Dienstag, 23. April 2024

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Bildung in Coronazeiten
Welchen Einfluss die Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung hat

Die Schule ist zentral für die Identitätsentwicklung: Kinder brauchen Kontakte zu Gleichaltrigen und zu Lehrern, die auch als emotionale Vermittler wirken. Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert fordert im Hinblick auf die psychische Gesundheit von Kindern deshalb, die Schulen unbedingt offen zu lassen.

Jörg Fegert im Gespräch mit Christian Floto | 17.11.2020
    Schüler von hinten fotografiert in der Klasse
    In der Schule lernt man seinen Platz in der gleichaltrigen Gruppe kennen - auch erste Verliebtheiten finden oft im Schulkontext statt (unsplash.com/Taylor Wilcox)
    200.000 Schülerinnen und Schüler befinden sich aktuell in Quarantäne, über 3.000 Lehrerinnen und Lehrer haben sich mit dem Coronavirus infiziert. Dennoch plädiert Professor Dr. med. Jörg Fegert dafür, Kitas und Schulen möglichst lange offen zu lassen. Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm hält den persönlichen Kontakt der Kinder mit Gleichaltrigen und Lehrern für zentral.
    Warum sollten Schulen möglichst lange offen bleiben?
    Kinder brauchen Kontakt, vor allem diejenigen, die in der Coronakrise am stärksten betroffen sind. Sie brauchen die soziale Gruppe und die Unterstützung durch Schüler und Lehrer am dringendsten. In verschiedenen Studien sieht man bereits einen leichten Anstieg von psychosomatischen Beschwerden und leichten Auffälligkeiten - vor allem, wenn in der Wohnung wenig Platz ist und Eltern gestresst sind. Es gibt die Befürchtung, dass die Bildungsungleichheit durch diesen Zustand wächst und die psychische Gesundheit der Kinder leidet. Daher ist es wichtig, Kitas und Schulen so lange wie möglich offen zu halten - auch wenn dabei Engpässe bei Räumen und Personal entstehen.
    "Bitte Mundschutz tragen" steht am Eingang zu einer Grundschule in Berlin-Friedrichshain
    Grundschulleiter: Jede Schule muss eigene Lösungen finden
    Statt pauschaler Vorschriften wie der diskutierten Maskenpflicht für Grundschüler hält Schulleiter Mario Michel mehr Autonomie für Schulen für nötig. So könnten individuelle Lösungen gefunden werden.
    Wie wichtig ist die Schule für die Identitätsentwicklung?
    Die Schule ist zentral wichtig. Dort finden und definieren Kinder ihren Platz in der gleichaltrigen Gruppe - auch, wenn viele Aktivitäten heute im Internet stattfinden. Der Nahbereich Schule ist immer noch ein Ort, wo soziale Nähe geknüpft bzw. Ablehnung und Zuneigung aushandelt werden. In der Coronapandemie kommt es zu einer neuen Situation: Für viele Jugendliche fallen informelle Treffs und Partys weg. Hinzu kommt eine neue Form des Mobbings: Wird ein Kind Corona-positiv getestet und andere müssen deshalb in Quarantäne, kommt es nicht selten zu Angriffen im Netz. Die Kinder müssen deshalb sensibilisiert werden, damit sie sanft und pfleglich miteinander umgehen. Kinder dürfen nicht an den Pranger gestellt werden - eine Infektion kann schließlich jedem passieren.
    Coronavirus
    Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
    Welche Rollen spielen Eltern, Lehrer, Ärzte dabei?
    Die zentrale Rolle liegt bei den Eltern, die sehr viel steuern müssen. Besonders belastet sind Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Sie benötigen die meiste Unterstützung. Anzeichen von Entspannung zu Hause im ersten Lockdown gab es zumeist nur bei Familien, die es sich leisten konnten.
    Lehrer und Lehrerinnen sind ebenfalls zentrale Ansprechpartner: Sie werden sowohl digital als auch emotional gebraucht. Sie steuern beim Lernen oder schlichten, wenn Kinder wegen einer Corona-Infektion gemobbt werden. Ärzte können Informationen liefern und in Gremien einbringen, zielgruppenspezifisch Hilfen fokussieren und die prekären Lebenslagen adressieren.
     Ein Schüler arbeitet in einer Grundschule an einem Tablet
    Schulsituation während Corona: Absichtserklärungen statt Umsetzung
    Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft kritisiert die schleppende Umsetzung der Digitalisierung. Die Bürokratie sei sehr langwierig. "Von Gleichheit der Lernbedingungen kann keine Rede sein", sagte GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann im Dlf.
    Was lässt sich für Kinder und Jugendliche später noch nachholen?
    Kinder sind sehr flexibel. Sie stellen sich auch bei vielen neuen Coronaregeln am schnellsten um und weisen Erwachsene in manchen Fällen sogar darauf hin. Das Wichtigste, was man beim lebenslangen Lernen lernt, ist sich auf unterschiedliche Verhältnisse einzustellen. Das meiste lässt sich also nachholen. Was sich nicht nachholen lässt: wenn Kinder Abschlüsse nicht schaffen oder wegen Bildungsungleichheit deklassiert werden. Corona-bedingt droht über die soziale Ungleichheit hinaus eine riesige Gesundheitsschere und Bildungsschere aufzugehen. Die Klammerfunktion der Schule, die alle Kinder zusammenbringt, sollte zusammenbleiben.