie viel?
Gitas Freund kommt vorbei: Er kann schweißen und soll bei der Reparatur helfen. Erst einmal gibt es aber drinnen einen Kaffee.
"Wir kennen uns schon seit der Schulzeit", sagt Gita.
Vor der Wende hatten beide zusammen in der Kupfermine gearbeitet, dem größten Kombinat hier in der Gegend. Die Mine ist schon lange geschlossen. Fast die gesamte Schwerindustrie in Rumänien brach zusammen. Knapp die Hälfte der Erwerbstätigen verlor den Job.
Seitdem gibt es im Dorf vor allem ein Gesprächsthema: Wer wo im Ausland arbeitet, wer wie viel verdient, wer es geschafft hat – und wer nicht.
"Es gibt nur einen Grund wegzugehen, für einen besseren Lohn oder einen besseren Lebensstil. In ganz Rumänien findet man keine Arbeiter mehr, die sind alle weg. Es kommen jetzt Leute aus China. Die Straßen hier wurden von Arbeitern aus Vietnam asphaltiert. Ja - hier in Moisei. Die sind noch billiger als wir. Das lohnt sich also auch für die Firmen", sagt Gitas Freund.
Gita sagt: "Wir haben eine große Krise auf dem Arbeitsmarkt – die Arbeiter fehlen in allen Bereichen. Die jungen Leute sind weg und bleiben weg, sie haben sich ein Leben im Ausland aufgebaut. Fünf Millionen Rumänen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Europa, das ist hier! Wie der EU-Beitritt ein rumänisches Dorf verändert hat".
Der Kaffee ist ausgetrunken, die beiden schauen sich draußen den Traktor an.
Während sie werkeln, schiebt sich die Sonne hinter den Wolken hervor, beleuchtet Gitas Haus inmitten der grünen Wiese. Ein Flüsschen mäandert durch die Wiesen, im Hintergrund leuchtet der schneebedeckte Pietrosul, der zweithöchste Berg Rumäniens.
"Ich würde nie im Ausland bleiben, in Deutschland oder sonst wo. Ich würde mich da nie anpassen wollen. Mir gefällt meine Heimat", sagt Gita.
Sein Freund: "Man kann sich ja jetzt auch hier etwas aufbauen, es gibt jetzt so viele Programme von der EU – aber davon profitieren nur die ganz Schlauen. Du musst so viele Bedingungen erfüllen und erst mal selbst investieren. Und wenn irgendwas nicht in Ordnung ist, bekommst du nichts und bist hoch verschuldet. Das kann ich nicht riskieren..."
Pensionen, um die Existenz zu sichern
Nachdem der Traktor fertig geschweißt und Gitas Freund sich verabschiedet hat, nimmt Gita uns mit auf eine Fahrt: Um zu zeigen, wie das Geld der Auslandsrumänen und die Subventionen der EU das Tal verändert haben.
"Lass uns zu Florin fahren, der ist einer von denen, die im Ausland Geld gemacht haben und hier jetzt groß investieren – der baut sich ein Hotel da hin."
Viele bauen mittlerweile nicht nur ein dickes Haus, um dort später ihre Rente zu genießen: "Sich auf das Bänkchen zu setzen" – wie die Rumänen sagen. Sie bauen jetzt "Pensionen", in der Hoffnung, dass ausreichend Touristen in das Bergdörfchen kommen.
"Vor 20 Jahren war hier nichts, kein Strom, kein Wasser. Da ist wieder eine Pension, da vorne wird noch eine gebaut..."
Die gesamte Straße Richtung Berg stehen die neuen Häuser. Alle haben einen netten Holzbalkon und ein Schild vorne dran: Errichtet mit Hilfe von EU-Subventionen. Ob wirklich alle dann auch als Pensionen genutzt – oder nicht irgendwann zu luxuriösen Privathäusern umfunktioniert werden?
"Wir haben die Pension mit Subventionen gebaut"
Wir halten bei einem der Nachbarn Gitas: Er ist gerade dabei, die letzten Steinplatten auf der Terrasse seiner Familienpension zu fliesen.
"Wir haben die Pension mit Subventionen gebaut, 70 Prozent kamen von der EU. Den Rest haben meine Neffen gezahlt. Die arbeiten auf dem Bau in England."
Bis vor zehn Jahren hat auch er im Ausland gearbeitet, in Italien, jetzt will er mit seiner Schwester zusammen die Pension betreiben. Er holt schnell den Schlüssel, um durch das Haus zu führen.
"Vor drei Tagen war eine Kontrolle aus Bukarest da, die haben alles evaluiert, alles gut. Jetzt bekommen wir den Rest der Subventionen.
Aber bis dahin musst du mit deinem eigenen Geld investieren - oder Schulden machen."
Drinnen ist alles bereits fertig eingerichtet, mit den traditionellen Holzschnitzereien und den bunten, gewebten Decken, die typisch sind für diese Region Rumäniens.
"An Silvester war es zum ersten Mal voll, eine Gruppe Polizisten hat hier gefeiert."
Eine Skipiste soll auch noch kommen
Wir fahren weiter den Berg hinauf, denn am Ende des Weges, direkt am Fuß des Pietrosul, wird gerade am größten Tourismusprojekt des Dorfes gebaut:
Hinter einem protzigen Holztor stemmt sich ein riesiger Rohbauklotz gegen den Berg. Gerade sind Bauarbeiter dabei, die Bergwiese platt zu walzen. Hier kommt vermutlich der Parkplatz hin. Im Vorhof läuft Wasser in Betonbecken. Das sollen Fischteiche werden, erzählt Gita.
Während wir stehen und staunen, kommt ein Bauer in Gummistiefeln und Fellweste vorbei. Und gleich beginnt der Tratsch.
"Woher hat der nur das Geld? Hier hat er Land gekauft, baut wie verrückt. Und im Zentrum hat er den großen Festsaal gekauft. Der Junge hat auf jeden Fall Geld ohne Ende."
Gita zeigt Richtung Berg – deutet hinein in das dunkle Grün der Tannen: Wo er sonst im Herbst seine Pilze sammelt, soll demnächst eine Skipiste gebaut werden.