Die Grünen-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin ihrer Partei, Annalena Baerbock, fordert bei den EU-Klimaschutzzielen mehr Ambitionen. Es gebe einen "Wettlauf um die Wettbewerbsfähigkeit" bei klimaneutralen Produkten. Es gehe darum, den Industriestandort Europa in die Zukunft zu führen und die Erderwärmung einzudämmen. "Dafür braucht es einen klaren Pfad, und der steckt nicht hundertprozentig in dem, was von der EU-Kommission vereinbart worden ist." Das zeige auch der Vergleich mit den Zielen der USA. Was die neue Regierung von Joe Biden vorschlage, sei wirklich ein ambitionierter Klimaschutz-Plan. Baerbock plädiert deshalb für eine transatlantische Klimapartnerschaft.
In Deutschland gehe es vor allem um den Ausstieg aus der Kohle bis zum Jahr 2030, die Umstellung auf emissionsfreie Autos und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie um den großen Bereich der Industrie und der Landwirtschaft.
Das Interview im Wortlaut:
Silvia Engels: Das neue EU-Zwischenziel – wir haben es gerade noch mal gehört -, bis 2030 den CO2-Ausstoß um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren, ist ambitioniert. Das wird Ihnen aber wohl nicht reichen, denn Sie fordern ja in Ihrem grünen Wahlprogramm für Deutschland eine Einsparung im gleichen Zeitraum von 70 Prozent. Wie soll das gehen?
Annalena Baerbock: Zunächst ist einmal wichtig, dass jetzt Europa in Gänze erkannt hat, wir können jetzt nicht ein bisschen Klimaschutz machen und dann geht das schon irgendwie, weil wir die Klimaauswirkungen direkt bei uns spüren und weil vor allen Dingen es einen Wettlauf um die Wettbewerbsfähigkeit auf klimaneutrale Produkte jetzt gibt. Das heißt, es geht um die Frage, die Erderwärmung einzudämmen plus unseren Industriestandort Europa in die Zukunft zu führen, und dafür braucht es einen klaren Pfad, und der steckt nicht hundertprozentig in dem, was jetzt von der EU-Kommission vereinbart worden ist. Wir brauchen volle Kraft, dass wir die Investitionen und dass wir vor allen Dingen den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen. Das zeigt auch gerade der Vergleich, der angesprochen wurde im Beitrag mit Blick auf die USA. Daher, ja, ist mein Vorschlag, dass wir als Bundesrepublik Deutschland mit der nächsten Legislatur ein Klima-Sofortprogramm auf den Weg bringen und unsere Klimaziele am Pariser Klimapfad orientieren.
Klimaneutraler Stahl "essentiell für den Schutz der Arbeitsplätze in Deutschland"
Engels: Neue Investitionsprogramme planen Sie in Klimaschutz und auch Umschulung von Menschen für neue Arbeitsplätze. Das ist alles in Ihrem Programm aufgelistet. Das wird aber Zeit brauchen. Experten und auch Sie sagen dagegen ja immer, dass die CO2-Reduktion sofort starten muss. Läuft kurzfristige Wirkung nur über Verzicht?
Baerbock: Nein! Es ist ein Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Bereichen. Wir sparen ja jetzt auch schon CO2 ein. Der Ausstieg aus der Kohle ist das Allerwichtigste, weil man klar priorisieren muss, wie bekommen wir am schnellsten Emissionen runter. Bei der Kohle haben wir die Alternativen mit den erneuerbaren Energien. Deswegen ist unser Vorschlag, bis 2030 aus der Kohle ausgestiegen zu sein. Dann haben wir den großen Bereich Verkehr. Auch hier brauchen wir klare Ziele und Vorgaben. Auch dort sagen wir, ab 2030 dürfen nur noch emissionsfreie Autos zugelassen werden. Der dritte Bereich ist der Umbau der Industrie und deswegen drücke ich auch so aufs Gas an der Stelle, weil unsere Industrie im absoluten Wettbewerb steht. Es geht jetzt darum, wer produziert zum Beispiel als erstes klimaneutralen Stahl. Das ist essenziell für den Schutz der Arbeitsplätze in Deutschland und in Europa. Wenn wir da nicht vorne mit dabei sind, dann tun es andere. Wir haben schon mal gesehen: Wenn China den europäischen Markt mit Stahl flutet, dann müssen große Werke schließen, und das will ich verhindern.
Engels: Es ist ja auffällig, dass Sie sich bemühen, jetzt gerade die Wirtschaft und die Industrie mit ins Boot zu holen, sie nicht weiter zu verschrecken. Aber auch hier sind die Themen, die Sie planen, ja in der Tat so, dass sie erst kurz- bis mittelfristig bis langfristig Wirkung entfalten. Jetzt haben wir aber ein anderes Beispiel gesehen: Eine radikale Absenkung der Mobilität, wie wir sie ungeplant durch die Corona-Pandemie erlebt haben, hat unter anderem kräftig dazu beigetragen, dass Deutschland seine eigentlich nicht mehr zu erreichenden CO2-Einsparungsziele im vergangenen Jahr doch noch eingehalten hat. Noch mal die Frage: Verzicht ist unverzichtbar?
Baerbock: Es gehört auch dazu, dass wir die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, wie wir konsumieren, wie wir vor allen Dingen produzieren, dass wir die umstellen, weil wir jetzt erleben, dass das Produkt sich durchsetzt, was dem Klima am meisten schadet, oftmals auch noch am ungesundesten ist. Das sehen wir zum Beispiel in der Landwirtschaft. Deswegen gehört natürlich eine Umstellung des Produktionssystems mit dazu, eine Umstellung der Art der Mobilität. Aber es hilft jetzt nichts, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Sie haben ja immer wieder den Zeitpunkt angesprochen, weil das Problem ja ist, dass CO2 sich in der Luft sammelt. Alles was wir heute ausstoßen, bleibt erst mal in der Atmosphäre, wenn wir es nicht durch andere Maßnahmen entziehen, und deswegen ist es so wichtig, dass wir sehr schnell eine breite Mehrheit dafür bekommen, Maßnahmen auch umzusetzen. Da ist die Bevölkerung weiter als die Politik. Das sehen wir in allen Befragungen, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen sagen, wir brauchen mehr Klimaschutz-Maßnahmen. Deswegen muss man das so machen, dass es funktioniert. In der Stadt zum Beispiel kann man autofreie Innenstädte möglich machen. Auf dem Dorf, wo kein Zuganschluss ist, wo der Bus nur alle paar Stunden fährt, geht das natürlich nicht. Daher muss man sich ganz genau anschauen, wo können wir reduzieren, zum Beispiel auch bei der Fleischproduktion. Wenn wir nicht eine Massentierhaltung fördern, wo ein Drittel der Produktion weggeschmissen wird, dann können wir die Fleischproduktion an der Stelle deutlich runterfahren.
"Es geht nicht darum, den einzelnen Menschen zu verändern"
Engels: Runterfahren, aber nicht mit dem Kopf durch die Wand. Das sind Ihre Vokabeln. Kurzfristiger Verzicht taucht da nicht auf. Wollen Sie jetzt in der neuen Rolle als Kanzlerkandidatin einfach die Wechselwähler, die breite Mehrheit, die Sie gewinnen wollen, nicht verschrecken?
Baerbock: Nein! Ich habe ja gerade sehr klar gesagt, dass sich unterschiedliche Dinge ändern müssen, auch in der Art und Weise, wie wir zum Beispiel Fleischproduktion betreiben. Aber es geht nicht darum, den einzelnen Menschen zu verändern. Damit retten wir das Klima nicht, sondern wir müssen alle Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Produktion und der Politik auf Klimaneutralität stellen. Das tun wir in Gesetzen, das tun wir mit Fördermaßnahmen, um neue Investitionen anzureizen, und das tun wir damit, dass die Menschen wissen, was in ihrem Fleisch drin ist, was in ihrer Kleidung drin ist, damit sie entsprechend dann das, was sie eigentlich wollen, nämlich gut und gesund einzukaufen, damit sie das auch umsetzen können.
Engels: Klimaschutz wollen viele. Auf der einen Seite wollen Sie eine breite Mehrheit gewinnen. Auf der anderen Seite müssen Sie beobachten, dass sich eine gesellschaftliche Gruppierung namens Fridays for Future herausbildet, die beispielsweise kritisiert, dass die Maßnahmen in Ihrem grünen Wahlprogramm hinten und vorne nicht reichen, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Wie wollen Sie auf der Seite die Anhänger nicht verlieren?
Baerbock: Indem wir mit allen im Gespräch sind, auch mit Fridays for Future. Ich habe Fridays for Future auch nicht so verstanden, dass es vorne und hinten nicht ausreicht. Gerade mit Blick auf die Landwirtschaft haben sie ja selber auch eine Studie vorgelegt, wo sie erst mal die Emissionen nicht mitberechnet haben, weil die Landwirtschaft wirklich der schwierigste Bereich ist, wie man die Emissionen runterbekommt. Im Bereich der Frage Automobilität sagen sie, das muss aber fünf Jahre früher passieren als das, was ihr da vorschlagt. Und genau darum geht es doch jetzt, alle an einen Tisch zu bringen, sich genau anzuschauen, wie können wir das schnellstmöglich machen- Schnellstmöglich bedeutet aber dann auch, dass das nicht nur auf dem Papier funktioniert, sondern auch in der Realität, und das heißt für mich, mit Fridays for Future, mit Wissenschaftlern genauso zu sprechen wie mit Industrievertretern, damit wir unsere Emissionen dann bis 2030 auch wirklich so reduziert haben, dass sie auf den 1,5 Grad Pfad kommen.
Engels: Sie haben das Thema Auto und E-Mobilität angesprochen. Nun sagen namhafte Umweltforscher ja auch, es gehe am Ende um weniger Autos in den Städten und nicht um andere Autos, denn auch E-Autos sind ja in der Herstellung umweltbelastend. Also doch wieder Verzicht?
Baerbock: Ja, es geht auch um weniger Autos, weil der Individualverkehr, den wir jetzt ja betreiben, dazu führt, dass wir oftmals stundenlang im Stau stehen, dass Straßen zugeparkt worden sind von Autos, in denen keiner sitzt und mit denen keiner fährt. Auch das hat ja die Pandemie uns gezeigt, wie wir Flächen in Innenstädten ganz anders für unser aller Lebensgefühl nutzen können, indem da zum Beispiel Spielstraßen sind oder indem Cafés die Straßen mitnutzen können, Fußgänger und Fahrradfahrer viel sicherer unterwegs sind. Daher muss es einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs geben. Wie gesagt: In Großstädten, in Berlin zum Beispiel haben wir das, dass wir Innenstädte autofrei gestalten können, weil wir ein dichtes öffentliches Nahverkehrsnetz haben. Wenn ich hier bei mir in Brandenburg unterwegs bin, dann muss ich natürlich aus dem ländlichen Raum zu meinem Arbeitsplatz, der 20, 30 Kilometer entfernt ist, auch kommen, und wenn es da keinen Bahnanschluss gibt, dann kann ich nicht sagen, ja gut, dann guck zu, wie Du zur Arbeit kommst. Natürlich braucht man in dem Bereich weiterhin Individualverkehr. Deswegen ist es ein Umstieg mit Blick auf den Antrieb, auf Elektromobilität, und auf der anderen Seite in Ballungsgebieten ein weiterer Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, damit wir da zu einer deutlichen Verkehrsreduzierung kommen können.
Klimaneutrale transatlantische Partnerschaft "Wir hätten hier jetzt die einmalige Chance"
Engels: Dann kommen wir von Brandenburg nun auf die internationale Perspektive. US-Präsident Biden lädt heute zum virtuellen Klimagipfel. 40 Staats- und Regierungschefs werden zusammengeschaltet. Biden selbst hat ein großes Investitionsprogramm angekündigt. Das wird sich mit Ihren Plänen in vielen Fällen decken. Das soll ja auch vielfach in klimaverträgliche Infrastruktur und erneuerbare Energie fließen. Dennoch: Erwarten Sie von den USA mehr als nur Symbolpolitik?
Baerbock: Ich erwarte von allen mehr als nur Symbolpolitik, weil mit Symbolpolitik werden wir das Klima nicht retten und werden wir auch unsere Wirtschaft nicht klimaneutral umbauen können. Aber das, was die neue US-Administration vorschlägt, das ist wirklich ein ambitionierter Klimaschutz-Plan. Da muss Europa die Hand reichen. Deswegen mit Blick auf das Klimaziel: Ich halte nichts davon, Dinge schönzurechnen, sondern das müssen dann auch Ziele sein, wo man sagt, mit voller Kraft stehen wir dahinter, und Investitionen. Das was Europa heute oder in den nächsten Monaten zurückgeben kann - da muss dann aber auch eine deutsche Bundesregierung hinterstehen -, ist eine klimaneutrale transatlantische Partnerschaft. Wir hätten hier jetzt die einmalige Chance, dass wir nicht nur Klimaschutz, Industrie-Innovationen, sondern auch mit Blick auf den Wettbewerb der Systeme, in dem wir ja stehen, wo China als autoritäres Land versucht, den Markt zu erobern, dass wir hier mit einer transatlantischen Klimapartnerschaft wirklich Pflöcke für die Zukunft einschlagen könnten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.